Tagesstärkung
Jesus v. Nazareth
von Papst Benedikt XVI
20.02.2021
Jesus von Nazareth
Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung
von Papst Benedikt XVI.
Vorwort (Auszug)
Vielleicht ist es an dieser Stelle nützlich, noch einmal die bestimmende Intention meines Buches zu verdeutlichen. Es braucht wohl nicht eigens gesagt zu werden, dass ich kein „Leben Jesu“ schreiben wollte. Für die chronologischen und topographischen Fragen des Lebens Jesu liegen ausgezeichnete Werke vor; ich verweise besonders auf Jesus von Nazareth. Botschaft und Geschichte von Joachim Gnilka und auf das gründliche Werk A Marginal Jew von John P. Meier (drei Bände, New York 1991, 1994, 2001).
Ein katholischer Theologe hat mein Buch zusammen mit Romano Guardinis Meisterwerk Der Herr als „Christologie von oben“ eingestuft, nicht ohne vor deren Gefahren zu warnen. Nun, eine Christologie zu schreiben, habe ich nicht versucht. Im deutschen Sprachraum verfügen wir über eine Reihe bedeutender Christologien, von Wolfhart Pannenberg über Walter Kasper zu Christoph Schönborn, denen nun das große Opus Jesus ist Gott der Sohn (2008) von Karl-Heinz Menke an die Seite zu stellen ist.
Schon näher an meiner Absicht liegt der Vergleich mit dem theologischen Traktat über die Geheimnisse des Lebens Jesu, dem Thomas von Aquin in seiner Summe der Theologie klassische Gestalt gegeben hat (S. theol. III q. 27 – 59). Wenn sich mein Buch auch in vielem mit diesem Traktat berührt, so steht es doch in einem anderen geistesgeschichtlichen Kontext und hat von da aus auch eine andere innere Zielrichtung, die die Struktur des Textes wesentlich bestimmt.
Im Vorwort zum ersten Teil hatte ich gesagt, dass es mir darum gehe, „Gestalt und Botschaft Jesu“ darzustellen. Vielleicht wäre es gut gewesen, diese beiden Wörter – Gestalt und Botschaft – dem Buch als Untertitel beizugeben, um seine wesentliche Absicht zu klären. Ein wenig übertreibend könnte man sagen, ich wollte den realen Jesus finden, von Dem aus so etwas wie eine „Christologie von unten“ überhaupt möglich wird. Der „historische Jesus“, wie Er im Hauptstrom der kritischen Exegese aufgrund ihrer hermeneutischen Voraussetzungen erscheint, ist inhaltlich zu dürftig, als dass von Ihm große geschichtliche Wirkungen hätten ausgehen können; Er ist zu sehr in der Vergangenheit eingehaust, als dass persönliche Beziehung zu Ihm möglich wäre. In der Verbindung der zwei Hermeneutiken, von der ich oben gesprochen habe, habe ich versucht, ein Hinschauen und Hinhören auf den Jesus der Evangelien zu entwickeln, das zur Begegnung werden kann und sich im Mithören mit den Jüngern Jesu aller Zeiten doch gerade der wirklich historischen Gestalt vergewissert.
Diese Aufgabe war im zweiten Teil noch schwieriger als im ersten, weil erst hier die entscheidenden Worte und Ereignisse des Lebens Jesu begegnen. Ich habe versucht, mich aus dem Streit um viele mögliche Einzelelemente herauszuhalten und nur die wesentlichen Worte und Taten Jesu zu bedenken – von der Hermeneutik des Glaubens geführt, aber zugleich in der Verantwortung vor der historischen Vernunft, die in diesem Glauben selbst notwendig enthalten ist.
Auch wenn natürlich Details immer zu diskutieren bleiben, so hoffe ich doch, dass mir eine Annäherung an die Gestalt unseres Herrn geschenkt worden ist, die allen Leserinnen und Lesern hilfreich sein kann, die Jesus begegnen und Ihm glauben wollen.
Von der damit erläuterten Grundabsicht des Buches her, die Gestalt Jesu, Sein Wort und Sein Tun zu verstehen, ist klar, dass die Kindheitsgeschichten nicht direkt zur eigentlichen Intention dieses Buches gehören konnten. Ich will aber versuchen, meinem Versprechen (vgl. Teil I, S. 23) treu zu bleiben und einen kleinen Faszikel darüber vorzulegen, wenn mir dazu noch die Kraft gegeben wird.
Rom, am Fest des heiligen Markus 25. April 2010
Joseph Ratzinger – Benedikt XVI.
19.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil XX)
Kehren wir noch einmal zum Schluss des Lukas-Evangeliums zurück. Jesus führte die Seinen in die Nähe von Bethanien, so wird uns gesagt. „Dort erhob Er Seine Hände und segnete sie. Und während Er sie segnete, verließ Er sie und wurde zum Himmel emporgehoben“ (24,50f). Jesus scheidet segnend. Segnend geht Er, und im Segnen bleibt Er. Seine Hände bleiben ausgebreitet über diese Welt. Die segnenden Hände Christi sind wie ein Dach, das uns schützt. Aber sie sind zugleich eine Gebärde der Öffnung, die die Welt aufreißt, damit der Himmel in sie hereindringe, in ihr Gegenwart werden kann.
In der Gebärde der segnenden Hände ist das bleibende Verhältnis Jesu zu Seinen Jüngern, zur Welt ausgedrückt. Im Weggehen kommt Er, um uns über uns selbst hinaufzuheben und die Welt für Gott zu öffnen. Deswegen konnten sich die Jünger freuen, als sie von Bethanien nach Hause gingen.
Im Glauben wissen wir, dass Jesus Seine Hände segnend über uns ausgebreitet hält. Dies ist der bleibende Grund christlicher Freude.
18.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil XIX)
Es gibt aber auch epochale Weisen dieses Kommens. Das Wirken der beiden großen Gestalten Franziskus und Dominikus im 12. aufs 13. Jahrhundert war einer Weise, wie Christus neu in die Geschichte hereintrat, neu Sein Wort und Seine Liebe zur Geltung brachte; eine Weise, wie Er Seine Kirche erneuerte und die Geschichte auf Sich zu bewegte. Ähnliches können wir von den heiligen Gestalten des 16. Jahrhunderts sagen: Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Ignatius von Loyola, Franz Xaver bringen mit sich neue Einbrüche des Herrn in die verworrene und von Ihm weg treibende Geschichte ihres Jahrhunderts. Sein Geheimnis, Seine Gestalt erscheint neu – und vor allem: Seine Menschen verwandelnde und Geschichte formende Kraft wird auf neue Art gegenwärtig.
Können wir also um das Kommen Jesu beten? Können wir aufrichtig sagen: „Marana tha! Komm, Herr Jesus!“? Ja, wir können es. Nicht nur das: Wir müssen es! Wir bitten um Antizipationen Seiner welt-erneuernden Gegenwart. Wir bitten in den Augenblicken persönlicher Bedrängnis: Komm, Herr Jesus, und nimm mein Leben hinein in die Gegenwart Deiner gütigen Macht. Wir bitten Ihn, dass Er Menschen, die wir lieben oder um die wir Sorge tragen, nahe werde. Wir bitten Ihn, dass Er in Seiner Kirche wirksam gegenwärtig werde.
Warum sollten wir Ihn nicht bitten, dass Er uns auch heute wieder neue Zeugen Seiner Gegenwart schenke, in denen Er Selber kommt? Und diese Bitte, die nicht unmittelbar auf das Weltende zielt, aber doch wahre Bitte um Sein Kommen ist, trägt in sich die ganze Weite der Bitte, die Er Selbst uns gelehrt hat: „ Dein Reich komme!“ Komm, Herr Jesus!
17.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil XVIII)
Ausdrücklich ist von einem „Kommen“ von Vater und Sohn die Rede: Es ist die präsentische Eschatologie, die Johannes entwickelt hat. Sie gibt die Erwartung der endgültigen weltwendenden Ankunft nicht auf, zeigt aber, dass die Zwischenzeit nicht leer ist, dass es in ihr eben den Adventus medius gibt, die mittlere Ankunft, von der Bernhard spricht. Diese antizipative Gegenwart gehört durchaus zur christlichen Eschatologie, zur christlichen Existenz.
Auch wenn das Wort Adventus medius vor Bernhard unbekannt war, so ist die Sache doch in verschiedenen Formen in der ganzen christlichen Tradition von Anfang an gegenwärtig. Erinnern wir uns zum Beispiel daran, dass der heilige Augustinus in den Wolken, auf denen der Weltenrichter kommt, das Wort der Verkündigung sieht: Die Worte der Botschaft, von den Zeugen ausgerichtet, sind die Wolke, die Christus in die Welt trägt -jetzt schon. Und so wird die Welt für die endgültige Ankunft bereitet. Die Weisen dieser „mittleren Ankunft“ sind vielfältig: Der Herr kommt durch Sein Wort; Er kommt in den Sakramenten, besonders in der heiligsten Eucharistie; Er kommt durch Worte oder Ereignisse in mein Leben hinein.
16.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil XVII)
Es scheint mir sinnvoll, diese innere Spannung der christlichen Wiederkunftserwartung, die das christliche Leben und Beten prägen muss, noch an zwei unterschiedlichen Ausdrucksformen der Theologie zu verdeutlichen. Das römische Stundenbuch legt seinen Beten am Ersten Adventssonntag eine Katechese von Cyrill von Jerusalem vor (Kat XV,1 – 3: PG 33,870 – 874), die mit den Worten beginnt: „Christi Ankunft verkündigen wir, nicht eine nur, sondern noch eine weitere … Wie zumeist, so ist beim Herrn Jesus Christus alles zweifach: zweifach die Geburt, die eine aus Gott vor aller Zeit, die andere aus der Jungfrau in der Fülle der Zeit; zweifach die Herabkunft - die eine verborgen, die andere, noch zukünftige, sichtbar.“ Diese Rede von der zweifachen Ankunft Christi hat die Christenheit geprägt und gehört zum Kern der adventlichen Verkündigung. Sie ist richtig, aber ungenügend.
Wenige Tage später, am Mittwoch der Ersten Adventswoche, bietet das Stundenbuch eine Auslegung aus den Adventspredigten des Heiligen Bernhard von Clairvaux, in der eine ergänzende Sicht zu Worte kommt. Da heißt es: „Eine dreifache Ankunft des Herrn kennen wir … Die dritte ist in der Mitte zwischen den anderen (adventus medius) … In der ersten Ankunft kam Er im Fleisch und in der Schwachheit. In dieser mittleren kommt Er in Geist und Kraft, in der letzten in Herrlichkeit und Majestät (in Adventu Domini, serm. III,4. V,1: PL 183,45. 50 C - D). Bernhard bezieht sich für diese seine These auf Joh 14,23: „Wenn jemand Mich liebt und Mein Wort hält, dann wird Mein Vater ihn lieben, und Wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“
15.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil XVI)
Paulus stellt an den Schluss des Ersten Korintherbriefs dasselbe Gebet in aramäischer Fassung, das freilich unterschiedlich getrennt und daher auch unterschiedlich verstanden werden kann: Maranatha („Herr, komm!“) oder Maran atha („Der Herr ist gekommen.). In dieser Zweiheit der Lesarten ist das Besondere der christlichen Erwartung von Jesu Kommen deutlich sichtbar. Sie ist der Ruf „Komm!“ und zugleich die dankbare Gewissheit „Er ist gekommen“. Aus der Zwölf-Apostel-Lehre (um 100) wissen wir, dass dieser Ruf zu den liturgischen Gebeten der Abendmahlsfeier der frühesten Christenheit gehörte, und hier ist auch die Einheit der beiden Lesarten konkret gegeben. Die Christen rufen nach dem endgültigen Kommen Jesu, und sie erleben zugleich mit Freude und Dank, dass Er dieses Sein kommen jetzt schon vorwegnimmt und jetzt schon mitten unter uns hereintritt.
In der christlichen Wiederkunftsbitte ist immer auch Gegenwartserfahrung mitenthalten. Sie ist nie bloß futuristisch. Es gilt eben, was der Auferstandene sagt: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20). Er ist jetzt bei uns, besonders dicht in der eucharistischen Gegenwart. Aber umgekehrt trägt auch die christliche Gegenwartserfahrung die Spannung auf die Zukunft, auf die endgültig erfüllte Gegenwart in sich: Die Gegenwart ist nicht vollständig. Sie drängt über sich hinaus. Sie setzt uns in Bewegung zum Endgültigen.
14.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil XV)
Aber wie verhält es sich nun mit der Erwartung des wiederkommenden Herrn in der christlichen Existenz? Erwarten wir Ihn, oder erwarten wir Ihn lieber nicht? Schon Cyprian von Karthago (+ 258) musste seine Leser ermahnen, doch nicht aus Furcht vor den großen Katastrophen oder aus Furcht vor dem Tod das Gebet um die Wiederkunft Christi zu unterlassen. Sollte die verfallene Welt uns denn lieber sein als der Herr, auf Den wir doch warten?
Die Apokalypse schließt mit der Zusage der Wiederkunft des Herrn und mit der Bitte um sie: „Er, Der dies bezeugt, spricht: Ja, Ich komme bald. Amen. Komm, Herr Jesus!“ (22,20). Es ist die Bitte des Liebenden, der in der belagerten Stadt von allen Bedrohungen und Schrecknissen der Zerstörung bedrängt ist und nur warten kann, dass der Geliebte kommt, Der die Macht hat, die Belagerung aufzubrechen und Heil zu bringen. Es ist der hoffende Schrei nach der Nähe Jesu in einer Not, in der nur Er noch helfen kann.
13.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil XIV)
Der Glaube an die Wiederkunft Christi ist die zweite Säule des christlichen Bekenntnisses. Er, Der Fleisch angenommen hat und nun immerfort Mensch bleibt, Der für immer in Gott den Raum des Menschseins eröffnet hat, ruft die ganze Welt ins Offene Gottes hinein, damit am Ende Gott alles in allem werde und der Sohn die ganze in Ihm gesammelte Welt dem Vater übergeben kann (vgl. 1 Kor 15,20 - 28). Darin ist die Hoffnungsgewissheit eingeschlossen, dass Gott alle Tränen abtrocknen wird, dass nichts Sinnloses stehen bleibt, dass alles Unrecht aufgearbeitet und das Recht hergestellt wird. Der Sieg der Liebe wird das letzte Wort der Weltgeschichte sein.
Von den Christen wird für die „Zwischenzeit“ Wachheit als Grundhaltung verlangt. Diese Wachheit bedeutet zum einen, dass der Mensch sich nicht in den Augenblick einschließt und sich den greifbaren Dingen überlässt, sondern den Blick über das Momentane und seine Dringlichkeit hinaushebt. Den Blick freihalten zu Gott hin, um von Ihm her das Maß des rechten Tuns und die Fähigkeit dazu zu empfangen – darum geht es.
Wachheit bedeutet zu allererst Offenheit für das Gute, für die Wahrheit, für Gott, mitten in einer oft unerklärlichen Welt und mitten in der Macht des Bösen. Sie bedeutet, dass der Mensch mit aller Kraft und mit großer Nüchternheit das Rechte zu tun versucht, dass er nicht nach seinen eigenen Wünschen lebt, sondern nach der Wegweisung des Glaubens. Dies alles ist dargestellt in den eschatologischen Gleichnissen Jesu, besonders im Gleichnis vom wachsamen Knecht (Lk 12,42 – 48) und auf andere Weise in der Parabel von den törichten und den klugen Jungfrauen (Mt 25,1 – 13).
12.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil XIII)
Kehren wir noch einmal zum 1. Kapitel der Apostelgeschichte zurück. Inhalt der christlichen Existenz, hatten wir gesagt, ist nicht Zukunftsberechnung, sondern einerseits die Gabe des Heiligen Geistes und andererseits die weltweite Zeugenschaft der Jünger für Jesus, den Gekreuzigten und Auferstandenen (Apg 1,6 – 8). Und das Entzogenwerden Jesu durch die Wolke bedeutet nicht Bewegung zu einem anderen kosmischen Ort, sondern die Hineinnahme in das Sein Gottes Selbst und so die Teilhabe an Seiner Gegenwartsmacht in der Welt.
Nun fährt der Text fort. Wie zuvor im Grab (Lk 24,4), so erscheinen auch jetzt zwei weiß gewandete Männer und richten eine Botschaft aus: „Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor? Dieser Jesus, Der von euch ging und in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wieder kommen, wie ihr Ihn habt zum Himmel hingehen sehen“ (Apg 1,11). Damit wird der Glaube an die Wiederkunft Jesu bestärkt, zugleich aber auch noch einmal betont, dass es nicht Aufgabe der Jünger ist, in den Himmel zu schauen oder Zeiten und Fristen zu erfahren, die im Geheimnis Gottes verborgen sind. Ihr Auftrag ist jetzt, das Zeugnis von Christus bis an die Enden der Erde zu tragen.
11.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil XII)
Es geht hier um das Gleiche, was Paulus in 2 Kor 5,16f zum Ausdruck bringt: „Auch wenn wir früher Christus nach menschlichen Maßstäben gekannt haben, jetzt kennen wir Ihn nicht mehr so. Wenn einer in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung.“ Die alte Weise menschlichen Miteinanderseins und Begegnens ist vorbei. Nun kann man Jesus nur noch berühren „beim Vater“. Man kann Ihn nur berühren, indem man aufsteigt. Vom Vater her, in der Gemeinschaft mit dem Vater, ist Er uns auf neue Weise zugänglich und nahe.
Diese neue Zugänglichkeit setzt auch eine Neuheit unsererseits voraus: Durch die Taufe ist unser Leben schon mit Christus in Gott verborgen; wir sind in unserer eigentlichen Existenz schon „oben“, bei Ihm, zur Rechten des Vaters (vgl. Kol 3,1ff). Wenn wir in die Eigentlichkeit unserer christlichen Existenz vordringen, dann rühren wir an dem Auferstandenen: Dort sind wir ganz wir selbst. Berühren Christi und Aufsteigen gehören zusammen. Und denken wir daran, dass nach Johannes der Ort der „Erhöhung“ Christi Sein Kreuz ist, dass unsere immer wieder nötige „Himmelfahrt“, unser Aufsteigen, um Ihn zu berühren, Mitgehen mit dem Gekreuzigten sein muss.
Der Christus beim Vater ist nicht fern von uns, höchstens sind wir fern von Ihm; aber der Weg zueinander steht offen. Worum es hier geht, ist nicht der Weg einer Raumfahrt kosmisch-geographischer Art, sondern die Raumfahrt des Herzens, von der Dimension der Selbstverschließung zu der neuen Dimension der weltumspannenden göttlichen Liebe.
10.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil XI)
Von einer ganz anderen Seite her wird Ähnliches sichtbar in der theologisch und anthropologisch außerordentlich dichten Geschichte von der ersten Erscheinung des Auferstandenen an Maria Magdalena. Nur einen Zug daraus möchte ich an dieser Stelle herausgreifen.
Maria hat sich nach der Anrede durch die zwei Engel in weißen Gewändern umgewandt und Jesus gesehen, Ihn aber nicht erkannt. Nun ruft Er sie beim Namen: „Maria“! Noch einmal muss sie sich wenden, und nun erkennt sie freudig den Auferstandenen, Den sie als Rabbuni, als ihren Meister anspricht. Sie will Ihn anrühren, Ihn festhalten, aber der Herr sagt zu ihr: „ Halte Mich nicht fest; denn Ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen“ (Joh 20,17). Das wundert uns. Wir möchten sagen: Jetzt, wo Er vor ihr steht, kann sie Ihn nicht anrühren, Ihn festhalten. Wenn Er zum Vater aufgestiegen sein wird, ist es nicht mehr möglich. Aber der Herr sagt das Umgekehrte: Jetzt kann sie Ihn nicht berühren, nicht festhalten. Die frühere Beziehung zum irdischen Jesus ist so nicht mehr möglich.
