16.09.2018

24. Sonntag im Jahreskreis 1987

„Herr, wenn mein Bruder an mir schuldig wird, wie oft muss ich ihm verzeihen?“

Es war im Jahre 1942. In einem Kriegslazarett deutscher Soldaten in Lemberg müssen KZ-Insassen verschiedene Krankendienste verrichten. Unter ihnen ist der Jude Wiesenthal. Eines Tages ruft ihn eine Krankenschwester an das Bett eines sterbenden SS-Mannes. Lange erzählt dieser Mann von der furchtbar lastenden Schuld, die er an dem jüdischen Volk begangen hat und bittet um Vergebung. Und was antwortet dieser Wiesenthal?

Er hat es in seinen Erinnerungen später niedergeschrieben: „Ich stehe auf, sehe in seine Richtung auf seine gefalteten Hände. Ich habe mich entschieden. Ohne ein Wort verlasse ich das Zimmer. Wiesenthal verzieh nicht. Er rechtfertigte sein Verhalten mit seiner jüdischen Grundhaltung: „Aug um Aug und Zahn um Zahn“ und daher gilt es, in der Weise der Selbstbehauptung und Selbstverteidigung für ein erlittenes Unrecht Rache zu nehmen.

Doch ist diese Grundhaltung „Aug um Aug, Zahn um Zahn“ nur die Verhaltensweise des Juden? Bedrückt uns nicht bitter das Elend: wir reden miteinander und verstehen uns nicht, wir schließen Verträge und vertragen uns nicht, wir sprechen vom Frieden und rüsten zum Krieg.

Und so ist es doch nicht nur auf der Bühne der Weltpolitik. So ist es leider auch von Mensch zu Mensch. Aber so darf es nicht sein unter Christen! Denn in Jesus Christus ist uns die grenzenlose Liebe Gottes aufgeleuchtet, sodass nicht der menschliche Maßstab der Rache und Vergeltung gilt, sondern der göttliche Maßstab der Liebe und Vergebung und Barmherzigkeit.

Und wer in dieser Barmherzigkeit lebt, so heißt es in der Regel von Taize „kennt nicht Empfindlichkeit, nicht Enttäuschung. Er verschenkt sich einfach, sich selbst vergessend, freudig mit der ganzen Glut seines Herzens, frei - ohne eine Gegenleistung zu erwarten“.

Ja, die Frage nach Vergeltung oder Vergebung kann nur vom Kreuz herab beantwortet werden.

Darum wollen wir mit Petrus den Herrn fragen: „Herr, wenn mein Bruder an mir schuldig wird, wie oft muss ich ihm vergeben?“ Und die Antwort Jesu: „Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.“ Eine Zahl, mit der die Grenzenlosigkeit der Vergebungsbereitschaft ausgedrückt sein soll. Und der Herr zeigt dies in einem packenden Gleichnis auf: Da ist ein hoher Beamter, der seinen Herrn durch seine Betrügereien um die gewaltige Summe von 50 Millionen gebracht hat. In seinem großen Erbarmen erlässt der Herr alle Schuld. Diesem Beamter schuldet auch ein kleiner Mann ganze 200 Mark. Auf alles Betteln, ihm doch die Schuld zu erlassen, heißt seine Antwort: Schuldturm und Folter, bis der letzte Heller bezahlt ist.

Wir können den gerechten Zorn des hochherzigen Herrn verstehen, als er erfährt, was sein Beamter mit seinem Schuldner tut. Da heißt es: „Er lässt ihn her rufen und sagte zu ihm: du elender Diener, hättest du nicht mit jenem, der gemeinsam mit dir in meinem Dienst steht Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?, und er übergab ihn den Folterknechten, bis er die ganze Schuld bezahlt habe.“

Und dann sagt der Herr: „Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzen Herzen vergibt.“

Ja, Vergebung kann nur der empfangen, der bereit ist, Vergebung zu gewähren, sonst bleibt man ein Gefangener seiner Schuld. Der grenzenlosen Vergebungsbereitschaft Gottes muss die Vergebungsbereitschaft unseren Schuldnern gegenüber folgen. Vergebung ist mehr als ein bloßes Vergessen eines Unrechts, mehr als ein Verdrängen eines heimlichen Rachegefühls, mehr als ein Erhabensein über die Bosheit des anderen. Vergebung ist eine Tat des Herzens, denn „nur was aus dem Herzen kommt, das dringt auch hin zum Herzen“ des anderen, entgiftet sein Herz und lässt wieder die Liebe Wurzeln schlagen zu einer guten Freundschaft.

Vielleicht sagst du: „Das kann ich nicht.“ Dann bedenke: zwischen dem Vergebung schenkenden Gott und dem Vergebung suchenden Menschen darf sich keine Schranke auftun. Und ein jeder von uns darf mit Paulus sprechen: „Ich kann alles in dem, der mich stärkt“. Und diese Gnadenhilfe versagt Gott dir bestimmt nicht.