09.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil X)
Es gibt eine wunderbare kleine Geschichte im Evangelium (Mk 6,45 - 52 par.), wo Jesus während Seines irdischen Lebens diese Art von Nähe vorwegnimmt und sie uns so leichter verständlich werden lässt. Nach der Brotvermehrung veranlasst der Herr die Jünger, ins Boot zu steigen und zum anderen Ufer nach Betsaida voraus zu fahren, während Er selbst das Volk entlässt. Er zieht sich dann auf den Berg zurück, um zu beten. So sind die Jünger allein im Boot. Es ist Gegenwind, der See ist aufgewühlt. Sie sind bedroht von der Macht der Wogen und des Sturms Der Herr scheint weit weg zu sein im Gebet auf Seinem Berg. Aber weil Er beim Vater ist, sieht Er sie. Und weil Er sie sieht, kommt Er über den See zu Ihnen, setzt Sich mit ihnen ins Boot und ermöglicht ihnen die Fahrt zum Ziel.
Dies ist ein Bild für die Zeit der Kirche - gerade auch uns zugedacht. Der Herr ist auf dem „Berg des Vaters“ Deshalb sieht Er uns. Darum kann Er jederzeit in das Boot unseres Lebens einsteigen. Deswegen können wir Ihn immer rufen und immer gewiss sein, dass Er uns sieht und hört. Das Boot der Kirche fährt auch heute im Gegenwind der Geschichte durch den aufgewühlten Ozean der Zeit. Oft sieht es aus, als ob es untergehen müsse. Aber der Herr ist da und kommt zur rechten Zeit. „ Ich gehe und Ich komme zu euch“ - das ist das Vertrauen der Christenheit, der Grund unsere Freude.
08.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil IX)
Der scheidende Jesus geht nicht irgendwo hin auf ein fernes Gestirn. Er geht in die Macht-und Lebensgemeinschaft mit dem lebendigen Gott ein, in Gottes Raumüberlegenheit. Darum ist Er nicht „weggegangen“, sondern nun immer von Gottes eigener Macht her bei uns und für uns da. In den Abschiedsreden des Johannes-Evangeliums sagt Jesus gerade dies zu Seinen Jüngern: „Ich gehe und Ich komme zu euch“ (14,28). Hier ist das Besondere des „Weggehens“ Jesu, das zugleich sein „Kommen“ ist, wunderbar zusammengefasst, und damit ist zugleich das Geheimnis von Kreuz, Auferstehung und Himmelfahrt ausgelegt. Sein Weggehen ist gerade so ein Kommen, eine neue Weise der Nähe, bleibender Gegenwart, mit der auch Johannes die Freude verbindet, von der wir eben im Lukas-Evangelium gehört haben.
Weil Jesus beim Vater ist, ist Er nicht fort, sondern in unserer Nähe. Nun ist Er nicht mehr an einer einzelnen Stelle der Welt wie vor der Himmelfahrt, nun ist Er für alle - die ganze Geschichte hindurch - und allerorten mit Seiner raumüberschreitenden Macht gegenwärtig und rufbar.
07.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil VIII)
Das Neue Testament - von der Apostelgeschichte bis zum Hebräer-Brief - hat den „Ort“, an den Jesus mit der Wolke gegangen ist, im Anschluss an Ps 110,1 als Sitzen (oder Stehen) zur Rechten Gottes beschrieben. Was heißt das? Damit ist nicht ein ferner kosmischer Raum angesprochen, an den Gott sozusagen Seinen Thron aufgerichtet und auf diesem Thron auch Jesus einen Platz gegeben hätte. Gott ist nicht in einem Raum neben anderen Räumen. Gott ist Gott - Er ist Voraussetzung und Grund aller Räumlichkeit, die es gibt, aber nicht Selbst einer davon. Gott steht zu allen Räumen als der Herr und der Schöpfer. Seine Gegenwart ist nicht räumlich, sondern eben göttlich. „Zur Rechten Gottes sitzen“ bedeutet Teilhabe an dieser Raum-Mächtigkeit Gottes. In einem Streitgespräch mit den Pharisäern gibt Jesus Selbst dem Psalm 110 eine neue Auslegung, die dem Verstehen der Christen den Weg gewiesen hat. Der Vorstellung vom Messias als einem neuen David mit einem neuen David-Reich - der Vorstellung, die uns eben bei den Jüngern begegnet ist - stellt Er eine größere Sicht des Kommenden entgegen: nicht Davids Sohn, sondern Davids Herr ist der wahre Messias. Nicht auf Davids Thron, sondern auf Gottes Thron sitzt Er (Mt 22,41 – 45).
06.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil VII)
In diesem Zusammenhang steht dann die Aussage von der Wolke, die Ihn aufnimmt und ihren Blicken entzieht. Die Wolke erinnert uns an die Stunde der Verklärung, in der die helle Wolke auf Jesus und die Jünger fällt (vgl. Mt 17,5; Mk 9,7; Lk 9,34 f). Sie erinnert uns an die Stunde der Begegnung Marias mit dem Gottesboten Gabriel, der ihr die „Überschattung“ mit der Kraft des Höchsten ankündigt (vgl. Lk 1,35). Sie erinnert uns an das Heilige Gotteszelt des Alten Bundes, in dem die Wolke Zeichen der Gegenwart des Herrn ist (vgl. Ex 40,34f), Der auch auf der Wüstenwanderung Israel als Wolke vorangeht (vgl. Ex 13,21f). Die Rede von der Wolke ist ganz eindeutig theologische Rede. Sie stellt das Entschwinden Jesu nicht als Reise zu den Sternen, sondern das Eintreten ins Geheimnis Gottes dar. Damit ist eine ganz andere Größenordnung, eine andere Dimension das Seins angesprochen.
05.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil VI)
So hilft uns der Schluss des Lukas-Evangeliums, den Anfang der Apostelgeschichte besser zu verstehen, indem die „Himmelfahrt“ Jesu ausdrücklich geschildert wird. Dem Entschwinden Jesu geht hier ein Gespräch voraus, in dem die Jünger – immer noch in ihren alten Vorstellungen befangen - danach fragen, ob jetzt die Zeit da sei, das Königtum Israels zu errichten.
Dieser Vorstellung eines erneuerten David-Reiches stellt Jesus eine Verheißung und einen Auftrag entgegen. Die Verheißung ist es, dass sie von der Kraft des Heiligen Geistes erfüllt werden; der Auftrag besteht darin, Seine Zeugen bis an die Grenzen der Erde zu sein.
Das Fragen nach Zeiten und Fristen wird ausdrücklich abgelehnt. Nicht Geschichts-Spekulation, nicht Ausschau nach kommendem Unbekannten ist die Haltung der Jünger. Christentum ist Gegenwart: Gabe und Auftrag, beschenkt werden mit einer inneren Nähe Gottes und - aus dieser heraus - Wirken im Zeugnis für Jesus Christus.
04.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil V)
Wie sollten sie vor die Menschen in Jerusalem, in Israel, in der ganzen Welt hintreten und sagen: „Dieser Jesus, Der gescheitert schien, ist doch der Retter von uns allen“? Jeder Abschied hinterlässt Trauer. Auch wenn Jesus als Lebender von ihnen gegangen war: Wie sollte Sein endgültiges Scheitern von ihnen sie nicht traurig machen? Und doch - da steht, sie kehrten in großer Freude nach Jerusalem zurück und priesen Gott. Wie können wir das verstehen? Jedenfalls folgt daraus, dass die Jünger sich nicht verlassen fühlen. Dass sie Jesus nicht als weit von ihnen in einen unzugänglichen Himmel entschwunden ansehen. Sie sind offenbar einer neuen Gegenwart Jesu gewiss. Sie sind sich gewiss (wie ist der Auferstandene nach Matthäus dann auch gesagt hat), dass Er gerade jetzt auf eine neue und machtvolle Weise bei ihnen gegenwärtig ist. Sie wissen, dass „die Rechte Gottes“, zu der Er „erhöht ist“, eine neue Weise Seiner Gegenwart einschließt, dass Er nun unverlierbar bei ihnen ist, so wie eben nur Gott uns nahe sein kann.
Die Freude der Jünger nach der „Himmelfahrt“ korrigiert unser Bild von diesem Ereignis. „Himmelfahrt“ ist nicht weggehen in eine entfernte Zone des Kosmos, sondern die bleibende Nähe, die die Jünger so stark erfahren, dass daraus beständige Freude wird.
03.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil IV)
Wenden wir uns also dem Schluss des Lukasevangelium zu. Da wird erzählt, wie Jesus den in Jerusalem versammelten Aposteln erscheint, zu denen noch die zwei Emmausjünger gestoßen sind. Er isst mit ihnen und erteilt Weisungen. Die letzten Sätze des Evangeliums lauten: „Dann führte Er sie hinaus in die Nähe von Bethanien. Dort erhob Er Seine Hände und segnete sie. Und während Er sie segnete, verließ Er sie und wurde zum Himmel emporgehoben; sie aber fielen vor Ihm nieder. Dann kehrten sie in großer Freude nach Jerusalem zurück. Und sie waren immer im Tempel und priesen Gott (24, 50 – 53).
Dieser Abschluss verwundert uns. Lukas sagt, dass die Jünger voll Freude waren, als der Herr endgültig von ihnen gegangen war. Wir würden das Gegenteil erwarten. Wir würden erwarten, dass sie ratlos und traurig zurückblieben. Die Welt hatte sich nicht geändert, Jesus war endgültig von ihnen gegangen. Sie hatten einen Auftrag erhalten, der unausführbar schien und ihre Kräfte überstieg.
02.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil III)
Die Jünger haben gewiss von der Wiederkunft Jesu gesprochen, aber vor allem haben sie bezeugt, dass Er der jetzt Lebende ist, das Leben Selbst, von dem her auch wir Lebende werden (Joh 14,19). Aber wie geht das? Wo finden wir Ihn? Ist Er, der Auferstandene, Der „zur Rechten des Vaters erhöht ist“ (Apg 2,33), damit nicht ganz abwesend? Oder ist Er irgendwie zugänglich? Können wir „zur Rechten des Vaters“ vordringen? Gibt es in der Abwesenheit doch zugleich eine wirkliche Gegenwart? Kommt Er nicht erst an einem unbekannten letzten Tag zu uns? Kann Er auch heute kommen?
Diese Fragen prägen das Johannes-Evangelium, und auch die Paulus-Briefe geben Antwort darauf. Das Wesentliche dieser Antwort ist aber auch in den Berichten von der „ Himmelfahrt“ angedeutet, mit denen das Lukas-Evangelium schließt und die Apostelgeschichte beginnt.
01.12.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil II)
Zur Botschaft der Zeugen gehört auch die Ankündigung, dass Jesus wiederkommen wird, die Lebenden und die Toten zu richten und endgültig Gottes Reich in der Welt aufzurichten. Eine große Strömung der neuzeitlichen Theologie hat diese Verkündigung sogar zum Hauptinhalt, wenn nicht zum einzigen Kern der Botschaft erklärt. So behauptet man, schon Jesus Selbst habe ausschließlich in eschatologischen Kategorien gedacht. Die „Naherwartung“ des Reiches sei das eigentlich Spezifische Seiner Botschaft gewesen, und die früheste apostolische Verkündigung habe nichts anderes gesagt. Wenn dies der Fall gewesen wäre, so fragt man sich, wie der christliche Glaube hätte Bestand behalten können, als sich die Erwartung nicht erfüllte. In der Tat steht eine solche Theorie gegen die Texte wie gegen die Wirklichkeit des werdenden Christentums, das den Glauben als gegenwärtige Kraft und zugleich als Hoffnung erfahren hat.
30.11.2021
Ausblick
Aufgefahren in den Himmel – Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit (Teil I)
Alle vier Evangelien wie auch der Auferstehungsbericht des heiligen Paulus in 1 Kor 15 setzen voraus, dass die Zeit der Erscheinungen des Auferstandenen begrenzt war. Paulus ist sich bewusst, dass ihm als Letztem noch eine Begegnung mit dem auferstandenen Christus geschenkt wurde. Auch der Sinn der Erscheinungen ist in der ganzen Überlieferung klar: Es geht zunächst darum, einen Kreis von Jüngern zu sammeln, die bezeugen können, dass Jesus nicht im Grab geblieben ist - dass Er lebt. Ihre Zeugenschaft ist wesentlich Sendung: Sie müssen der Welt verkünden, dass Jesus der Lebende ist - das Leben selbst.
Ihnen ist aufgetragen, zunächst noch einmal zu versuchen, Israel um den auferstandenen Jesus zu sammeln. Auch für Paulus beginnt die Botschaft immer zuerst mit dem Zeugnis vor den Juden, denen das Heil zuerst zugedacht ist. Aber die letzte Bestimmung der Gesandten Jesu ist universal: „Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde. Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu Meinen Jüngern“ (Mt 28,18f). „Ihr werdet Meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8). „Brich auf, denn Ich will dich in die Ferne zu den Heiden senden“, sagt der Auferstandene schließlich zu Paulus (Apg 22,21).
29.11.2021
Zusammenfassung: Das Wesen der Auferstehung Jesu und ihre geschichtliche Bedeutung (Teil IV)
Am Schluss bleibt freilich für uns alle immer wieder die Frage, die Judas Thaddäus im Abendmahlsaal an Jesus gerichtet hat: „Herr, was ist geschehen, dass Du Dich uns offenbaren willst und nicht der Welt?“ (Joh 14,22). Ja, warum bist Du nicht machtvoll Deinen Feinden gegenübergetreten, die Dich ans Kreuz gebracht haben? - so möchten wir fragen. Warum hast Du ihnen nicht mit unwiderlegbarer Kraft gezeigt, dass Du der Lebendige bist, der Herr über Leben und Tod? Warum zeigst Du Dich nur in der kleinen Schar von Jüngern, deren Zeugnis wir uns nun anvertrauen müssen?
Die Frage betrifft freilich nicht nur die Auferstehung, sondern die ganze Weise der Offenbarung Gottes in der Welt. Warum nur Abraham - warum nicht den Mächtigen der Welt? Warum nur Israel und nicht unbestreitbar allen Völkern der Erde?
Es ist das Geheimnis Gottes, dass Er leise handelt. Dass Er nur allmählich in der großen Geschichte der Menschheit Seine Geschichte aufbaut. Dass Er Mensch wird und dabei von den Zeitgenossen, von den maßgebenden Kräften der Geschichte übersehen werden kann. Das Er leidet und stirbt und als Auferstandener nur über den Glauben der Seinigen, denen Er Sich zeigt, zur Menschheit kommen will. Dass Er immerfort leise an die Türen unserer Herzen klopft und uns langsam sehend macht, wenn wir Ihm auftun.
Und doch - ist nicht gerade dies die göttliche Art? Nicht überwältigen mit äußerer Macht, sondern Freiheit geben, Liebe schenken und erwecken. Und ist das scheinbar so Kleine, wenn wir es gut bedenken, nicht das wahrhaft Große? Geht nicht von Jesus eine durch die Jahrhunderte wachsende Lichtspur aus, die von keinem bloßen Menschen kommen konnte und in der wirklich das Licht Gottes in die Welt herein leuchtet? Hätte die Predigt der Apostel Glauben finden und eine weltweite Gemeinschaft aufbauen können, wenn nicht die Kraft der Wahrheit in ihr gewirkt hätte?
Wenn wir den Zeugen wachen Herzens zuhören und uns den Zeichen öffnen, mit denen der Herr sie und Sich Selbst immer neu beglaubigt, dann wissen wir es: Er ist wahrhaft auferstanden. Er ist der Lebende. Ihm vertrauen wir uns an und wissen, dass wir auf dem rechten Weg sind. Mit Thomas legen wir unsere Hände in die durchbohrte Seite Jesu und bekennen: Mein Herr und mein Gott! (Joh 20,28).
28.11.2021
Zusammenfassung: Das Wesen der Auferstehung Jesu und ihre geschichtliche Bedeutung (Teil III)
Von da aus ist auch die Frage nach der Auferstehung als einem historischen Ereignis anzugehen. Einerseits müssen wir sagen, das Wesen der Auferstehung sei es gerade, dass sie die Geschichte sprengt und eine neue Dimension eröffnet, die wir gemeinhin die eschatologische nennen. Auferstehung tut den neuen Raum auf, der die Geschichte über sich selbst hinaus öffnet und das Endgültige schafft. In diesem Sinn gilt, dass Auferstehung nicht ein gleichartiges historisches Ereignis ist wie die Geburt oder die Kreuzigung Jesu. Sie ist etwas Neues, ein neuer Typ von Ereignis.
Aber zugleich muss festgestellt werden, dass sie nicht einfach außerhalb oder oberhalb der Geschichte steht. Als Ausbruch aus der Geschichte, über diese hinaus, hat sie doch ihren Anfang in der Geschichte selbst und gehört ihr ein Stück weit zu. Man könnte dies vielleicht so ausdrücken: Die Auferstehung Jesu führt über die Geschichte hinaus, aber sie hat eine Fußspur in der Geschichte hinterlassen. Deshalb kann sie von Zeugen als Ereignis einer ganz neuen Qualität bezeugt werden.
In der Tat ist die apostolische Predigt mit ihrer Leidenschaft und ihrer Kühnheit undenkbar ohne eine wirkliche, von außen die Zeugen treffende Berührung mit dem ganz Neuen und Unerwarteten, das im Sich-Zeigen und Sprechen des auferstandenen Christus bestand. Nur ein wirkliches Ereignis von radikal neuer Qualität konnte die apostolische Predigt ermöglichen, die nicht mit Spekulationen oder inneren, mystischen Erfahrungen zu erklären ist. Sie lebt in ihrer Kühnheit und Neuheit von der Wucht eines Geschehens, das niemand erdacht hatte und das alle Vorstellungen sprengte.
27.11.2021
Zusammenfassung: Das Wesen der Auferstehung Jesu und ihre geschichtliche Bedeutung (Teil II)
Was können wir aufgrund all dieser biblischen Nachrichten nun wirklich über das eigentümliche Wesen der Auferstehung Christi sagen?
Sie ist ein Ereignis in der Geschichte, das doch den Raum der Geschichte sprengt und über sie hinaus reicht. Vielleicht dürfen wir uns einer analogen Sprache bedienen, die in vieler Hinsicht unangemessen bleibt, aber doch einen Zugang zum Verstehen öffnen kann: Wir könnten (wie schon im ersten Abschnitt dieses Kapitels vorweggenommen) die Auferstehung als so etwas wie einen radikalen „Mutationssprung“ ansehen, indem sich eine neue Dimension des Lebens, des Menschseins auftut.
Ja, die Materie selbst wird in eine neue Wirklichkeitsweise umgebrochen. Der Mensch Jesus gehört nun gerade auch mit seinem Leib ganz und gar der Sphäre des Göttlichen und Ewigen zu. „Geist und Blut“ haben, wie Tertullian einmal sagt, von nun an einen Ort in Gott (vgl. De resurrect. mort. 51,3; CC lat. II 994). Auch wenn der Mensch von seinem Wesen her zur Unsterblichkeit geschaffen ist, so ist erst jetzt der Ort da, in dem seine unsterbliche Seele den „Raum“, die „Leiblichkeit“ findet, in der Unsterblichkeit Sinn erhält als Mitsein mit Gott und der ganzen versöhnten Menschheit. Die Gefangenschaftsbriefe des heiligen Paulus an die Kolosser (vgl. 1, 12 – 23) und an die Epheser (vgl. 1,3 – 23) meinen dies, wenn sie vom kosmischen Leib Christi sprechen und damit anzeigen, dass der verwandelte Leib Christi zugleich der Ort ist, in dem die Menschen in die Gemeinschaft mit Gott und miteinander eintreten und so definitiv leben können in der Fülle des unzerstörbaren Lebens Da wir selbst keine Erfahrung einer solchen erneuerten, veränderten Weise von Materialität und Leben haben, ist es nicht verwunderlich, dass dies den Bereich dessen, was wir uns vorstellen können, überschreitet. Wesentlich ist, dass mit der Auferstehung Jesu nicht irgendein einzelner Toter irgendwann einmal revitalisiert wurde, sondern dass in der Auferstehung ein ontologischer, das Sein als solches berührender Sprung geschah, dass eine Dimension eröffnet wurde, die uns alle angeht und die für uns alle einen neuen Raum des Lebens, des Mitseins mit Gott geschaffen hat.
26.11.2021
Zusammenfassung: Das Wesen der Auferstehung Jesu und ihre geschichtliche Bedeutung (Teil I)
Fragen wir nun zusammenfassend noch einmal, welcher Art die Begegnung mit dem Auferstandenen Herrn gewesen ist. Die folgenden Unterscheidungen sind wichtig:
- Jesus ist kein ins allgemein biologische Leben Zurückgekehrter, der dann nach den Gesetzen der Biologie eines Tages wieder sterben müsste.
- Jesus ist kein Gespenst („Geist“). Das bedeutet: Er ist nicht jemand, der eigentlich der Totenwelt zugehört, aber irgendwie sich in der Lebenswelt zeigen kann.
- Die Begegnungen mit dem Auferstandenen sind dabei auch etwas anderes als mystische Erfahrungen, in denen der menschliche Geist einen Augenblick über sich hinaus gehoben wird und die Welt des Göttlichen und Ewigen wahrnimmt, um dann wieder in den normalen Horizont seines Daseins zurückzukehren. Die mystische Erfahrung ist eine zeitweilige Entgrenzung des Raums der Seele und ihrer Wahrnehmungsfähigkeit. Sie ist aber nicht eine Begegnung mit einer von außen auf mich zutretenden Person. Paulus hat seine mystischen Erfahrungen, wie z B. die in 2 Kor 12,1 – 4 geschilderte Erhebung bis in den dritten Himmel, ganz klar von der Begegnung mit dem Auferstandenen auf dem Weg nach Damaskus unterschieden, die ein Ereignis in der Geschichte, einer Begegnung mit einem Lebenden war.
25.11.2021
Die Erzähltradition (Teil XIX)
Die Erscheinungen Jesu in den Evangelien
Schließlich ist es sinnvoll, hier auch noch an Jesu Worte zu denken, die wir im Markus-Evangelium finden: „ Jeder wird mit dem Feuer gesalzen werden. Das Salz ist gut; wenn es aber schal wird, womit wollt ihr es wieder salzen? Habt Salz in euch und haltet Frieden miteinander“ (9,49). Einige Handschriften fügen im Anschluss an Lev 2,13 auch noch hinzu: „ Jedes Opfer wird mit Salz gesalzen werden“. Das Salzen der Opfer hatte ebenfalls den Sinn, die Gabe würzig zu machen und sie vor Fäulnis zu schützen. So spielen verschiedene Bedeutungen zusammen: Bundeserneuerung, Gabe des Lebens, Reinigung des eigenen Seins für die Selbstabgabe an Gott. Wenn Lukas zu Beginn der Apostelgeschichte die nachösterlichen Ereignisse zusammenfasst und dort von der Mahlgemeinschaft des Auferstandenen und der Seinigen erzählt mit dem Wort „synalizómenos - Salz mit den anderen essend“, so bleibt zum einen das Geheimnis dieser neuen Mahlgemeinschaft bestehen; andererseits wird aber zugleich ihr Wesentliches sichtbar: Der Herr zieht die Jünger neu in die Bundesgemeinschaft mit Sich und mit dem lebendigen Gott hinein. Er gibt ihnen Anteil am wirklichen Leben, macht sie selbst zu Lebendigen und und würzt ihr eigenes Leben mit der Anteilnahme an Seiner Passion, an der reinigenden Kraft Seines Leidens.
Wie die Mahlgemeinschaft mit den Seinigen konkret ausgesehen hat, entzieht sich unserer Vorstellung. Aber wir können ihr inneres Wesen erkennen und können sehen, dass in der gottesdienstlichen Gemeinschaft, in der Feier der Eucharistie, dieses Mahlhalten des Auferstandenen weitergeht, wenn auch in anderer Weise.
24.11.2021
Die Erzähltradition (Teil XIII)
Die Erscheinungen Jesu in den Evangelien
Für das rechte Verstehen des dritten Elements, das sich wie die ersten zwei über die „vierzig Tage“ erstreckt, ist das von Lukas gebrauchte Wort „synalizómenos“ von wesentlicher Bedeutung. Wörtlich übersetzt heißt es: „Salz mit Ihnen essend“. Lukas hat dieses Wort sicher bedachtsam gewählt. Aber was soll es bedeuten? Im Alten Testament stiftet gemeinsames Genießen von Brot und Salz oder von Salz allein feste Bündnisse (vgl. Num 18,19; 2 Chr 13,5; vgl. Hauck, ThWNT I, S. 229). Salz gilt als Bündnis für Dauer. Es ist das Mittel gegen Fäulnis, gegen die Verwesung, die zum Wesen des Todes gehört. Jedes Essen ist Angehen gegen den Tod – eine Weise, leben zu erhalten. Das „Salzessen Jesu“ nach der Auferstehung, dem wir so als Zeichen des neuen und immerwährenden Lebens begegnen, deutet auf das neue Mahl des Auferstandenen mit den Seinen hin. Es ist Bundesgeschehen und steht damit in einem inneren Zusammenhang mit dem letzten Abendmahl, in dem der Herr den neuen Bund gestiftet hatte. So bringt die geheimnisvolle Chiffre vom Salz essen eine innere Verbindung zwischen dem Mahl vor Jesu Leiden und der neuen Tischgemeinschaft des Auferstandenen zum Ausdruck: Er gibt Sich den Seinigen als Speise und beteiligt sie so an seinem Leben, am Lebens selbst.
23.11.2021
Die Erzähltradition (Teil XII)
Die Erscheinungen Jesu in den Evangelien
Von der inneren Struktur her sind die zwei Mahlerzählungen derjenigen ganz ähnlich, die wir bei Joh 21,1 – 14 finden: Die Jünger haben eine erfolglose Nacht hinter sich; kein Fisch ist in ihre Netze gegangen. Am Morgen steht Jesus am Ufer, aber sie erkennen Ihn nicht. Er fragt sie: „Meine Kinder, habt ihr etwas zu essen?“ Auf ihr Nein hin trägt Er Ihnen auf, noch einmal auszufahren, und diesmal kommen sie mit einem überreichen Fang zurück. Daraufhin lädt Jesus selbst, Der schon Fisch auf ein Kohlenfeuer gelegt hat, sie ein: „Kommt her und esst“. Und nun wussten sie, dass es Jesus war.
Besonders wichtig und hilfreich, um das Mahlhalten des Auferstandenen zu verstehen, ist die letzte Erzählung; sie findet sich in der Apostelgeschichte. In den üblichen Übersetzungen kommt freilich die besondere Aussage dieses Textes nicht zum Vorschein. Die deutsche Einheitsübersetzung entspricht dem üblichen Übersetzungstypus, wenn sie sagt: „… vierzig Tage hindurch ist Er ihnen erschienen und hat vom Reich Gottes gesprochen. Beim gemeinsamen Mahl gebot Er Ihnen: Geht nicht weg von Jerusalem…“ (Apg 1,3 f). Durch den - von der Satzkonstruktion her berechtigten -Punkt nach dem Wort „gesprochen“ wird ein innerer Zusammenhang verdeckt; Lukas spricht von drei Elementen, die das Zusammensein das Auferstandenen mit den Seinen kennzeichneten: „Er gab Sich zu sehen“; „Er sprach“; „Er hielt Mahl“. Sich zu sehen geben - reden – Mahl halten sind die drei zusammengehörenden Selbstkundgebungen des Auferstandenen, in denen Er Sich als der Lebende erweist.
22.11.2021
Die Erzähltradition (Teil XI)
Die Erscheinungen Jesu in den Evangelien
Die allermeisten Ausleger sind der Meinung, dass Lukas hier in seinem apologetischen Eifer übertrieben habe; dass er mit einer solchen Aussage Jesus in die empirische Leiblichkeit zurückhole, die mit der Auferstehung überschritten ist. So stehe er mit seiner eigenen Erzählung im Widerspruch, in der Jesus plötzlich mitten unter den Jüngern erscheint in einer Leiblichkeit, die nicht an die Gesetze von Raum und Zeit gebunden ist.
Ich denke, es ist nützlich, hier auch die anderen drei Stellen in den Blick zu nehmen, in denen vom Mahlhalten des Auferstandenen berichtet wird. Dem eben besprochenen Text geht die Emmaus-Geschichte voraus. Sie endet damit, dass sich Jesus mit den Jüngern zu Tisch setzte, das Brot nahm, den Lobpreis betete, das Brot brach und es den Zweien reichte. In diesem Augenblick gingen ihnen die Augen auf, „und sie erkannten Ihn. Er aber entschwand ihren Blicken“ (Lk 24,31). Der Herr hält Tischgemeinschaft mit den Seinen wie zuvor, mit Lobpreis und Brot brechen. Dann entschwindet Er dem äußeren Blick, und gerade in diesem Entschwinden öffnet sich das innere Sehen: Sie erkennen Ihn. Es ist wirklich Mahlgemeinschaft und doch neu. Im Brechen des Brotes zeigt Er Sich, aber im Entschwinden wird Er erst wahrhaft erkennbar.
21.11.2021
Die Erzähltradition (Teil X)
Die Erscheinungen Jesu in den Evangelien
Was ein Gespenst ist, was die Erscheinung eines „Geistes“ im Gegensatz zur Erscheinung des Auferstandenen bedeutet, kann man am besten in der biblischen Erzählung von der Totenbeschwörer zu En-Dor sehen, die auf das Drängen Sauls hin den Geist des Samuel beschwört und aus der Unterwelt herausholt (vgl. 1 Sam 28,7 ff). Der beschworene „Geist“ ist ein Toter, der als Schattenexistenz in der Unterwelt lebt, zeitweilig heraufgerufen werden kann, um aber dann wieder in die Totenwelt zurückzukehren.
Jesus dagegen kommt nicht aus der Totenwelt, die Er endgültig hinter Sich gelassen hat, sondern Er kommt im Gegenteil gerade aus der Welt des reinen Lebens, von Gott her als der wahrhaft Lebendige, Der Selbst Quell des Lebens ist. Lukas stellt den Gegensatz zum Geist dadurch drastisch heraus, dass er erzählt, Jesus habe die noch immer verunsicherten Jünger um etwas Essbares gebeten und dann vor ihren Augen ein Stück gebratenen Fisch gegessen.
20.11.2021
Die Erzähltradition (Teil IX)
Die Erscheinungen Jesu in den Evangelien
Dies sind freilich nur Analogien, denn das Neue der „Theophanie“ des Auferstandenen besteht darin, dass Jesus wirklich Mensch ist: Dass Er als Mensch gelitten hat und gestorben ist; dass Er nun neu lebt in der Dimension des lebendigen Gottes und dass Er als wahrer Mensch und doch von Gott her erscheint - Selbst Gott ist.
So sind zwei Abgrenzungen wichtig. Einerseits ist Jesus nicht in die empirische Existenz zurückgekehrt, zu der das Gesetz des Todes gehört, sondern Er lebt neu in der Gemeinschaft mit Gott, dem Tod für immer entzogen. Andererseits ist es wichtig, dass die Begegnungen mit dem Auferstandenen etwas anderes sind als innere Ereignisse oder als mystische Erfahrungen - sie sind wirkliche Begegnungen mit dem Lebenden, Der auf neue Weise Leib hat und leibhaft bleibt. Lukas betont das sehr nachdrücklich: Jesus ist nicht, wie die Jünger im ersten Augenblick fürchten, ein „Gespenst“, ein Geist, sondern hat „Fleisch und Knochen“ (Lk 24,36 – 43).
19.11.2021
Die Erzähltradition (Teil VIII)
Die Erscheinungen Jesu in den Evangelien
Eine Hilfe, die geheimnisvollen Erscheinungen des Auferstandenen zu verstehen, können nach meinem Dafürhalten die Theophanien des Alten Testaments bieten. Ich möchte hier nur auf drei Typen solcher Theophanien kurz hinweisen.
Da ist zunächst die Gotteserscheinung vor Abraham bei den Eichen von Mamre (Gen 18,1 – 33). Drei Männer sind es, die bei Abraham einkehren. Und doch weiß Abraham sofort, von innen her, dass es „der Herr“ ist, Der bei ihm zu Gast sein will. Im Buch Josua wird uns erzählt, wie Josua, der Ausschau hält, plötzlich einen Mann mit gezücktem Schwert in der Hand vor sich stehen sieht. Josua, der ihn nicht erkennt, fragt ihn: „Gehörst du zu uns oder zu unseren Feinden? Er erhält die Antwort: Nein, ich bin der Anführer des Heeres des Herrn … zieh deine Schuhe aus; denn der Ort, wo du stehst, ist heilig (5,13 ff). Bezeichnend sind auch die beiden Geschichten von Gideon (Ri 6,11 – 24) und von Simson (Ri 13), wo jeweils der als Mann erscheinende Engel des Herrn als solcher erkannt wird erst in dem Augenblick, in dem er sich geheimnisvoll entzieht. Beide Male verzehrt eine Flamme die dargebrachte Speise, während der Engel des Herrn entschwindet. In der mythologischen Sprache erscheint zugleich einerseits die Nähe des Herrn, Der Sich als Mensch zeigt, und andererseits Seine Andersheit, mit der Er außerhalb der Gesetze des materiellen Lebens steht.
18.11.2021
Die Erzähltradition (Teil VII)
Die Erscheinungen Jesu in den Evangelien
Dieser Dialektik von Erkennen und Nichterkennen entspricht die Weise das Erscheinens. Jesus kommt durch verschlossene Türen, steht plötzlich in ihrer Mitte. Und ebenso entzieht Er Sich plötzlich wieder, wie am Schluss der Emmaus-Begegnung. Er ist ganz leibhaft. Und Er ist doch nicht an die Gesetze des Leibhaften, an die Gesetze von Raum und Zeit gebunden. In dieser merkwürdigen Dialektik von Identität und Andersheit, von wirklicher Leibhaftigkeit und Freiheit von den Bindungen des Leibes manifestiert sich das Besondere, geheimnisvolle Wesen der neuen Existenz des Auferstandenen. Denn beides gilt: Er ist der gleiche -leibhafter Mensch - und Er ist der Neue, der in eine andere Weise der Existenz Hinausgetretene.
Die Dialektik, die zum Wesen des Auferstandenen gehört, ist in den Erzählungen geradezu unbeholfen dargestellt, und eben so erscheint ihre Wahrheit. Hätte man die Auferstehung erfinden müssen, so hätte aller Nachdruck auf der vollen Leiblichkeit, auf dem unmittelbaren Wiedererkennen gelegen, und dazu wäre vielleicht eine besondere Macht als Ausweis des Auferstandenen erdacht worden. Aber in der alle Texte kennzeichnenden Widersprüchlichkeit das Erfahrenen, in dem geheimnisvollen Zusammen von Andersheit und Identität spiegelt sich eine neue Weise das Begegnens, die apologetisch eher störend erscheint, aber umso mehr als Wiedergabe des Erlebten dasteht.
17.11.2021
Die Erzähltradition (Teil VI)
Die Erscheinungen Jesu in den Evangelien
Die Erscheinungen, von denen uns die Evangelisten berichten, sind ganz offensichtlich anderer Art. Zum einen erscheint der Herr als Mensch wie andere Menschen: Er wandert mit den Emmaus-Jüngern; Er lässt Seine Wunden durch Thomas berühren, ja, nach Lukas lässt Er Sich sogar ein Stück Fisch zum Essen reichen, um Seine wahre Leibhaftigkeit zu beweisen. Und doch ist Er auch nach diesen Erzählungen nicht einfach ein wiedergekommener Mensch wie vor dem Tod.
Da ist zunächst auffällig, dass die Jünger Ihn zuerst nicht erkennen. Das ist nicht nur bei den beiden von Emmaus der Fall, sondern auch bei Maria von Magdala und wieder am See von Genezareth: „Als es schon morgen wurde, stand Jesus am Ufer. Doch die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war (Joh 21,4). Erst nachdem der Herr ihnen den Auftrag zur nochmaligen Ausfahrt erteilt hatte, erkannte Ihn der Lieblingsjünger: Da sagte der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr! (21,7). Es ist sozusagen ein Erkennen von innen her, das aber immer noch vom Geheimnis umfangen bleibt. Denn nach dem Fischfang, als Jesus sie zum Essen einlädt, ist immer noch eine seltsame Fremdheit da.“ Keiner von den Jüngern wagte Ihn zu fragen: Wer bist Du? Denn sie wussten, dass es der Herr war (21,12).Sie wussten es von innen, nicht durch Aussehen und Ansehen.
16.11.2021
Die Erzähltradition (Teil V)
Die Erscheinungen Jesu an Paulus
So viel ist klar, dass die Wahrnehmung seitens der Begleiter und des Saulus unterschiedlich war, dass nur dieser direkter Empfänger einer Botschaft war, die Sendung bedeutete, dass aber auch die Begleiter in irgendeiner Weise Zeugen eines außergewöhnlichen Vorgangs wurden.
Für den eigentlich Betroffenen, Saulus-Paulus, gehören die zwei Elemente zusammen: Das aufstrahlende Licht, das an die Tabor-Geschichte erinnern mag - der Auferstandene ist einfach Licht (vgl. Teil I, S. 357f); dazu das Wort, in dem Jesus Sich mit der verfolgten Kirche identifiziert und ihm zugleich eine Sendung erteilt. Während der erste und zweite Bericht ihn für die Sendung auf Damaskus verweisen, wo ihm das Nähere gesagt werden würde, wird im dritten Bericht ein ausführliches und ganz konkretes Sendungswort mitgeteilt: „Steh auf, stell dich auf deine Füße! Denn Ich bin dir erschienen, um dich zum Diener und Zeugen dessen zu erwählen, was du gesehen hast und was Ich dir noch zeigen werde. Ich will dich vor dem Volk und den Heiden retten, zu denen Ich dich sende, um ihnen die Augen zu öffnen. Denn sie sollen sich von der Finsternis zum Licht und von der Macht des Satans zu Gott bekehren und sollen durch den Glauben an Mich die Vergebung der Sünden empfangen und mit dem Geheiligten am Erbe teilhaben“ (Apg 26,16ff).
Bei allen Unterschieden der drei Berichte wird doch deutlich: Erscheinung (Licht) und Wort gehören zusammen. Der Auferstandene, Dessen Wesen Licht ist, spricht als Mensch mit Paulus in dessen Sprache. Sein Wort ist zum einen eine Selbstidentifizierung, die zugleich Identifizierung mit der verfolgten Kirche bedeutet, zum anderen eine Sendung, deren Inhalt sich im Folgenden weiter entfalten wird.
15.11.2021
Die Erzähltradition (Teil IV)
Die Erscheinungen Jesu an Paulus
Ein zweiter wichtiger Unterschied, durch den die Erzähltradition die Bekenntnisse ergänzt, besteht darin, dass die Erscheinungen des Auferstandenen nicht nur bekannt, sondern konkret geschildert werden. Wie müssen wir uns die Erscheinungen des Auferstandenen vorstellen, Der nicht ins gewohnte Menschenleben zurückgekehrt, sondern in eine neue Weise des Menschseins übergegangen war?
Da gibt es zunächst einen deutlichen Unterschied zwischen der in der Apostelgeschichte geschilderten Erscheinung des Auferstandenen an Paulus einerseits und den Erzählungen der Evangelisten über die Begegnungen der Apostel und der Frauen mit dem lebendigen Herrn andererseits.
Nach allen drei Berichten der Apostelgeschichte über die Bekehrung Pauli bestand die Begegnung mit dem Auferstandenen Christus aus zwei Elementen: Aus einem Licht, das „heller als die Sonne“ strahlte (26,13), und dazu eine Stimme, die „auf Hebräisch“ (v. 14) zu Saulus redete. Während der erste Bericht sagt, die Begleiter hätten zwar die Stimme gehört, „sahen aber niemand“ (9,7), heißt es im zweiten Bericht umgekehrt: Sie „sahen das Licht, hörten aber nicht die Stimme Dessen, Der zu mir sprach“ (22,9). Der dritte Bericht sagt über die Begleiter nur, dass sie alle wie Saulus zu Boden fielen.
14.11.2021
Die Erzähltradition (Teil III)
Die Erzähltradition berichtet von Begegnungen mit dem Auferstandenen und davon, was Er dabei gesagt hat; die Bekenntnistradition hält nur die wichtigsten Fakten fest, die zur Bestätigung des Glaubens gehören: So könnten wir noch einmal den wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Überlieferungstypen Schreiben. Daraus ergeben sich dann konkrete Unterschiede.
Ein erster besteht darin, dass in der Bekenntnistradition als Zeugen nur Männer mit Namen genannt werden, während in der Erzähltradition die Frauen eine entscheidende Rolle spielen, ja Vorrang vor den Männern haben. Das wird damit zusammenhängen, dass in der jüdischen Überlieferung nur Männer als Zeugen bei Gericht zugelassen wurden, das Zeugnis von Frauen als nicht verlässlich galt. Und so muss die „amtliche" Überlieferung, die gleichsam vor dem Gericht Israels und der Welt steht, sich an diese Normen halten, um in dem in gewisser Weise weitergehenden Prozess um Jesus bestehen zu können.
Die Erzählungen hingegen sehen sich nicht an diese Rechtsstruktur gebunden, sondern teilen die Weite der Auferstehungserfahrung mit. Wie schon am Kreuz - abgesehen von Johannes - nur Frauen gestanden hatten, so war ihnen auch die erste Begegnung mit dem Auferstandenen zugedacht. Die Kirche ist in ihrer rechtlichen Struktur auf Petrus und die Elf gegründet, aber in der konkreten Gestalt des kirchlichen Lebens sind es immer wieder die Frauen, die dem Herrn die Tür öffnen, die bis zum Kreuz mitgehen und so auch den Auferstandenen erfahren dürfen.
13.11.2021
Die Erzähltradition (Teil II)
Ein besonderes Problem stellt der Markus-Schluss dar. Nach den maßgebenden Handschriften endet das Evangelium mit 16,8: „Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatten sie gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich." Der authentische Text des Evangeliums schließt in der uns vorliegenden Form mit der Furcht und den Schrecken der Frauen. Vorher hatte er von der Entdeckung des leeren Grabes durch die zur Salbung gekommenen Frauen berichtet und von der Engelserscheinung, die Ihnen die Auferstehung Jesu verkündigte und sie anwies, den Jüngern, „vor allem Petrus", zu sagen, dass Dieser ihnen der Verheißung gemäß nach Galiläa vorausgehe. Es ist unmöglich, dass das Evangelium mit den daran anschließenden Worten vom Schweigen der Frauen geendet hätte: Es setzt ja die Mitteilung ihrer Begegnung voraus. Und es weiß offensichtlich um die Erscheinung an Petrus und an die Zwölf, von der der wesentlich ältere Bericht des Ersten Korinther-Briefs handelt. Warum unser Text an dieser Stelle abbricht, wissen wir nicht. Man hat im 2. Jahrhundert einen Sammelbericht angefügt, in dem die wichtigsten Auferstehungs-Überlieferungen zusammengetragen sind, zusammen mit der Sendung der Jünger zur Verkündigung an die ganze Welt (16,9 – 20). Wie dem auch sei, auch der kurze Markus-Schluss setzt die Entdeckung des leeren Grabes durch die Frauen voraus, die Botschaft von der Auferstehung, das Wissen um die Erscheinungen an Petrus und die Zwölf. Sein rätselhaftes Abbrechen müssen wir unerklärt lassen.
12.11.2021
Die Erzähltradition (Teil I)
Gehen wir nun - nach dieser Betrachtung des wichtigsten Teils der Bekenntnistradition - zur Erzähltradition über. Während Erstere den gemeinsamen Glauben der Christenheit autoriativ in festen Formeln kondensiert und bis ins Wort hinein Verbindlichkeit für die ganze Gemeinschaft der Glaubenden beansprucht, spiegeln die Erzählungen von den Erscheinungen des Auferstandenen verschiedene Traditionen wieder. Sie sind an verschiedene Traditionsträger gebunden und verteilen sich örtlich auf Jerusalem und Galiläa. Sie sind nicht in der gleichen Weise wie die Bekenntnisse in allen Einzelheiten verbindlicher Maßstab; wohl aber sind sie durch ihre Aufnahme in die Evangelien als gültige Zeugenschaft zu betrachten, die dem Glauben Inhalt und Gestalt gibt. Die Bekenntnisse setzen die Erzählungen voraus und sind aus ihnen hervorgewachsen. Sie konzentrieren den Kern des Erzählten und verweisen zugleich auf die Erzählungen.
Jedem Leser wird sofort die Unterschiedlichkeit der Auferstehungsberichte der vier Evangelien auffallen. Matthäus kennt neben der Erscheinung des Auferstandenen an die Frauen beim leeren Grab nur eine galiläische Erscheinung an die Elf. Lukas kennt nur jerusalemische Überlieferungen. Johannes berichtet von Erscheinungen sowohl in Jerusalem wie in Galiläa. Keiner der Evangelisten schildert die Auferstehung Jesus selbst: Sie ist ein Vorgang im Geheimnis Gottes zwischen Jesus und dem Vater, Der für uns nicht abbildbar ist, Der Sich von Seinem Wesen her Menschlicher Erfahrung entzieht.
11.11.2021
Die Bekenntnistradition (Teil XII)
Die Zeugen
Hatte Vers 4 unseres Bekenntnisses das Faktum der Auferstehung ausgelegt, so beginnt mit Vers 5 die Aufzählung der Zeugen. „Er erschien dem Kephas, dann den Zwölfen", heißt es lapidar. Wenn wir diesen Vers als den letzten der alten Jerusalemer Formel ansehen dürfen, so hat diese Nennung besonderes theologisches Gewicht: Es wird das Fundament des Glaubens Der Kirche selbst aufgezeigt.
Einerseits bleiben „die Zwölf" der eigentliche Grundstein der Kirche, auf den sie immer verwiesen ist. Andererseits wird der besondere Auftrag an Petrus unterstrichen, der ihm zuerst in Caesarea Philippi zuteil geworden war, der im Abendmahlssaal bestätigt wurde (Lk 22,32) und Petrus gleichsam in die eucharistische Struktur der Kirche einführte. Nun, nach der Auferstehung, zeigt Sich der Herr zuerst ihm, vor den Zwölfen, und erneuert damit noch einmal seine einzigartige Sendung.
Wenn Christsein wesentlich Glauben an den Auferstandenen bedeutet, dann ist die besondere Zeugenschaft des Petrus eine Bestätigung des Auftrags, Fels zu sein, auf den die Kirche gebaut ist. Johannes hat in seiner Geschichte von der dreifachen Frage des Auferstandenen an Petrus – „Liebst du Mich?" -und seiner dreifachen Beauftragung zum Weiden der Herde Christi diese bleibende Sendung des Petrus für den Glauben der ganzen Kirche noch einmal deutlich unterstrichen (Joh 21,15-17). So geht der Bericht von der Auferstehung von selbst in Ekklesiologie über: Die Begegnung mit dem auferstandenen Herrn ist Sendung und gibt der werdenden Kirche ihre Form.
10.11.2021
Die Bekenntnistradition (Teil XI)
Der dritte Tag
Der dritte Tag ist kein theologisches Datum, sondern der Tag eines Ereignisses, das für die Jünger zur entscheidenden Wende nach der Katastrophe des Kreuzes geworden ist. Josef Plank hat das so formuliert: „ Das ‚am dritten Tage' ist Datumsangabe in Übereinstimmung mit der urchristlichen Überlieferung in den Evangelien und bezieht sich auf die Entdeckung des leeren Grabes (Paulus und Jesus, S. 156).
Ich würde hinzufügen: Es bezieht sich auf die erste Begegnung mit dem auferstandenen Herrn . Der erste Tag der Woche - der dritte nach dem Freitag - ist schon in frühester Zeit im Neuen Testament als Versammlungs- und Gottesdienstag der christlichen Gemeinde bezeugt (vgl. 1 Kor 16,2; Apg 20,7; Offb 1,10). Bei Ignatius von Antiochien (Ende des ersten, Beginn des zweiten Jahrhunderts) ist uns der Sonntag, wie wir bereits gesehen haben, schon als die neue eigene Art der Christen gegenüber der jüdischen Sabbatkultur bezeugt. „Wenn nun die Komma die in alten Bräuchen wandelten, zu neuer Hoffnung gelangten und nicht mehr den Sabbat halten, sondern nach dem Tag des Herrn leben, an dem auch unser Leben aufging, durch Ihn und Seinen Tod ... (Ad Magn. 9,1).
Wenn man bedenkt, mit welchem Gewicht der Sabbat vom Schöpfungsbericht und vom Dekalog her in der alttestamentlichen Überlieferung steht, dann ist klar, dass nur ein Vorgang von umstürzender Gewalt den Verzicht auf den Sabbat und seine Ablösung durch den ersten Tag der Woche beiführen konnte. Nur ein Ereignis, das sich übermächtig den Seelen einprägte, konnte eine derart ins Zentrum gehende Umgestaltung in der religiösen Kultur der Woche auslösen. Theologische Spekulationen reicht dazu nicht aus. Für mich ist die Feier des Herrentages, Die zur christlichen Gemeinde von Anfang an gehört, einer der stärksten Beweise dafür, dass an jenem Tag Außergewöhnliches geschehen ist - die Entdeckung des leeren Grabes und die Begegnung mit dem auferstandenen Herrn.
09.11.2021
Die Bekenntnistradition (Teil X)
Der dritte Tag
Kehren wir zu unserem Credo zurück. Der nächste Artikel lautet: „Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift“ (1 Kor 15,4). „Gemäß der Schrift“ gilt für den Satz als Ganzen, nur einschlussweise für den dritten Tag. Das Wesentliche besteht darin, dass die Auferstehung selbst schriftgemäß ist - dass sie zum Ganzen der Verheißung gehört, die in Jesus aus Wort zu Wirklichkeit geworden ist. So darf man als Hintergrund gewiss an Ps 16,10 denken, aber natürlich auch an Grundtexte der Verheißung wie Jes 53. Für den dritten Tag gab es kein direktes Schriftzeugnis.
Die These, der dritte Tag sei möglicherweise aus Hos 6,1f „herausgesponnen“, ist - wie etwa Hans Conzelmann oder Martin Hengel und Anna Maria Schwemer gezeigt haben - unhaltbar. Der Text lautet: auf! Lasst uns zu JHWH zurückkehren, denn Er hat uns zerrissen und wird uns auch heilen … Er wird uns beleben nach zwei Tagen, am dritten Tag lässt Er uns auferstehen, dass wir leben vor Ihm. Dieser Text ist ein Bußgebet des sündigen Israel. Von Auferstehung aus dem Tod im eigentlichen Sinn ist nicht die Rede. Der Text wird im Neuen Testament und noch im ganzen zweiten Jahrhundert nicht zitiert (vgl. Hengel/Schwemer, Jesus und das Judentum, S. 631). Ein Vorverweis auf die Auferstehung am dritten Tag konnte er erst werden, als das Ereignis am Sonntag nach der Kreuzigung des Herrn diesem Tag eine besondere Bedeutung gegeben hatte.
08.11.2021
Die Bekenntnistradition (Teil IX)
Die Frage des leeren Grabes
Wenn in dem von Paulus überlieferten Jerusalemer Ur- Credo gesagt wird, dass Jesus auferstanden ist gemäß der Schrift, so ist sicher Psalm 16 als ein für die werdende Kirche entscheidendes Schriftzeugnis im Blick. Hier fand man klar gesagt, dass Christus, der endgültige David, die Verwesung nicht schauen werde - dass Er wahrhaft auferstanden sein musste.
„Die Verwesung nicht schauen“ – das ist geradezu die Definition von Auferstehung. Erst die Verwesung galt als das Endgültigwerden des Todes. Mit der Dekomposition des Leibes, der in seine Elemente zerfällt, was den Menschen auflöst und ihn ins All zurück gibt, hat der Tod gesiegt. Nun gibt es diesen Menschen als Menschen nicht mehr - nur ein Schatten mag in der Unterwelt verbleiben. Von dieser Sicht her war es für die Alte Kirche grundlegend, dass Jesu Leib nicht verwest ist. Nur dann galt, dass Er nicht im Tod geblieben ist, dass in Ihm wirklich das Leben über den Tod gesiegt hat.
Was die Alte Kirche aus der Septuaginta-Fassung von Pa 16,10 gelesen hat, hat auch die Sicht der ganzen Väterzeit bestimmt. Auferstehung schließt wesentlich mit ein, dass der Leib Jesu nicht der Verwesung verfiel. In diesem Sinn ist das leere Grab als Teil der Auferstehungsverkündigung ein streng schriftgemäßes Faktum. Theologische Spekulationen, nach denen Verwesung und Auferstehung Jesu miteinander vereinbar seien, gehören dem modernen Denken zu und stehen im klaren Widerspruch zur biblischen Sicht. Auch von daher bestätigt sich, dass eine Auferstehungsverkündigung unmöglich gewesen wäre, wenn der Leib Jesu im Grab gelegen hätte.
07.11.2021
Die Bekenntnistradition (Teil XII)
Die Frage des leeren Grabes
Petrus setzt David als den ursprünglichen Beter dieses Psalms voraus und kann nun feststellen, dass sich in David diese Hoffnung nicht erfüllt hat: „ Er starb und wurde begraben, und Sein Grabmal ist bei uns erhalten bis auf den heutigen Tag (Apg 2,29). Das Grab mit dem Leichnam ist der Beweis des Nicht auferstanden-seins. Aber das Psalmwort ist doch wahr: es gilt vom definitiven David; ja, Jesus ist hier eben dadurch als der wahre David ausgewiesen, dass sich in Ihm das Verheißungswort erfüllt hat: „Du lässt Deinen Frommen die Verwesung nicht schauen."
Die Frage, ob diese Rede von Petrus stammt oder wer sonst sie redigiert hat und wo sie genau entstanden ist, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Auf jeden Fall handelt es sich um einen alten Typus von auf Auferstehungsverkündigung, dessen hohe Autorität in der Urkirche sich darin zeigt, dass er dem heiligen Petrus selbst zugeschrieben und als die Urverkündigung der Auferstehung angesehen wurde.
06.11.2021
Die Bekenntnistradition (Teil XI)
Die Frage des leeren Grabes
Im Credo des Heiligen Paulus wird das Leersein des Grabes nicht ausdrücklich festgestellt, aber ganz offensichtlich vorausgesetzt Punkt alle vier Evangelien sprechen in ihren Auferstehungserzählungen ausführlich davon.
Für das theologische Verständnis des leeren Grabes scheint mir ein Passus aus der Pfingstpredigt des heiligen Petrus wichtig zu sein, in der dieser der versammelten Menge erstmals offen die Auferstehung Jesu verkündet. Er teilt sie nicht mit eigenen Worten mit, sondern durch die Zitation von von Ps 16,9 - 11, wo es heißt: ... mein Leib wird in sicherer Hoffnung ruhen; denn Du gibst mich nicht der Unterwelt preis, noch lässt Du Deinen Frommen die Verwesung schauen. Du zeigst mir den Weg zum Leben..." (Apg 2,26 ff). Petrus zitiert dabei den Psalmtext nach der Fassung der griechischen Bibel, die sich vom hebräischen Text unterscheidet, indem wir lesen: „Du gibst mich nicht der Unterwelt preis; Du lässt Deinen Frommen das Grab nicht schauen. Du zeigst mir den Weg zum Leben" (Ps 16,10 f). Nach dieser Fassung spricht der Beter in der Gewissheit, dass Gott ihn auch in der Situation der Bedrohung, in der er sich offenkundig befindet, schützen und vor dem Tod bewahren werde; dass er in Sicherheit wohnen dürfe: Er wird das Grab nicht schauen. Anders die von Petrus zitierte Fassung: Hier geht es darum, dass der Beter nicht in der Unterwelt bleiben, dass er die Verwesung nicht schauen wird.
05.11.2021
Die Bekenntnistradition (Teil X)
Die Frage des leeren Grabes
Natürlich kann das leere Grab als solches kein Beweis für die Auferstehung sein. Maria von Magdala fand es gemäß Johannes leer vor und nahm an, irgendjemand müsse den Leichnam Jesu weggenommen haben. Das leere Grab als solches kann die Auferstehung nicht beweisen, das ist wahr. Aber es gibt die umgekehrte Frage: Ist Auferstehung mit dem Verbleiben des Leichnams im Grab vereinbar? Kann Jesus auferstanden sein, wenn Er im Grab liegt? Welche Auferstehung ist das dann? Heute hat man Ideen von Auferstehung erfunden, für die das Schicksal des Leichnams unerheblich ist. Allerdings wird dabei auch der Inhalt von Auferstehung so verschwommen, dass man fragen muss, mit welcher Art von Realität man es in diesem Christentum überhaupt zu tun hat.
Wie dem auch sei: Thomas Söding, Ulrich Wilckens und andere stellen mit Recht fest, dass im Jerusalem von damals die Verkündigung der Auferstehung schlechterdings unmöglich gewesen wäre, wenn man auf den im Grab liegenden Leichnam hätte verweisen können. Insofern muss man von einer richtigen Fragestellung her sagen, dass das leere Grab als solches gewiss die Auferstehung nicht beweisen kann, dass es aber eine notwendige Bedingung für den Auferstehungsglauben ist, der sich ja gerade auf den Leib und durch ihn auf die Person in ihrer Ganzheit bezieht.
04.11.2021
Die Bekenntnistradition (Teil IX)
Die Frage des leeren Grabes
Als Nächstes folgt in dem Glaubensbekenntnis kommentarlos, hart: „und ist begraben worden“. Das wirkliche Totsein, die volle Teilnahme am menschlichen Todesschicksal wird damit ausgesprochen. Jesus hat den Weg des Todes bis zum bitteren und scheinbar aussichtslosen Ende im Grab auf Sich genommen. Man kannte Jesu Grab offensichtlich. Und hier folgt natürlich sofort die Frage: Blieb Er im Grab? Oder war es leer, als Er auferstanden war?
In der modernen Theologie wird diese Frage ausgiebig diskutiert. Sie schließt meist mit der Feststellung, dass das leere Grab kein Beweis für die Auferstehung sein könne. Es könnte sich, wenn es schon gegeben wäre, auch auf andere Weise erklären. Daraus folgert man dann, dass die Frage des leeren Grabes unerheblich sei und dass man diesen Punkt folglich beiseite lassen könne, was dann oft zugleich bedeutet, dass es wohl nicht leer gewesen sein wird und man so zumindest einen Streit mit der modernen Wissenschaft über die Möglichkeit körperlicher Auferstehung vermeiden kann. Aber dem liegt eine verdrehte Fragestellung zugrunde.
03.11.2021
Die Bekenntnistradition (Teil VIII)
Der Tod Jesu
Wie diese Worthaftigkeit äher zu verstehen ist, deutet die andere Zufügung an: es war sterben „für unsere Sünden“. Weil dieser Tod mit dem Wort Gottes zu tun hat, hat er mit uns zu tun, ist er ein Sterben „für“. In dem Kapitel über Jesu Tod am Kreuz haben wir gesehen, welch gewaltiger Überlieferungsstrom von Schriftzeugnissen hier im Hintergrund einfließt, darunter als Gewichtigstes das Vierte Gottesknechtlied (Jes 53). Indem Jesu Tod in diesen Zusammenhang von Wort und Liebe Gottes hineingestellt ist, wird er herausgenommen aus der Linie jenes Todes, der sich von der Ursünde des Menschen her ergeben hatte als Folge Anmaßung, selbst wie Gott sein zu wollen, was mit dem Absturz in die eigene Armseligkeit, mit dem Todesschicksal enden musste.
Jesu Tod ist anderer Art: Er kommt nicht aus der Anmaßung des Menschen, sondern aus der Demut Gottes. Er ist nicht die notwendige Folge einer wahrheitswidrigen Hybris, sondern Vollzug einer Liebe, in der Gott Selber zum Menschen hinunter steigt, um ihn wieder zu Sich hinauf zu ziehen. Der Tod Jesu ist nicht angesiedelt im Richtspruch am Ausgang des Paradieses, sondern in den Gottesknechtsliedern. So ist er Tod im Zusammenhang des Sühnedienstes -Tod, der Versöhnung schafft und Licht wird für die Völker. Damit öffnet die doppelte Auslegung, die dieses von Paulus übermittelte Credo dem Wort „ Er ist gestorben“ beifügt, das Kreuz auf die Auferstehung hin.
02.11.2021
Die Bekenntnistradition (Teil VII)
Der Tod Jesu
Wenden wir uns nun dem eigentlichen Bekenntnis zu, das eine eingehendere Besinnung verlangt. Es beginnt mit dem Satz „Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift.“ Das Faktum des Todes wird durch zwei Zusätze gedeutet. „ Für unsere Sünden“, „gemäß der Schrift“. Beginnen wir mit der zweiten Aussage. Sie ist wichtig für die ganze Art, wie die werdende Kirche mit den Fakten des Lebens Jesu umging. Was der Auferstandene die Jünger von Emmaus gelehrt hatte, wird nun zur grundsätzlichen Methode für das Verstehen der Gestalt Jesu: Alles, was an Ihm geschehen ist, ist Erfüllung der Schrift. Nur von der Schrift, dem Alten Testament, her kann man Ihn überhaupt verstehen. Auf den Tod Jesu am Kreuz bezogen, heißt das: Dieser Tod ist kein Zufall. Er gehört in den Zusammenhang der Geschichte Gottes mit Seinem Volk hinein, er empfängt aus ihr heraus seine Logik und seine Bedeutung. Er ist ein Ereignis, in dem sich Worte der Schrift erfüllen - ein Geschehen, das Logos, Logik in sich trägt, das aus dem Wort hervorkommt und in das Wort eingeht, es deckt und erfüllt.
01.11.2021
Die Bekenntnistradition (Teil VI)
Hören wir nun den Text des Ganzen, so wie er bei Paulus steht:
„Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf. Danach erschien Er mehr als 500 Brüdern zugleich; die meisten von ihnen sind noch am Leben. Danach erschien Er dem Jakobus, dann allen Aposteln. Als Letztem von allen erschien Er auch mir, dem Unerwarteten, der Missgeburt“ (1 Kor 15,3-8).
Nach Ansicht der meisten Ausleger endet das eigentliche Urbekenntnis mit Vers 5, das heißt mit der Erscheinung vor Kephas und den Zwölf. Aus weiteren Überlieferungen hat Paulus den Jakobus, die über 500 Brüder und alle Apostel hinzugenommen, wobei er offensichtlich einen Begriff von Apostel verwendet, der über den Zwölferkreis hinausreicht. Jakobus ist wichtig, weil mit ihm die vorher eindeutig reserviert gebliebene Familie Jesu (vgl. Mk 3,20 f. 31-35; Joh 7,5) in den Kreis der Glaubenden eintritt und weil er derjenige ist, der dann nach der Flucht des Petrus aus Jerusalem die Leitung der Mutterkirche in der Heiligen Stadt übernommen hat.
31.10.2021
Die Bekenntnistradition (Teil V)
Der überlieferte Text ist in der Fassung von 1 Kor durch Paulus erweitert, insofern er unter anderem seine eigene Begegnung mit dem Auferstandenen hinzugefügt hat. Für das Selbstverständnis des heiligen Paulus und für den Glauben der werdenden Kirche erscheint es mir wichtig, dass Paulus sich berechtigt fühlte, die ihm zuteil gewordene Erscheinung des Auferstandenen und die damit verbundene Sendung als Apostel dem ursprünglichen Bekenntnis mit gleicher Verbindlichkeit anzuschließen. Er war offensichtlich überzeugt, dass diese Offenbarung des Auferstandenen an ihn noch in die Bekenntnisbildung hineingehört, dass sie zum Glauben der universalen Kirche als ein für alle bestimmtes wesentliches Element hinzugehört.
30.10.2021
Die Bekenntnistradition (Teil IV)
Das „Evangelium“, von dem Paulus hier spricht, ist, wie er sagt, „der Grund, auf dem ihr steht. Durch dieses Evangelium werdet ihr gerettet, wenn ihr an dem Wortlaut festhaltet, den ich euch verkündet habe (15,1 f). In dieser zentralen Botschaft geht es nicht nur um den Inhalt, sondern auch um den Wortlaut, an dem nicht gerüttelt werden darf. Durch diese Bindung an die Tradition vom Anfang her ist zugleich die universale Verbindlichkeit und die Einheitlichkeit des Glaubens gegeben. „Ob nun ich verkündige oder die anderen: das ist unsere Botschaft, und das ist der Glaube, den ihr angenommen habt“ (15,11). In seinem Kern ist der Glaube bis in den Wortlaut hinein nur einer – er verbindet alle Christen.
An dieser Stelle hat die Forschung weiter nachgefragt, von wem genau und wann Paulus dieses Bekenntnis – ebenso wie die Abendmahlsüberlieferung – empfangen hat. Auf jeden Fall gehört es zu der Erstkatechese, die er als Bekehrter wohl noch in Damaskus erhielt, die aber in ihrem Kern zweifellos von Jerusalem ihren Ausgang nahm und zeitlich demnach in die 30er Jahre zurückreicht, also wirkliches Zeugnis der Ursprünge ist.
29.10.2021
Die Bekenntnistradition (Teil III)
Das weitaus wichtigste unter den Osterbekenntnissen finden wir im 15. Kapitel des ersten Korinther-Briefes. Ähnlich wie beim Abendmahlsbericht (1 Kor 11,23-26) betont Paulus mit großem Nachdruck, dass er hier nicht aus Eigenem spricht: „Vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe“ (15,3). Paulus stellt sich hier bewusst in die Kette von Aufnahme und Weitergabe hinein. Hier, in dem Wesentlichen, an dem alles hängt, ist zuallererst Treue erfordert. Und Paulus, der immer so sehr seine eigene Zeugenschaft des Auferstandenen und sein direkt vom Herrn empfangenes Apostolat betont, besteht hier mit großem Nachdruck auf der wörtlichen Treue in der Weitergabe des Empfangenen, auf der gemeinsamen Überlieferung der Kirche von den Anfängen her.
28.10.2021
Die Bekenntnistradition (Teil II)
Ein Miteinander von zwei Formeln finden wir im 10. Kapitel des Römer-Briefes: „Wenn du mit dem Mund bekennst, ‚Jesus ist der Herr‘ und in deinem Herzen glaubst, dass Gott Ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet“ (v. 9). Das Bekenntnis hat hier -ähnlich wie bei der Erzählung über das Bekenntnis Petri bei Caesarea Philippi (Mt 16,13 ff) – zwei Teile: Es wird ausgesagt, dass Jesus der Herr ist, womit von der alttestamentlichen Bedeutung des Wortes Herr aus Seine Gottheit benannt wird. Dazu tritt dann das Bekenntnis zum grundlegenden geschichtlichen Ereignis: Gott hat Ihn von den Toten erweckt. Hier wird nun auch schon gesagt, welche Bedeutung das Bekenntnis für den Christen hat: Es bewirkt Heil. Es stellt uns in die Wahrheit hinein, die Heil ist. Wir haben hier eine Vorform der Taufbekenntnisse, in denen jeweils das Herr sein Christi mit der Geschichte Seines Lebens, Seines Leidens und Seiner Auferstehung verknüpft ist. In der Taufe übereignet sich der Mensch an die neue Existenz des Auferstandenen. Bekenntnis wird Leben.
27.10.2021
Die zwei verschiedenen Typen des Zeugnisses von der Auferstehung
Wenden wir uns nun den einzelnen Auferstehungszeugnissen des Neuen Testaments zu. Bei ihrer Sichtung wird man zuerst feststellen, dass es zwei verschiedene Typen von Zeugnis gibt, die wir als Bekenntnistradition und als Erzähltradition bezeichnen können.
Die Bekenntnistradition (Teil I)
Die Bekenntnistradition kristallisiert das Wesentliche in kurzen Formeln, die den Kern des Geschehens festhalten wollen. Sie sind Ausdruck der christlichen Identität, eben „Bekenntnis“, an dem man sich gegenseitig erkennt, damit dem man sich vor Gott und den Menschen zu erkennen gibt. Ich möchte drei Beispiele anführen.
Die Geschichte von den Emmaus-Jüngern endet damit, dass die beiden in Jerusalem die elf Jünger versammelt finden und von ihnen mit den Worten begrüßt werden: „Der Herr ist wahrhaft auferstanden und dem Simon erschienen“ (LK 24,34). Das ist hier vom Zusammenhang her zunächst eine Art von kurzer Erzählung, aber schon dazu bestimmt, Zuruf und Bekenntnis zu werden, in dem das Wesentliche ausgesagt ist: das Ereignis selber und der Zeuge Komma der dafür steht.
26.10.2021
Die Auferstehung Jesu aus dem Tod (Teil VIII)
Natürlich kann es keinen Widerspruch geben zu dem, was klare wissenschaftliche Gegebenheit ist. In den Auferstehungszeugnissen wird freilich von etwas gesprochen, was in unserer Erfahrungswelt nicht vorkommt. Es wird von etwas Neuem, bis dahin Einmaligem gesprochen - von einer neuen Dimension der Wirklichkeit, die sich zeigt. Das Bestehende wird nicht bestritten. Es wird uns vielmehr gesagt: Es gibt eine Dimension mehr, als wir sie bisher kennen. Steht das im Widerspruch zur Wissenschaft? Kann es wirklich nur das geben, was es immer gab? Kann es nicht das Unerwartete, das Unvorstellbare, das Neue geben? Wenn es Gott gibt, kann Er dann nicht auch eine neue Dimension des Menschseins, der Wirklichkeit überhaupt schaffen? Wartet nicht eigentlich die Schöpfung auf diesen letzten und höchsten „Mutationssprung“? Auf die Vereinigung des Endlichen mit dem Unendlichen, auf die Vereinigung von Mensch und Gott, auf die Überwindung des Todes?
In der ganzen Geschichte des Lebendigen sind die Ursprünge des Neuen klein, fast unsichtbar - man kann sie übersehen. Dass das „Himmelreich“ in dieser Welt einem Senfkorn gleich ist, dem kleinsten von allen Samenkörnern, hat uns der Herr gesagt (Mt 13,31 f par.). Aber es trägt die unendlichen Potentialitäten Gottes in sich. Die Auferstehung Jesu ist weltgeschichtlich unscheinbar, das kleinste Samenkorn der Geschichte.
Diese Umkehrung der Proportionen gehört zu den Geheimnissen Gottes. Das Große, Mächtige ist letztlich doch das Kleine. Und das kleine Samenkorn ist das wahrhaft Große. So ist die Auferstehung nur in einigen geheimnisvollen Erscheinungen an die Erwählten in die Welt hereingetreten. Und doch war sie der eigentlich neue Anfang – das, worauf im Stillen alles wartete. Und für die wenigen Zeugen war sie - gerade weil sie selber es nicht fassen konnten - ein so umstürzendes und reales Ereignis, so machtvoll auf sie zutretend, dass jeder Zweifel zerrann und sie mit einer ganz neuen Furchtlosigkeit vor die Welt hintraten, um zu bezeugen: Christus ist wahrhaft auferstanden.
25.10.2021
Die Auferstehung Jesu aus dem Tod (Teil VII)
Das Paradox war unbeschreibbar: dass Er ganz anders war, keine wiederbelebte Leiche, sondern ein von Gott her neu und für immer Lebender.
Und dass Er doch gerade so, obwohl nicht mehr unserer Welt zugehörend, zugleich real da war, ganz Er Selbst. Es ging um eine ganz einzigartige Erfahrung, die die die gewöhnlichen Erfahrungsräume sprengte und für die Jünger doch ganz unbestreitbar war. Von daher erklärt sich die Eigenart der Auferstehungszeugnisse: Sie sprechen von etwas Paradoxem, von etwas, das alle Erfahrung überschreitet und dennoch ganz real da ist.
Aber kann es wirklich so gewesen sein? Können wir - zumal als moderne Menschen - solchen Zeugnissen Glauben schenken? Das aufgeklärte Denken sagt Nein. Für Gerd Lüdemann zum Beispiel scheint es evident, dass infolge der „Umwälzung des naturwissenschaftlichen Weltbildes… die traditionellen Vorstellungen von der Auferstehung Jesu als erledigt zu betrachten“ seien (zit. nach Wilckens I/2, S. 119 f). Aber was ist nun genau das „naturwissenschaftliche Weltbild“? Wie weit reicht seine Normativität? Hartmut Gese hat in seinem wichtigen Beitrag „Die Frage des Weltbildes“, auf den ich hier verweisen möchte, die Grenzen dieser Normativität sorgsam beschrieben.
24.10.2021
Die Auferstehung Jesu aus dem Tod (Teil VI)
Der Prozess des Gläubigwerdens vollzieht sich analog zum Fall des Kreuzes. An einen gekreuzigten Messias hatte niemand gedacht. Nun war das Faktum da, und es war vom Faktum her die Schrift neu zu lesen. Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, wie von dem Unerwarteten her die Schrift sich neu öffnete und so auch das Faktum Sinn gewann. Die neue Lektüre der Schrift konnte freilich erst nach der Auferstehung beginnen, weil erst durch sie Jesus als der Gesandte Gottes beglaubigt war. Nun musste man beides, Kreuz und Auferstehung, in der Schrift suchen, sie neu verstehen und dadurch zum Glauben an Jesus als Sohn Gottes gelangen. Dies wiederum setzt voraus, dass die Auferstehung für die Jünger so real war wie das Kreuz. Es setzt voraus, dass sie einfach von der Wirklichkeit überwältigt wurden; dass sie nach allem anfänglichen Zögern und Verwundern sich der Realität nicht mehr widersetzen konnten: Er ist es wirklich. Er lebt, und Er hat zu uns gesprochen, sich uns zu berühren gegeben, auch wenn Er nicht mehr der Welt des normalerweise Berührbaren zugehört.
23.10.2021
Die Auferstehung Jesu aus dem Tod (Teil V)
Von da aus versteht sich die Eigenart dieses Zeugnisses im Neuen Testament. Jesus ist nicht in ein normales Menschenleben dieser Welt zurückgekehrt wie Lazarus und die anderen von Jesus auferweckten Toten. Er ist in ein anderes, neues Leben hinausgetreten – in die Weite Gottes, und von da aus zeigt Er Sich den Seinigen.
Dies war auch für die Jünger etwas völlig Unerwartetes, mit dem sie sich erst langsam zurechtfinden mussten. Der jüdische Glaube kannte zwar die Auferstehung der Toten am Ende der Zeiten. Das neue Leben war mit dem Anbruch einer neuen Welt verbunden und so auch durchaus verstehbar: Wenn es eine neue Welt gibt, dann gibt es dort auch eine neue Weise des Lebens. Aber eine Auferstehung ins Endgültige und Andere hinein mitten in der weitergehenden alten Welt war nicht vorgesehen und daher zunächst auch nicht verstehbar. Deshalb war den Jüngern die Auferstehungsverheißung zunächst unbegreiflich geblieben.
22.10.2021
Die Auferstehung Jesu aus dem Tod (Teil IV)
Die neutestamentlichen Zeugnisse lassen keinen Zweifel daran, dass mit der „Auferstehung des Menschensohns“ etwas ganz anderes sich ereignet hatte. Jesu Auferstehung war der Ausbruch in eine ganz neue Art des Lebens, in ein Leben, das nicht mehr dem Gesetz des Stirb und Werde unterworfen ist, sondern jenseits davon steht - ein Leben, das eine neue Dimension des Menschseins eröffnet hat. Deshalb ist die Auferstehung Jesu nicht ein Einzelereignis, das wir auf sich beruhen lassen könnten und das nur der Vergangenheit zugehörte, sondern ein Mutationssprung (um dieses gewiss missverständliche Wort als Analogie zu benutzen). In Jesu Auferstehung ist eine neue Möglichkeit des Menschseins erreicht, die alle angeht und Zukunft, eine neue Art von Zukunft, für die Menschen eröffnet.
So hat Paulus vollkommen zu Recht die Auferstehung der Christen und die Auferstehung Jesu unlöslich miteinander verknüpft: „Wenn Tote nicht auferweckt werden, ist auch Christus nicht auferweckt worden … Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt worden als der Erste der Entschlafenen" (1 Kor 15,16.20). Die Auferstehung Christi ist entweder ein universales Ereignis, oder sie ist es nicht, so sagt uns Paulus. Und nur wenn wir sie als universales Ereignis, als die Eröffnung einer neuen Dimension menschlicher Existenz verstehen, sind wir auf dem Weg, überhaupt das Auferstehungszeugnis des Neuen Testaments richtig aufzufassen.
21.10.2021
Die Auferstehung Jesu aus dem Tod (Teil III)
Wer an die Auferstehungsberichte mit der Meinung herantritt, er wisse, was Auferstehung von den Toten ist, der kann die Berichte nur falsch verstehen und muss sie dann als unsinnig beiseite legen. Rudolf Bultmann hat gegen den Auferstehungsglauben eingewandt, selbst wenn Jesus aus dem Grab gekommen wäre, so müsse man doch sagen, „dass ein solches mirakulöses Naturereignis wie die Lebendigmachung eines Toten“ uns nichts helfe und existenziell belanglos sei (vgl.Neues Testament und Mythologie, S. 19).
Nun, in der Tat: Wenn es sich bei der Auferstehung Jesu nur um das Mirakel einer wiederbelebten Leiche handeln würde, ginge sie uns letztendlich nichts an. Dann wäre sie nicht wichtiger als die Wiederbelebung klinisch Toter durch die Kunst der Ärzte es ist. An der Welt als solcher und an unserer Existenz hätte sich nichts geändert. Das Mirakel einer wiederbelebten Leiche würde besagen, dass Jesu Auferstehung dasselbe war wie die Erweckung des Jünglings von Nain (Luk 7,11 – 17), der Tochter des Jairus(Mk 5,22ff.35 -43 par.) oder des Lazarus (Johannes 11,1 – 44). Nach einer mehr oder weniger kurzen Frist kehrten diese in ihr bisheriges Leben zurück, um dann irgendwann später endgültig zu sterben.
20.10.2021
Die Auferstehung Jesu aus dem Tod (Teil II)
Insofern ist bei unserer Suche nach der Gestalt Jesu die Auferstehung der entscheidende Punkt. Ob Jesus nur war oder ob er auch ist -das hängt an der Auferstehung. Im Ja oder Nein dazu geht es nicht um ein einzelnes Ereignis neben anderen, sondern um die Gestalt Jesu als solche.
Deswegen ist es notwendig, beim Auferstehungszeugnis des Neuen Testaments besonders sorgsam zuzuhören. Da müssen wir freilich als erstes feststellen, dass dieses Zeugnis, historisch betrachtet, uns in besonders komplexer Form entgegentritt und viele Fragen aufwirft. Was ist da geschehen? Das war offenbar für die Zeugen, die dem Auferstandenen begegnet waren, nicht einfach zu sagen. Sie waren mit einer für sie selbst ganz neuen Realität konfrontiert, die ihren Erfahrungshorizont sprengte. So sehr die Realität des Geschehenen sie überwältigte und zum Zeugnis nötigte, so andersartig war sie zugleich. Der heilige Markus erzählt uns, dass die Jünger beim Abstieg vom Berg der Verklärung mit dem Wort Jesu beschäftigt waren, der Menschensohn werde „von den Toten auferstehen“. Und sie fragten einander, was das sei: „von den Toten auferstehen“ (9,9f).In der Tat: Was ist das eigentlich? Die Jünger wussten es nicht und mussten das erst aus der Begegnung mit der Realität erlernen.
19.10.2021
Die Auferstehung Jesu aus dem Tod (Teil I)
Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos. Wir werden dann auch als falsche Zeugen Gottes entlarvt, weil wir im Widerspruch zu Gott das Zeugnis abgelegt haben: „Er hat Christus auferweckt“ (1 Kor 15,14 f).Mit diesen Worten stellte der heilige Paulus ganz drastisch heraus, welche Bedeutung der Glaube an die Auferstehung Jesu Christi für die christliche Botschaft als ganze hat: Er ist ihre Grundlage. Der christliche glaube steht und fällt mit der Wahrheit des Zeugnisses, dass Christus von den Toten auferstanden ist.
Wenn man dies wegnimmt, dann kann man aus der christlichen Überlieferung zwar immer noch eine Reihe bedenkenswerter Vorstellungen über Gott und den Menschen, über dessen Sein und Sollen zusammenfügen - eine Art von religiöser Weltanschauung -, aber der christliche Glaube ist tot. Dann war Jesus eine religiöse Persönlichkeit, die gescheitert ist; die auch in ihrem Scheitern groß bleibt, uns zum Nachdenken zwingen kann. Aber Er bleibt dann im rein menschlichen, und Seine Autorität reicht soweit, wie uns Seine Botschaft einsichtig ist. Er ist kein Maßstab mehr; der Maßstab ist dann nur noch unser eigenes Urteil, das von Seinem Erbe auswählt, was uns hilfreich erscheint. Und das bedeutet: Dann sind wir allein gelassen. Unser eigenes Urteil ist die letzte Instanz.
Nur wenn Jesus auferstanden ist, ist wirklich Neues geschehen, das die Welt und die Situation des Menschen verändert. Dann wird Er der Maßstab, auf den wir uns verlassen können. Denn dann hat Gott Sich wirklich gezeigt.
18.10.2021
Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil (Teil XIV)
Im Leben und Leiden des Evangeliums hat die Kirche unter der Führung der apostolischen Botschaft immer mehr das Geheimnis des Kreuzes zu verstehen gelernt, auch wenn es sich letztlich nicht in Formeln unseres Verstands zerlegen lässt: Das Dunkel, die Unlogik der Sünde und die für unsere Augen übergroße Heiligkeit Gottes treffen sich im Kreuz, und das übersteigt unsere Logik. Und doch ist in der Botschaft des Neuen Testaments und in seiner Verifizierung im Leben der Heiligen das große Geheimnis ganz Licht geworden.
Das Geheimnis der Sühne darf keinem besserwisserischen Rationalismus geopfert werden. Was der Herr im Anschluss an die Bitte der Zebedäus-Söhne um Thronsitze zu Seiner Seite geantwortet hat, bleibt ein Schlüsselwort des christlichen Glaubens überhaupt: „Der Menschensohn ist nicht gekommen,um bedient zu werden, sondern um zu dienen und Sein Leben als Lösegeld für viele zu geben“ (Mk 10,45)
17.10.2021
Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil (Teil XIII)
Im Bericht über das Martyrium des heiligen Polykarp wird erzählt, dass die Flammen, in denen er verbrannt werden sollte, sich zur Gestalt eines vom Wind geschwelten Segels formten; es„umwalte so den Leib des Märtyrers; dieser aber stand in der Mitte nicht wie bratendes Fleisch, sondern wie Brot, das gebacken wird und verbreitete einen Wohlgeruch wie von duftendem Weihrauch“ (MartPolyc.15). Ähnlich haben die Christen von Rom auch das Martyrium des heiligen Laurentius ausgelegt, der auf dem Rost verbrannt wurde: Sie sahen daran darin nicht nur seine vollkommene Einigung mit dem Geheimnis Christi, Der im Martyrium zu Brot für uns wurde, sondern auch ein Bild der christlichen Existenz überhaupt: In den Drangsalen des Lebens werden wir langsam reingebrannt, können gleichsam zu Brot werden, insofern sich in unserem Leben und Leiden das Geheimnis Christi mitteilt und Seine Liebe uns selber zur Gabe an Gott und die Menschen werden lässt.
16.10.2021
Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil (Teil XII)
Von diesen Betrachtungen her öffnet sich schließlich noch der Blick auf eine weitere Dimension des christlichen Kult- und Opfergedankens. Sie wird deutlich sichtbar in dem folgenden Vers des Philipper-Briefs, in dem Paulus auf sein Martyrium vorausblickt und es zugleich theologisch auslegt: „Wenn ich auch als Opfergabe und bei der Liturgie eures Glaubensausgegossen werde, so freue ich mich dennoch und freue mich mit euch allen“ (2,17; vgl. 2 Tim 4,6). P aulus sieht sein erwartetes Martyrium als Liturgie und als Opfergeschehen an. Auch dies wiederum ist nicht einfach Allegorie und uneigentliche Redeweise. Nein, im Martyrium wird er voll hineingezogen in den Gehorsam Christi, in die Liturgie des Kreuzes und so in den wahren Gottesdienst.
Von diesem Verständnis hat die Alte Kirche das Martyrium in seiner wahren Tiefe und Größe begreifen können. So hat der Überlieferung nach Ignatius von Antiochien sich selbst als Weizen Christi bezeichnet, der im Martyrium gemahlen wird, um zu Brot Christi werden zu können (vgl. Ign. Rom. 4.1).
15.10.2021
Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil (Teil XI)
In neuerer Zeit ist diese Art der Rede über Priestertum und Opfer als bloß allegorisch bezeichnet worden.Von Priestertum und Opfer sei nur in einem uneigentlichen, bloß geistigen, nicht in einem kultischen, wirklichen Sinn die Rede. Paulus selbst und die ganze alte Kirche haben dies genau umgekehrt gesehen. Für sie galt, dass die dinglichen Opfer nur Opfer und Kult im uneigentlichen Sinn waren - versuchterAusgriff auf etwas, das sie doch nicht zu verwirklichen vermochten. Der wirkliche Kult ist der lebendige Mensch, der ganz Antwort auf Gott geworden ist, geformt von Seinem heilenden und verwandelnden Wort. Und das wirkliche Priestertum ist daher jener Dienst des Wortes und des Sakramentes, der die Menschen in Gabe an Gott verwandelt, den Kosmos Lobpreis des Schöpfers und Erlösers werden lässt. Deswegen ist Christus, Der im Kreuz Sich Selber gibt, der wahre Hohepriester, auf Den das aaronitische Priestertum zeichenhaft hindeutete. Darum ist die Gabe Seiner Selbst - Sein Gehorsam, der uns alle aufnimmt und zu Gott zurück trägt - der wahre Kult, das wahre Opfer.
Insofern muss im Mittelpunkt des apostolischen Dienstes und der zum Glauben führenden Evangeliumsverkündigung das Hineintreten in das Geheimnis des Kreuzes stehen. Wenn wir demgemäß in der Feier der Eucharistie, in der je neuen Teilhabe am priesterlichen Geheimnis Jesu Christi die Mitte des christlichen Kults sehen dürfen, so bleibt doch immer seine ganze Erstreckung festzuhalten: Immer geht es darum, jeden einzelnen und die Welt so in Christi Liebe hineinzuziehen, dass alle mit Ihm zusammen „Opfergabe werden, die Gott wohlgefällt im Heiligen Geist“ (Röm 15,16).
14.10.2021
Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil (Teil X)
Wenn wir einerseits sagen müssen, dass Paulus mit einer solchen Aufforderung keinem Moralismus verfällt und seine Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben - nicht durch die Werke - keinesfalls zurücknimmt, so wird andererseits doch sichtbar, dass der Mensch mit dieser Rechtfertigungslehre nicht zur Passivität verurteilt ist - nicht zu einem bloß passiven Empfänger der Gerechtigkeit Gottes wird, die ihm eigentlich immer äußerlich bliebe. Nein, die Größe der Liebe Christi zeigt sich eben darin, dass Er uns in all unserer Armseligkeit in Sich, in Sein lebendiges und heiliges Opfer aufnimmt, so dass wir wirklich „Sein Leib“ werden.
Im 15. Kapitel des Römer-Briefs nimmt Paulus den gleichen Gedanken noch einmal sehr nachdrücklich auf, indem er seinem Apostolat als Priestertum deutet und die gläubig gewordenen Heiden als die lebendige Opfergabe bezeichnet, die Gott gefällt: „Ich habe euch geschrieben Kraft der Gnade, die mir von Gott gegeben ist, damit ich als Diener Jesu Christi für die Heiden wirke und das Evangelium Gottes wie ein Priester verwalte; denn die Heiden sollen eine Opfergabe werden, die Gott gefällt, geheiligt im Heiligen Geist (v. 15 f).
13.10.2021
Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil (Teil IX)
Aus all dem bisher Bedachten ist schon sichtbar geworden, dass dabei nicht nur eine theologische Deutung des Kreuzes sowie - vom Kreuz her - der christlichen Grundsakramente, des christlichen Kultus erarbeitet wurde, sondern dass immer auch die existenzielle Dimension berührt ist: Was heißt das für mich? Was bedeutet es für meinen Weg als Mensch? Denn der leibhaftige Gehorsam Christi ist hier als offener Raum dargestellt, in den wir mit hinein genommen werden und durch den unser eigenes Leben einen neuen Zusammenhang findet. Das Mysterium des Kreuzes steht nicht einfach uns gegenüber, sondern bezieht uns mit ein und gibt unserem eigenen Leben einen neuen Rang. Diese existenzielle Seite des neuen Begriffs von Kult und Opfer erscheint besonders deutlich im 12. Kapitel des Römer- Briefs: „ Angesichts des Erbarmens Gottes ermahne ich euch, meine Brüder, eure Leiber als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott wohlgefällt, als eure Anbetung im Geist (wörtlich: als worthaften Gottesdienst)“ (v. 1). Der Begriff der Gottesverehrung im Wort (logikēlatreira) ist hier aufgenommen und meint die Hingabe der ganzen Existenz an Gott, in der sozusagen der ganze Mensch worthaft, gottgemäß wird. Dabei ist die Dimension der Leiblichkeit betont: Gerade unsere leibliche Existenz soll vom Wort durchdrungen und Gabe an Gott werden. Paulus, der so sehr die Unmöglichkeit der Rechtfertigung aus eigenerMoralität betont, setzt dabei zweifellos voraus, dass dieser neue Gottesdienst der Christen, indem sie selbst das lebendige und heilige Opfer sind, nur in der Beteiligung an der leibhaftigen Liebe Jesu Christi möglich ist, die all unser Ungenügenüberwindet durch die Macht Seiner Heiligkeit.
12.10.2021
Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil (Teil VIII)
Noch einmal anders gesagt: Unsere eigene Moralität reicht nicht aus, um Gott recht zu verehren. Das hat der heilige Paulus im Streit um die Rechtfertigung mit großem Nachdruck herausgestellt. Aber der Sohn, der Fleischgewordene, trägt uns alle in sich und schenkt so, was wir selbst nicht geben könnten. Deshalb gehört zur christlichen Existenz sowohl das Sakrament der Taufe als Hineinnahme in den Gehorsam Christi wie auch die Eucharistie, in der der Kreuzesgehorsam des Herrn uns alle umgreift, reinigt und in die vollkommene Anbetung Jesu Christi hineinzieht.
Was die werdende Kirche hier in der betenden Aneignung des alten Testaments und des Weges Jesu über Inkarnation und Kreuz sagt, steht mitten in dem dramatischen Ringen jener Periode um das rechte Verstehen des Verhältnisses von Mensch und Gott. Es gibt nicht zur Antwort auf das Warum des Kreuzes, sondern antwortet sogleich auf die in der jüdischen wie in der heidnischen Welt bedrängenden Fragen, wie der Menschenrecht werden könne vor Gott und wie er umgekehrt Gott, den Geheimen und Verborgenen, recht verstehen können, soweit diese überhaupt den Menschen geschenkt ist.
11.10.2021
Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil (Teil VII)
In der Fassung, die das Wort aus Psalm 40 im Hebräer-Brief gefunden hat, ist die Antwort auf diese Sehnsucht enthalten - die Sehnsucht, dass Gott gegeben werde, was wir Ihm nicht geben können, und dass es doch unsere Gabe sei, findet Erfüllung. Der Psalmist hatte gebetet: „Brand- und Sündopfer forderst Du nicht. Doch das Gehör hast Du mir eingepflanzt“.Der wahre Logos, der Sohn, sagt zum Vater: „Schlacht- und Speiseopfer hast Du nicht gewollt, doch einen Leib hast Du Mir bereitet“. Der Logos Selbst, der Sohn, wird Fleisch; Er nimmt einen menschlichen Leib an. So ist ein neuer Gehorsam möglich, ein Gehorsam, der über alle menschliche Erfüllung der Gebote hinausreicht. Der Sohn wird Mensch und trägt in Seinem Leib das ganze Menschsein zu Gott zurück. Erst das fleischgewordene Wort, Dessen Liebe sich am Kreuz vollendet, ist der vollkommene Gehorsam. In Ihm ist nicht nur die Kritik der Tempelopfer endgültig geworden, sondern auch die verbliebene Sehnsucht erfüllt: Sein leibhaftiger Gehorsam ist das neue Opfer, in das Er uns alle mit hineinzieht und in dem zugleich all unser Ungehorsam aufgehoben ist durch Seine Liebe.
10.10.2021
Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil (Teil VI)
Im Alten Testament finden wir von den frühen Samuel-Büchern bis in die späte Prophetie Daniels hinein auf immer neue Weise das Ringen mit diesem Gedanken, der sich mit der Liebe zu Gottes weisendem Wort, zur Tora, immer enger verbindet. Gott wird recht verehrt, wenn wir im Gehorsam zu Seinem Wort leben und so von Seinem Willen durchformt, gottgemäß werden.
Aber andererseits bleibt doch auch immer ein Gefühl des Ungenügens da. Unser Gehorsam ist immer wieder löchrig. Der eigene Wille drängt sich immer wieder vor. Das tiefe Empfinden der Unzulänglichkeit allen menschlichen Gehorsams gegen Gottes Wort lässt doch immer wieder neu die Sehnsucht nach Sühne aufbrechen, die jedoch von uns selbst und von unserer eigenen „Gehorsamsleistung“ her nicht zustande kommen kann. Deshalb bricht dann auch immer wieder mitten in der Rede vom Ungenügen der Schlacht- und Speiseopfer die Sehnsucht danach auf, dass sie in vollkommener Weise zurückkehren könnten (z.B. Ps 51,19 ff).
09.10.2021
Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil (Teil V)
Aus dem großen Reichtum des Hebräer-Briefs möchte ich hier nur einen grundlegenden Text zu Bedenken geben. Der Verfasser bezeichnet den Kult des alten Testaments als „Schatten“ (10,1) und erklärt dies so: „Unmöglich ist es, dass das Blut von Stieren und Böcken Sünde hinwegnimmt (10,4). Er zitiert dann Ps 40,7 ff und deutet diese Psalmworte als Dialog des Sohnes mit dem Vater, in Dem sich die Inkarnation vollzieht und zugleich die neue Gottesverehrung Wirklichkeit wird: „Schlacht- und Speiseopfer hast Du nicht gefordert, doch einen Leib hast Du Mir bereitet; an Brand- und Sündopfer hast Du kein Gefallen.Da sagte Ich: Ja, Ich komme - so steht es über Mich in der Schriftrolle - um Deinen Willen, Gott, zu tun (Hebräer 10,5 ff;. Ps 40,7 ff).
In diesem kleinen Psalmzitat gibt es gegenüber dem Originaltext eine wichtige Änderung, die den Endpunkt einer dreistufigen Entwicklung in der Kulttheologie darstellt. Während der Hebräer-Brief liest: „Einen Leib hast Du Mir bereitet“, hatte der Psalmist gesagt: „Doch das Gehör hast Du Mir eingepflanzt“.Schon hier war der Gehorsam an die Stelle der Tempelopfer getreten: Das Leben aus dem und in dem Wort Gottes war als die wahre Weise der Gottesverehrung erkannt worden. Darin berührte sich der Psalm mit einer Strömung des griechischen Geistes in der letzten Periode vor Christi Geburt: Auch in der griechischen Welt wurde immer drängender das Ungenügende der Tieropfer empfunden, derer Gott nicht Bedarf und in denen der Mensch Gott nicht gibt, was dieser vom Menschen erwarten dürfte. So wurde hier der Gedanke des „worthaften Opfers formuliert: Das Gebet, das Sich-Öffnen das menschlichen Geistes zu Gott ist der wirkliche Kult. Je mehr der Mensch Wort -oder besser: mit seiner ganzen Existenz Ant-Wort auf Gott -wird, desto mehr vollzieht er den rechten Kult.
08.10.2021
Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil (Teil IV)
Wenn wir versuchen, dieser Einsicht nachzugehen, finden wir auch die Antwort auf einen Einwand, der sich immer wieder gegen den Sühnegedanken erhebt. Immer wieder wird gesagt: ist es nicht ein grausamer Gott, Der unendliche Sühne verlangt? Ist dies nicht eine Gottes unwürdige Vorstellung? Müssen wir nicht um der Reinheit des Gottesbildes Willen auf den Sühnegedanken verzichten? In der Rede von Jesus als „Hilasterion“ wird sichtbar, dass die reale Vergebung, die vom Kreuz her geschieht, sich genau umgekehrt vollzieht. Die Realität des Bösen, des Unrechts, das die Welt entstellt und zugleich das Bild Gottes verschmutzt - diese Realität ist da, durch unsere Schuld. Sie kann nicht einfach ignoriert, sie muss aufgearbeitet werden. Nun wird aber nicht etwa durch einen grausamen Gott Unendliches verlangt. Es ist genau umgekehrt: Gott Selbst richtet Sich als Ort der Versöhnung auf und nimmt das Leid in Seinem Sohn auf Sich. Gott Selbst schenkt Seine unendliche Reinheit in die Welt hinein. Gott Selbst „trinkt den Kelch“ alles Schrecklichen aus und stellt so das Recht wieder her durch die Größe Seiner Liebe, die im Leid das Dunkle verwandelt. In der Sache haben das Johannes-Evangelium (besonders mit der Theologie des Hohepriesterlichen Gebets) und der Hebräer-Brief (mit seiner ganzen kreuzestheologischen Interpretation der Kult-Tora) genau diese Gedanken entfaltet und so zugleich sichtbar gemacht, wie sich im Kreuz der innere Sinn des alten Testaments erfüllt – nicht nur die Kultkritik der Propheten, sondern auch positiv das, was im Kult immer gemeint und gewollt war.
07.10.2021
Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil (Teil III)
Mehrfach sind wir schon zu sprechen gekommen auf den grundlegenden Text in Röm 3,25, indem Paulus offensichtlich eine Überlieferung der frühesten judenchristlichen Gemeinde von Jerusalem aufgreift und den gekreuzigten Jesus als „Hilasterion“ bezeichnet. Damit ist, wie wir sagen, der Deckel der Bundeslade gemeint, auf den am großen Versöhnungstag beim Versöhnungsopfer das Sühneblut gesprengt wurde. Sagen wir gleich, wie die Christen diesen archaischen Ritus nun verstanden: Nicht die Berührung von Tierblut mit einem heiligen Gerät versöhnt Gott und Mensch. In der Passion Jesu berührt der ganze Schmutz der Welt den unendlich Reinen, die Seele Jesu Christi und damit den Sohn Gottes Selbst. Wenn sonst das Unreine durch Berührung das Reine ansteckt und verunreinigt, so ist es hier umgekehrt: Wo die Welt mit all ihrem Unrecht und ihren Grausamkeiten, die sie verunreinigen, in Berührung tritt mit dem unendlich Reinen - da ist Er, der Reine, zugleich der Stärkere. In dieser Berührung wird wirklich der Schmutz der Welt aufgesogen, aufgehoben, umgewandelt im Schmerz der unendlichen Liebe. Weil im Menschen Jesus das unendlich Gute da ist, ist in der Weltgeschichte nun die Gegenkraft zu allem Bösen gegenwärtig und wirksam, ist immer das Gute unendlich größer als die ganze noch so schreckliche Masse des Bösen.
06.10.2021
Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil (Teil II)
So konnte Paulus das Ereignis Jesu Christi, Seine neue Botschaft in den Worten zusammenfassen: „Gott hat in Christus den Kosmos mit Sich versöhnt, indem Er den Menschen nicht mehr ihre Schuld zurechnete und uns das Wort der Versöhnung gewährt hat. An Christi statt sprechen wir als Seine Botschafter, und Gott ist es, Der durch uns mahnt. An Christi statt bitten wir: Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (2 Kor 5,19). Vor allem aus den Paulus-Briefen wissen wir um die scharfen Gegensätze, die es in der werdenden Kirche über die Frage der Weitergeltung des mosaischen Gesetzes auch für Christen gegeben hat. Umso verwunderlicher ist es, dass - wie gesagt - über eines von Anfang an Einigkeit bestand: Die Tempelopfer - die kultische Mitte der Tora – hatten ausgedient. Christus war an ihre Stelle getreten. Der Tempel blieb ein ehrwürdiger Ort des Gebets und der Verkündigung. Seine Opfer jedoch galten für die Christen nicht mehr.
Aber wie sollte man das genauer verstehen? In der neutestamentlichen Literatur gibt es verschiedene Anläufe, um das Kreuz Christi als den neuen Kult, die wahre Sühne und die wahre Reinigung der verschmutzten Welt auszulegen.
05.10.2021
Jesu Tod als Versöhnung (Sühne) und Heil (Teil I)
In einem letzten Abschnitt möchte ich versuchen, wenigstens in großen Linien zu zeigen, wie die werdende Kirche unter der Führung des Heiligen Geistes langsam in die tiefere Wahrheit des Kreuzes hinein gewandert ist, um sein Warum und sein Wozu zumindest von Ferne zu begreifen. Erstaunlicherweise war eines von Anfang an klar: Mit dem Kreuz Christi waren die alten Tempelopfer endgültig überholt. Neues war geschehen.
Die Erwartung der prophetischen Kritik, die sich besonders auch in den Psalmen ausgedrückt hatte, war erfüllt: Gott wollte nicht durch die Opfer von Stieren und Böcken verherrlicht werden, deren Blut den Menschen nicht reinigen und nicht entsühnen kann. Der erwartete und doch bisher noch nicht definierte neue Kult war Wirklichkeit geworden.Im Kreuz Jesu war das geschehen, was in den Tieropfern vergeblich versucht worden war: Die Welt war entsühnt.Das „Lamm Gottes“ hatte die Sünde der Welt auf Sich genommen und weggetragen. Das durch die Schuld der Menschen gestörte Verhältnis Gottes zur Welt war erneuert. Versöhnung war geschehen.
04.10.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Das Begräbnis Jesu (Teil IV)
Die synoptischen Evangelien erzählen uns, dass einige Frauen dem Begräbnis zusahen (Mt 27,61; Mk 15,47), und Lukas berichtet, es seien diejenigen gewesen,„die mit Jesus aus Galiläa gekommen waren“ (23,55).Er fügt hinzu: „ Dann kehrten sie heim und bereiteten wohlriechende Öle und Salben zu. Am Sabbat aber hielten sie die vom Gesetz vorgeschriebene Ruhe ein“ (23,56). Sie werden nach der Sabbatruhe am Morgen des ersten Tags der Woche komme, um den Leichnam Jesu zu salben und so die endgültige Bestattung vorzunehmen. Salbung ist ein Versuch, den Tod aufzuhalten, den Leichnam der Verwesung zu entreißen. Und doch ist es ein vergebliches Bemühen: Die Salbung kann nur den Toten als Toten festhalten, nicht ihm Leben geben.
Am Morgen des ersten Tags werden die Frauen sehen, dass ihre Sorge um den Toten und Seine Bewahrung allzu menschliche Sorge war Sie werden sehen, dass Jesus nicht im Tod festgehalten werden soll, sondern neu – und nun erst wirklich -lebt. Sie werden sehen, dass Gott Ihn auf eine endgültige, nur Ihm mögliche Weise der Verwesung und damit der Macht des Todes entrissenhat. In der Sorge und Liebe der Frauen kündigt sich dennoch schon der Ostermorgen, die Auferstehung an.
03.10.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Das Begräbnis Jesu (Teil IV)
Schließlich erzählt uns Johannes, dass Nikodemus eine Mischung aus Myrrhe und Aloë brachte, „etwa hundert Pfund“.Er fährt fort: „Sie nahmen den Leichnam Jesu und umwickelten ihn mit Leinenbinden, zusammen mit den wohlriechenden Salben, wie es beim jüdischen Begräbnissitte ist (Joh 19,39f).Die Menge des Balsams ist außerordentlich und überschreitet jedes gewöhnliche Maß: Es ist ein königliches Begräbnis. War uns in der Verlosung der Gewänder Jesus als Hohepriester begegnet, so kann Er nun von der Art des Begräbnisses her als König dastehen: In den Augenblicken, in denen alles zu Ende scheint, tritt doch geheimnisvoll Seine Herrlichkeit hervor.
02.10.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Das Begräbnis Jesu (Teil III)
Über das Begräbnis selbst übermitteln uns die Evangelisten eine Reihe wichtiger Informationen. Zunächst wird betont, dass Josef den Leichnam des Herrn in ein ihm gehörendes neues Grab legen lässt, in dem noch niemand bestattet worden war (Mt 27, 60; Lk 23,53; Joh19,41). Darin drückt sich Ehrfurcht vor diesem Toten aus. So wie Er am „Palmsonntag“ einen Esel benutzt hat, auf dem noch niemand geritten ist (Mk 11,2), so wird Er jetzt auch in ein neues Grab gelegt. Weiterhin ist die Nachricht wichtig, dass Josef ein Linnen kaufte, in das er den verstorbenen hüllte. Während die Synoptiker in der Einzahl einfach von einem Linnentuch sprechen, gebraucht Johannes die Mehrzahl „Leinenbinden“ (19,40) gemäß jüdischer Begräbnissitte - der Auferstehungsbericht kommt darauf noch einmal genauer zu sprechen. Die Frage der Übereinstimmung mit dem Turiner Grabtuch Jesu braucht uns hier nicht zu beschäftigen; in jedem Fall aber ist die Gestalt dieser Reliquie mit beiden Berichten grundsätzlich vereinbar.
01.10.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Das Begräbnis Jesu(Teil II)
Solche Menschen hatten wir in den Evangelien bisher überwiegend unter den einfachen Leuten kennengelernt: Maria und Josef, Elisabeth und Zacharias, Simeon und Anna - dazu die Jünger, die zwar aus verschiedenen bildungsschichten und Strömungen in Israel stammten, aber doch alle nicht den maßgebenden Kreisen zu begegnen gehörten. Nun - nach dem Tod Jesu – begegnen uns zwei angesehene Persönlichkeiten der gebildeten Schicht Israels, die zwar noch nicht gewagt hatten, ihre zu bekennen, die aber doch jenes einfache Herz hatten, das den Menschen zu Wahrheit fähig gemacht hatte. (vgl. MT 10,25f).
Während die Römer die Leichname der am Kreuz hingerichteten den Geiern überließen, legten die Juden Wert darauf, dass sie begraben wurden, wofür es eigens von der Justiz zugewiesene Stellen gab. Die Bitte des Josef fügt sich insofern in den jüdischen Rechtsgebrauch ein. Markus berichtet, dass Pilatus sich wunderte, dass Jesus schon gestorben war, und sich zunächst beim Hauptmann über die Wahrheit dieser Nachricht informierte. Nach der Bestätigung des Todes Jesu überließ er den Leichnam Jesu dem Ratsherren (vgl. 15, 40).
30.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Das Begräbnis Jesu(Teil I)
Alle vierEvangelisten erzählen uns, dass ein wohlhabender Ratsherr, Joseph von Arimathäa, Pilatus um den Leichnam Jesu bat. Markus (15,43) und Lukas (23,51) fügen hinzu, dass Josef einer war, „der auf das Reich Gottes wartete“, während Johannes (19,38 ) ihn als einen geheimen Jünger Jesu bezeichnet, der dies aus Furcht vor den herrschenden jüdischen Kreisen bisher nicht offen gezeigt hat. Johannes erwähnt außerdem noch die Beteiligung des Nikodemus (19,39), von dessen Nachtgespräch mit Jesus über Geburt und Wiedergeburt des Menschen er im 3. Kapitel (v. 1 – 8) berichtet hatte. Nach dem Drama das Prozesses, in dem alles gegen Jesus verschworen und keine Stimme mehr für Ihn zu sprechen schien, lernen wir jetzt das andere Israel kommen kennen: Menschen, die wartend sind. Menschen die den Verheißungen Gottes trauen und nach ihrer Erfüllung ausschauen. Menschen, die im Wort und Wirken Jesu den Einbruch von Gottes Reich, die beginnende Erfüllung der verheißungen erkennen.
29.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Jesus stirbt am Kreuz (Teil VII)
Was will der Verfasser wohl mit der nachdrücklichen Feststellung sagen, dass Jesus nicht nur im Wasser, sondern auch im Blut gekommen ist? Man wird annehmen dürfen, dass er auf eine Strömung anspielt, die nur auf die Taufe Jesu Wert legte, das Kreuz aber beiseite schob. Und Das bedeutet wohl zugleich, dass man nur das Wort, die Lehre, die Botschaft für wichtig hielt, nicht aber „das Fleisch“, den lebendigen Leib Christi, Der am Kreuz verblutet war; dass man ein Christentum des Gedankens und der Ideen zu schaffen versuchte, aus dem man die Realität des Fleisches - Opferund Sakrament -wegnehmen wollte. Die Väter haben in diesem doppelten Strom von Blut und Wasser ein Bild für die beiden Grundsakramente -Eucharistie und Taufe -gesehen, die aus der durchbohrten Seite des Herrn, aus Seinem Herzen entspringen.Sie sind der neue Strom, der die Kirche schafft und die Menschen erneuert. Bei der geöffneten Seite des am Kreuz entschlafenen Herrn haben die Väter aber auch an die Erschaffung Evas aus der Seite des schlafenden Adam gedacht und so in dem Strom der Sakramente zugleich den Ursprung der Kirche gesehen: die Erschaffung der neuen Frau aus der Seite des neuen Adam.
28.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Jesus stirbt am Kreuz (Teil VI)
Blut und Wasser flossen aus dem durchbohrten Herzen Jesu. In allen Jahrhunderten hat die Kirche, dem Wort des Sacharja gemäß, auf dieses durchbohrte Herz geschaut und in ihm die Quelle des Segens erkannt, die im Blut und Wasser vorgedeutet ist. Das Wort drängt geradezu zu der Suche nach tieferem Verstehen dessen, was da geschehen ist.
Eine erste Stufe dieses Verstehens finden wir im Ersten Johannes-Brief, der mit Nachdruck die Rede von Blut und Wasser aus Jesus Seite aufnimmt: „Dieser ist es, Der durch Wasser und Blut gekommen ist: Jesus Christus. Er ist nicht nur im Wasser gekommen, sondern im Wasser und im Blut. Und der Geist ist es, Der Zeugnis ablegt; denn der Geist ist die Wahrheit. Drei sind es, die Zeugnis ablegen: Der Geist, das Wasser und das Blut; und diese drei sind eins“ (5,6ff).
27.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Jesus stirbt am Kreuz (Teil V)
So dürfen wir in diesem Wort zugleich einen stillen Rückverweis auf den Anfang der Geschichte Jesu erblicken -auf die Stunde, in der der Täufer gesagt hatte: „Siehe das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegträgt!“ (Joh 1,29).Was damals noch unverständlich bleiben musste, nur ein geheimnisvoller Vorverweis auf Künftiges war, ist jetzt Wirklichkeit. Jesus ist das von Gott Selbst erwählte Lamm. Am Kreuz trägt Er die Schuld der Welt und trägt sie fort.
Zugleich aber klingt auch Psalm 34 durch, wo es heißt: „Der Gerechte muss viel leiden, doch allem wird der Herr Ihn entreißen.Er behütet all Seine Glieder, nicht eines von ihnen wird zerbrochen“ (v. 20f). Der Herr, der Gerechte, hat vieles, alles erlitten und doch hat Gott Ihn behütet: Kein Knochen an Ihm ist zerbrochen worden.
26.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Jesus stirbt am Kreuz (Teil IV)
Während die Römer bewusst zur Abschreckung die Gekreuzigtennach dem Tod am Marterpfahl hängen ließen, mussten sie nach jüdischem Recht noch am selben Tag abgenommen werden (vgl.Dtn 21,22f).Deshalb war es Aufgabe des Hinrichtungskommandos, durch Zerschlagen der Gebeine den Tod zu beschleunigen. So geschieht es auch im Fall der auf GolgothaGekreuzigten.Den beiden „Räubern“ werden die Gebeine zerschlagen.Dann aber sehen die Soldaten, dass Jesus schon gestorben ist. So verzichten sie auf das Zerschlagen der Gebeine. Stattdessen durchbohrt einer von ihnen die rechte Seite -das Herz – Jesu, „und sogleich floss Blut und Wasser heraus“ (Joh 19,34).Es ist die Stunde, in der die Pascha- Lämmer geschlachtet werden.Für sie gilt die Vorschrift, dass ihnen kein Knochen zerbrochen werden darf (Ex 12,46). Jesus erscheint hier als das wahre Pascha-Lamm, das rein und vollkommen ist.
25.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Jesus stirbt am Kreuz (Teil III)
Die synoptischen Evangelien charakterisieren den Kreuzestod ausdrücklich als kosmisches und liturgisches Ereignis: Die Sonne verfinstert sich, der Tempelvorhang reißt entzwei, die Erde erbebt, Tote stehen auf.
Wichtiger als das kosmische Zeichen ist ein Vorgang des Glaubens: Der römische Hauptmann - der Kommandant des Hinrichtungstrupps – bekennt Jesus in der Erschütterung ob des Geschehenen, das er sieht, als Gottes Sohn: „Wahrhaft, dieser Mensch war Sohn Gottes (Mk 15,39). Unter dem Kreuz beginnt die Kirche der Heiden. Vom Kreuz her sammelt der Herr die Menschen zur neuen Gemeinschaft der weltweiten Kirche. Vom leidenden Sohn her erkennen sie den wahren Gott.
24.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Jesus stirbt am Kreuz (Teil II)
Bei der Behandlung des Ölberg-Gebets Jesu im 6. Kapitel haben wir von Hebr 5,9 her noch eine andere Bedeutung des gleichen Wortes (teleioun) kennengelernt: in der Tora bedeutet es Einweihung, Weihe in die priesterliche Würde hinein, das heißt vollständige Übereignung an Gott. Ich denke, dass wir vom Hohepriesterlichen Gebet Jesu her auch an dieser Stelle diese Bedeutung mithören dürfen. Jesus hat den Einweihungsakt, die priesterliche Übergabe Seiner Selbst und der Welt an Gott, zu Ende vollzogen (vgl.Joh 17,9 10). So leuchtet in diesem Wort das große Geheimnis des Kreuzes auf. Die neue kosmische Liturgie ist vollzogen. Das Kreuz Jesu tritt an die Stelle aller anderen Kult-Akte als die einzig wirkliche Verherrlichung Gottes, in der Sich Gott Selbst verherrlicht durch Den, in Dem Er uns Seine Liebe schenkt und so uns zu Sich hinaufzieht.
23.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Jesus stirbt am Kreuz (Teil I)
Nach dem Bericht der Evangelisten ist Jesus um die neunte Stunde, das heißt gegen 3 Uhr nachmittags, betend gestorben.
Nach Lukas war Sein letztes Gebet dem Psalm 31 entnommen: „Vater, in DeineHände lege Ich Meinen Geist (Lk 23,6 46; Ps 31,6). Nach Johannes lautete Das letzte Wort Jesu: „ Es ist vollbracht!“ (19, 30. Dieses Wort (telestai) weist im griechischen Text zurück auf den Anfang der Passion, auf die Stunde der Fußwaschung, deren Erzählung der Evangelist einleitet, indem er betont, dass Jesus die Seinen „bis ans Ende (telos)“ liebte (vgl.Joh 13,1). Dieses „Ende“, diese äußerste Vollendung des Liebens ist nun, in dem Augenblick des Todes, erreicht. Er ist wirklich bis ans Ende, bis an die Grenze und über die Grenze hinaus gegangen. Er hat das ganze der Liebe erfüllt - Sich Selber gegeben.
22.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Die Frauen unter dem Kreuz – die Mutter Jesu (Teil V)
Die Apokalypse spricht von dem großen Zeichen der Frau, das am Himmel erscheint, und begreift darin ganz Israel, ja, die ganze Kirche mit ein. Immerfort muss die Kirche unter Schmerzen Christus gebären (vgl. Offb 12,1-6). Eine andere Reifestufe des gleichen Gedankens finden wir im Epheser-Brief, der das Wort vom Mann, der Vater und Mutter verlässt und mit der Frau ein Fleisch wird, auf Christus und die Kirche bezieht (vgl. 5,31f). Von dem Modell der „Korporativpersönlichkeit“ her hat die Alte Kirche – biblischem Denken gemäß – keine Schwierigkeit gefunden, in der Frau einerseits ganz persönlich Maria zu erkennen und andererseits als zeitenübergreifend in ihr die Kirche, die Braut und Mutter, zu sehen, in der sich das Geheimnis Marias in die Geschichte hinein aus zeitigt. Wie Maria, die Frau, so ist auch der Lieblingsjünger zugleich einer konkrete Gestalt und ein Typus für Jüngerschaft, wie es sie immer geben wird und geben muss. Dem Jünger, der wahrhaft Jünger ist in der liebenden Gemeinschaft mit dem Herrn, wird die Frau anempfohlen: Maria - die Kirche.
Das Wort Jesu am Kreuz bleibt offen für viele konkrete Verwirklichungen. Immer neu wird es sowohl der Mutter wie dem Jünger zugesprochen, und jedem ist aufgetragen, es neu in seinem Leben zu erfüllen, wie der Herr es ihm zugedacht hat. Immer wieder ist der jünger angewiesen, Maria als Person und als Kirche in sein eigenes hineinzunehmen und so den letzten Auftrag Jesu zu erfüllen.
21.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Die Frauen unter dem Kreuz – die Mutter Jesu (Teil IV)
Wenn Johannes solche menschlichen Vorgänge mitteilt, will er durchaus Geschehenes festhalten. Aber es geht ihm doch immer um mehr als um einzelne vergangene Fakten. Das Geschehen weist über sich hinaus ins Bleibende hinein. Was will er uns damit sagen?
Einen ersten Anhalt schenkt uns die Anrede an Maria: „Frau“. Es ist dieselbe Anrede, die Jesus auf der Hochzeit zu Kana gebraucht hatte (Joh 2,4). Beide Szenen werden so miteinander geknüpft. Kana war Vorgriff gewesen auf die endgültige Hochzeit - auf den neuen Wein, den der Herr schenken wollte. Erst jetzt wird Wirklichkeit, was damals nur vorausdeutendes Zeichen gewesen war.
Der Anruf „Frau“ weist zugleich auf die Schöpfungsgeschichte zurück, in der der Schöpfer Adam die Frau zuführt. Adam antwortet auf diese neue Schöpfung: „Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen…“ (Gen 2,23). Der heilige Paulus hat in seinen Briefen Jesus als den neuen Adam gezeichnet, mit Dem die Menschheit noch einmal neu beginnt. Johannes sagt uns, dass zum neuen Adam auch wiederum „die Frau“ gehört, die Er uns in Maria vorstellt. Im Evangelium bleibt dies eine leise Andeutung, die im Glauben der Kirche langsam entfaltet wurde.
20.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Die Frauen unter dem Kreuz – die Mutter Jesu (Teil III)
Johannes erzählt uns nicht nur, dass beim Kreuz Jesu Frauen standen – „Seine Mutter und die Schwester Seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas und Maria von Magdala“ (19,25) -,sondern er fährt fort: „Als Jesus Seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den Er liebte, sagte Er zu Seiner Mutter: Frau, siehe Dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“ (19,26f). Dies ist eine letzte Verfügung Jesu, gleichsam ein Adoptionsakt. Er ist der einzige Sohn Seiner Mutter, die nach Seinem Tode allein in der Welt stehen würde. Nun gibt Er ihr den geliebten Jünger zur Seite, macht ihn gleichsam an Seiner Stelle zu ihrem Sohn, der von da an Verantwortung für sie trägt – sie zu sich nimmt. Die wörtliche Übersetzung ist noch stärker; man könnte etwa so übertragen: Er nahm sie in sein Eigenes hinein, nahm sie in seinen inneren Lebenszusammenhang auf. Dies ist zunächst also eine ganz menschliche Geste des scheidenden Erlösers. Er lässt die Mutter nicht allein, Er gibt sie in die Fürsorge des Ihm besonders nahen Jüngers. Und so ist auch dem Jünger eine neue Heimat geschenkt - die Mutter, die für ihn sorgt und für die er sorgt.
19.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Die Frauen unter dem Kreuz – die Mutter Jesu (Teil II)
Die Frauen schauen auf den Durchbohrten. Wir dürfen hier auch die weiteren Worte des Propheten Sacharja mitdenken: „Sie halten Totenklage um Ihn, wie man um den Einzigen klagt; bitter weint man um Ihn, wie man um den Erstgeborenen weint“ (12,10). Hatten bis zum Tod Jesu nur Spott und Grausamkeit den leidenden Herrn umgeben, so zeigen die Evangelien nun einen versöhnlichen Ausklang, der zur Grablegung und zur Auferstehung überleitet. Die treu gebliebenen Frauen sind da. Ihr Mitleid und ihre Liebe gelten dem verstorbenen Erlöser.
So dürfen wir ruhig auch den Abschluss des Sacharja-Textes hinnehmen: „An jenem Tag wird für das Haus David und für die Einwohner Jerusalems eine Quelle fließen zur Reinigung von Sünde und Unreinheit“ (13,1). Das Schauen auf den Durchbohrten und das Mitleiden werden selbst schon zu einer Quelle der Reinigung. Die verwandelnde Kraft der Passion Jesu beginnt.
18.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Die Frauen unter dem Kreuz – die Mutter Jesu (Teil I)
Alle vier Evangelisten erzählen uns je auf ihre Weise von Frauen unter dem Kreuz. Markus berichtet so: „Auch einige Frauen sahen von Weitem zu, darunter Maria aus Magdala, Maria, die Mutter von Jakobus dem Kleinen und Joses, sowie Salome; sie waren Jesus schon in Galiläa nachgefolgt und hatten Ihm gedient. Noch viele andere Frauen waren dabei, die mit Ihm nach Jerusalem hinaufgezogen waren“ (15,40f). Auch wenn die Evangelisten direkt nichts davon sagen, so kann man doch die Erschütterung und die Trauer dieser Frauen über das Geschehene einfach aus der Mitteilung über ihre Anwesenheit verspüren.
Johannes zitiert am Ende seines Kreuzigungsberichts das Wort des Proheten Sacharja: „Sie werden schauen auf Den, Den sie durchbohrt haben“ (19,37; Sach 12,10). Zu Beginn der Apokalypse wird er dieses Wort, das hier die Szene am Kreuz schildert, prophetisch auf die Endzeit anwenden - auf den Augenblick der Wiederkunft des Herrn, in dem alle auf den mit den Wolken Kommenden – den Durchbohrten – schauen und sich an die Brust klopfen werden (Offb 1,7).
17.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
„Mich dürstet“ (Teil II)
Aber wie sollte man bei dieser Szene nicht auch an das Weinbergslied im 5. Kapitel des Propheten Jessaja denken, das wir im Zusammenhang der Weinstock-Rede bedacht hatten (vgl. Teil I, S. 298-301)? Darin hatte Gott Seine Klage vor Israel gebracht. Er hatte einen Weinberg auf fruchtbarer Höhe gepflanzt und alle Sorgfalt auf ihn verwendet. „Dann hoffte er, dass der Weinberg süße Trauben brächte, doch er brachte nur saure Beeren“ (Jes 5,2). Der Weinberg Israel trägt Gott nicht die edle Frucht der Gerechtigkeit, die in der Liebe gründet. Er trägt die sauren Beeren des Menschen, der nur um sich selbst besorgt ist. Er trägt Essig statt Wein. Die Klage Gottes, die wir im prophetischen Lied vernehmen, konkretisiert sich in dieser Stunde, in der dem dürstenden Erlöser Essig gereicht wird.
So wie das Lied des Jesaja über Seine historische Stunde hinaus das Leiden Gottes an Seinem Volk schildert, so greift auch die Szene am Kreuz über die Stunde des Todes Jesu hinaus. Nicht nur Israel, auch die Kirche, auch wir antworten auf Gottes fürsorgende Liebe immer wieder mit Essig .. mit einem sauren Herzen, das die Liebe Gottes nicht wahrnehmen mag. „Mich dürstet“: Dieser Ruf Jesu richtet sich an jeden Einzelnen von uns.
16.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
„Mich dürstet“ (Teil I)
Zu Beginn der Kreuzigung war Jesus wie üblich ein Betäubungsgetränk angeboten worden, um die unerträglichen Schmerzen abzudämpfen. Jesus hat dieses Getränk abgelehnt – Er wollte Sein Leiden bewusst durchstehen (Mk 15,23). Auf dem Höhepunkt der Passion, in der brennenden Mittagssonne, am Kreuz ausgespannt, rief Jesus „Mich dürstet“ (Joh 19,28). Der Gewohnheit gemäß reichte man Jesus von dem sauren Wein, der unter den Armen verbreitet war und den man auch als Essig bezeichnen konnte; er galt als durststillend.
Hier finden wir wiederum die Durchdringung von biblischem Wort und Ereignis vor, über die wir am Beginn dieses Kapitals nachgedacht haben. Einerseits ist die Szene ganz realistisch – da sind der Durst des Gekreuzigten und das saure Getränk, das die Soldaten in diesen Fällen zu verabreichen pflegen. Andererseits hören wir unmittelbar den Passions-Psalm 69 durch, in dem der Leidende klagt: „Für den Durst reichten sie Mir Essig“ (v. 22). Jesus ist der leidende Gerechte. Die von der Schrift in den großen Erfahrungen der leidenden Beter dargestellte Passion des Gerechten erfüllt sich in Ihm.
15.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Der Verlosung der Gewänder Jesu (Teil II)
Diese Notz über den nahtlosen Leibrock (chiton) ist so bedachtsam formuliert, weil Johannes darin offensichtlich mehr als ein zufälliges Detail festhalten wollte. Einige Ausleger verweisen in diesem Zusammenhang auf eine Auskunft des Flavius Josephus, derzufolge das Gewand (chiton) des Hohepriesters aus einem einzigen Faden gewebt wurde (Abt. Iud, III 7,4). So darf man wohl in diesem leisen Hinweis des Evangelisten eine Anspielung auf die hohepriesterliche Würde Jesu finden, die er theologisch in Jesu Hohepriesterlichem Gebet eingehend dargestellt hatte: Der, Der da stirbt, ist nicht nur der wahre König Israels. Er ist auch der Hohepriester, Der gerade in dieser Stunde Seiner äußersten Entehrung Seinen hohepriesterlichen Dienst vollzieht.
Die Kirchenväter haben beim Bedenken dieses Textes einen anderen Akzent gesetzt: Sie sehen in dem nahtlosen Gewand, das auch die Soldaten nicht zerstückeln wollen, ein Bild für die unzerstörbare Einheit der Kirche. Das nahtlose Gewand ist Ausdruck der Einheit, um die der Hohepriester Jesus am Abend vor dem Leiden für die Seinigen gebetet hatte. In der Tat gehören im Hohepriesterlichen Gebet das Priestertum Jesu und die Einheit der Seinigen untrennbar zueinander. Zu Füßen des Kreuzes vernehmen wi noch einmal eindringlich die Botschaft, die Jesus in Seinem Beten vor dem Hinausgehen in den Tod vor uns aufgerichtet und uns in die Seele geschrieben hat.
14.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Der Verlosung der Gewänder Jesu (Teil I)
Die Evangelisten berichten uns davon, dass das Hinrichtungskommando - bestehend aus vier Soldaten - die Kleider Jesu durch Verlosung unter sich verteilte. So entsprach es römischem Brauch, nach dem die Gewänder des Hingerichteten dem Exekutionstrupp zufielen. Johannes zitiert dazu ausdrücklich Ps 22,19, indem er sagt: „So sollte sich das Schriftwort erfüllen: Sie verteilen unter sich Meine Kleider und werfen das Los um Mein Gewand“ (v. 19,24).
In Anpassung an den für die hebräische Poesie typischen Parallelismus, der einen Akt zweifach ausdrückt, unterscheidet Johannes zwei Handlungen: Die Soldaten machten zunächst vier Teile aus den Kleidern Jesu und verteilten sie unter sich. „Sie nahmen auch Sein Untergewand, das von oben her ganz durchgewebt und ohne Naht war. Sie sagten zueinander: Wir wollen es nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll“ (19,23f).
13.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Der Verlassenheitsruf Jesu (Teil IV)
Die Väter haben diese Grundfigur, die in der neueren Forschung als „Korporativpersönlichkeit“ charakterisiert wird, von ihrem Christusglauben her aufgenommen und vertieft: In den Psalmen betet - so sagt uns Augustinus – Christus als Haupt und Leib zugleich (vgl. z.B. En. in Ps. 60,1f; 61,4; 85,1.5). Er betet als „Haupt“ – als Der, Der uns alle zu einem gemeinsamen Subjekt vereint und uns alle in Sich aufnimmt. Und Er betet als „Leib“, das heißt: Unser aller Ringen, unsere eigenen Stimmen, unsere Not und unsere Hoffnung sind gegenwärtig. Wir selbst sind Beter dieses Psalms, aber nun auf neue Weise in der Gemeinschaft mit Christus. Und von Ihm her sind immer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geeint.
Immer wieder stehen wir im abgründigen Heute des Leidens. Immer aber ist auch die Auferstehung und die Sättigung der Armen schon „heute“. Durch eine solche Sicht wird nichts von der Schrecklichkeit der Passion Jesu weggenommen. Im Gegenteil: Sie wird größer, weil sie nicht nur individuell ist, sondern wirklich unser aller Not in sich trägt. Aber zugleich ist Sein Leiden messianische Passion – ein Leiden in der Gemeinschaft mit uns, für uns; ein Mit-sein, das aus der Liebe kommt und so schon die Erlösung, den Sieg der Liebe in sich trägt.
12.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Der Verlassenheitsruf Jesu (Teil III)
In der neueren Theologie sind viele tiefgründige Versuche angestellt worden, von diesem Notschrei Jesu her in die Abgründe Seiner Seele hineinzuschauen und das Geheimnis Seiner Person in der letzte Drangsal zu verstehen. All diese Bemühungen sind letztlich von einem zu engen individualistischen Ansatz geprägt.
Ich denke, dass die Kirchenväter mit ihrer Weise des Verstehens von Jesu Beten viel näher an der Wirklichkeit waren. Schon bei den Betern des Alten Bundes gehören die Psalmworte nicht einem einzelnen, in sich geschlossenen Subjekt zu. Gewiss, es sind ganz persönliche, im Ringen mit Gott gewachsene Worte, in denen aber doch zugleich alle leidenden Gerechten, ganz Israel, ja, die ringende Menschheit mitbeten, und immer umspannen daher diese Psalmen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie stehen im Präsens des Leidens und tragen doch in sich schon das Geschenk der Erhörung, der Verwandlung.
11.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Der Verlassenheitsruf Jesu (Teil II)
Es ist nicht irgendein Verlassenheitsschrei. Jesus betet den großen Psalm des leidenden Israel und nimmt so die ganze Drangsal nicht nur Israels, sondern aller an der Verborgenheit Gottes leidenden Menschen dieser Welt in Sich hinein. Er trägt den Notschrei der Welt, die von der Abwesenheit Gottes gepeinigt ist, vor das Herz Gottes Selbst hin. Er identifiziert Sich mit dem leidenden Israel, mit der unter dem Gottesdunkel leidenden Menschheit, nimmt ihr Schreien, ihre Not, ihre ganze Hilflosigkeit in Sich hinein und verwandelt sie damit zugleich.
Psalm 22 durchzieht – wie wir gesehen haben - die Passionsgeschichte und reicht über sie hinaus. Die öffentliche Demütigung, der Hohn und das Kopfschütteln der Spötter, die Schmerzen, der entsetzliche Durst, das Durchbohren der Hände und Füße, das Verlosen der Kleider – die ganze Passion in dem Psalm gleichsam vorab geschildert. Indem Jesus die Anfangsworte des Psalms spricht, ist letztlich jedoch schon das Ganze dieses großen Gebets gegenwärtig – auch die Gewissheit der Erhörung, die sich zeigen wird in der Auferstehung, im Werden der „großen Gemeinde“ und in der Sättigung der Armen (vgl. v.25ff). Der Ruf in der äußersten Not ist zugleich Gewissheit der göttlichen Antwort, Gewissheit des Heils – nicht nur für Jesus Selbst, sondern für „viele“.
10.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Der Verlassenheitsruf Jesu (Teil I)
Matthäus und Markus erzählen uns übereinstimmend, dass Jesus um die neunte Stunde mit lauter Stimme rief: „Mein Gott, Mein Gott, warum hast Du Mich verlassen?“ (Mt 27,46; Mk 15,34). Sie überliefern den Schrei Jesu in einer Mischung aus Hebräisch und Aramäisch und übersetzen ihn dann ins Griechische. Dieses Gebet Jesu hat immer wieder das Fragen und Nachdenken der Christen wachgerufen: Wie konnte der Sohn Gottes von Gott verlassen sein? Was bedeutet dieser Ruf? Rudolf Bultmann zum Beispiel bemerkt dazu: Jesu Hinrichtung geschah „aufgrund eines Missverständnisses Seines Wirkens als eines politischen. Sie wäre dann – historisch gesprochen – ein sinnloses Schicksal. Ob oder wie Jesus in ihm einen Sinn gefunden hat, können wir nicht wissen. Die Möglichkeit, dass Er zusammengebrochen ist, darf man sich nicht verschleiern“ (Das Verhältnis, S. 12). Was sollen wir zu alledem sagen?
Zunächst ist zu bedenken, dass nach dem Bericht beider Evangelisten die Umstehenden den Ruf Jesu nicht verstanden, sondern als Schrei nach Elija gedeutet haben. In gelehrten Arbeiten hat man versucht, das Wort Jesu genau so zu rekonstruieren, dass es einerseits als Ruf an Elija missverstanden werden konnte, andererseits den Verlassenheitsruf des Psalms 22 darstellte (vgl. Pesch, Markusevangelium II, S. 495). Wie dem auch sei: Erst die glaubende Gemeinde hat den von den Umstehenden nicht verstandenen und missdeuteten Schrei Jesu als das Anfangswort des Psalms 22 begriffen und ihn von daher als wahrhaft messianischen Ruf verstehen können.
09.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Verspottung Jesu (Teil V)
Nicht beide Mitgekreuzigte Jesu stimmen in den Spott ein. Der eine von ihnen begreift das Geheimnis Jesu. Er weiß und sieht, dass Jesu Art von „Vergehen“ ganz anders war. Dass Jesus gewaltlos war. Und er sieht nun, dass dieser Mitgekreuzigte wirklich das Antlitz Gottes sichtbar macht, Gottes Sohn ist. So bittet er Ihn: „Jesus wenn Du in Dein Reich kommst, gedenke meiner“ (Lk 23,42), Wie der rechte Räuber sich das Kommen Jesu in Sein Reich genau vorgestellt und wie er sich daher das Gedenken Jesu erbeten hat, wissen wir nicht. Aber offensichtlich hat er gerade am Kreuz begriffen, dass dieser Ohnmächtige der wahre König ist – Der, auf Den Israel wartet und an Dessen Seite er nun nicht nur am Kreuz, sondern auch in der Herrlichkeit stehen will.
Die Antwort Jesu geht über die Bitte hinaus. An die Stelle einer unbestimmten Zukunft tritt Sein Heute: „Heute nochbwirst du mit Mir im Paradies sein“ (23,43). Auch dieses Wort ist geheimnisvoll, aber es zeigt uns eines mit Sicherheit: Jesus wusste, dass Er direkt in die Gemeinschaft mit dem Vater eingehen werde – dass Er das „Paradies“ noch für „heute“ verheißen konnte. Er wusste, dass Er den Menschen wieder ins Paradies hineinführte, aus dem er herausgefallen war: in das Mitsein mit Gott als das wahre Heil des Menschen.
So ist in der Geschichte der christlichen Frömmigkeit der rechte Räuber zum Bild der Hoffnung geworden – zur tröstenden Gewissheit, dass Gottes Erbarmen uns auch im letzten Augenblick erreichen kann; ja, dass nach einem verfehlten Leben die Bitte um Seine Güte nicht umsonst getan wird. So betet zum Beispiel auch das Dies irae: „Hast dem Schächer Du verziehen, hast auch Hoffnung mir verliehen“.
08.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Verspottung Jesu (Teil IV)
Bei Jesus freilich ist die Art des Vergehens anders als bei den beiden, die vielleicht mit Barabbas an dessen Aufstand teilgenommen hatten. Pilatus weiß genau, dass Jesus derlei nicht im Sinn hatte, und so hat er denn auch in der Kreuzesaufschrift das „Verbrechen“ Jesu auf besondere Weise formuliert: „Jesus von Nazareth, König der Juden“ (Joh 19,19). Bisher hatte Jesus den Titel „Messias“ oder „König“ vermieden beziehungsweise sofort in Zusammenhang mit Seinem Leiden gebracht (vgl. Mk 8,27-31), um falsche Interpretationen zu verhindern. Nun kann der Titel „König“ in aller Öffentlichkeit erscheinen. In den drei großen Sprachen von damals wird Jesus öffentlich als König proklamiert.
Es ist begreiflich, dass die Mitglieder des Synedriums sich stoßen an diesem Titel, in dem Pilatus sicher auch seinen Zynismus gegen die jüdischen Autoritäten ausdrücken und sich nachträglich an ihnen rächen will. Aber vor der Weltgeschichte steht nun diese Aufschrift da, die einer Königsproklamation gleichkommt. Jesus ist "erhöht“. Das Kreuz ist Sein Thron, von dem aus Er die Welt an Sich zieht. Von diesem Ort der äußersten Hingabe Seiner Selbst, von diesm Ort einer wahrhaft göttlichen Liebe aus herrscht Er als der wahre König auf Seine Weise - auf die Weise, die weder Pilatus noch die Mitglieder des Hohen Rates hatten begreifen können.
07.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Die Verspottung Jesu (Teil III)
Wir dürfen hinzunehmen, dass das Weisheits-Buch möglicherweise Platons Gedankenexperiment aus seinem Werk über das Staatswesen kannte, in dem er die Idee durchspielt, wie es dem vollkommen Gerechten in dieser Welt gehen müsse, und zu dem Ergebnis kommt, er werde gekreuzigt werden (Politeia II, 361e – 362a). Das Weisheits-Buch hat vielleicht diesen Gedanken des Philosophen aufgenommen, ihn ins Alte Testament eingefügt, und nun weist er direkt auf Jesus hin. Gerade im Spott bewahrheitet sich das Geheimnis Jesu Christi. So wenig Er Sich vom Teufel dazu bewegen ließ, Sich von der Zinne des Tempels herabzustürzen (Mt 4,5f; Lk 4,9-13), so wenig weicht Er jetzt vor dieser Versuchung zurück. Er weiß es: Gott Selbst wird Ihn retten – aber anders, als diese Leute hier es sich vorstellen. Die Auferstehung wird der Augenblick sein, in dem Gott Ihn aus dem Tod herausholt und Ihn als den Sohn beglaubigt.
Die dritte Gruppe der Spötter besteht aus den Mitgekreuzigten Jesu, die von Matthäus und Markus mit dem gleichen Wort lestes (Räuber) charakterisiert werden, mit dem Johannes den Barabbas bezeichnet (vgl. Mt 27,38;Mk 15,27; Joh 18,40). Es ist offenkundig, dass sie damit als Widerstandskämpfer ausgemacht sind, denen die Römer, um sie zu kriminalisieren, schlicht den Titel “Räuber“ beigelegt hatten. Sie werden mit Jesus zusammen gekreuzigt, weil sie des gleichen Verbrechens schuldig befunden worden sind: Widerstand gegen die römische Macht.
06.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Die Verspottung Jesu (Teil II)
Nun, im Augenblick des Todes Jesu, reißt dieser Vorhang von oben bis unten entzwei. Darin ist zweierlei angesagt: Zum einen wird sichtbar, dass die Zeit des alten Tempels und seiner Opfer zu Ende ist; dass an die Stelle der Vorbilder und der Rituale, die in die Zukunft wiesen, nun die Wirklichkeit selbst tritt, der gekreuzigte Jesus, Der uns alle mit dem Vater versöhnt. Zugleich aber bedeutet das Zerreißen des Tempelvorhangs, dass nun der Zugang zu Gott frei ist. Bisher war Gottes Gesicht verhüllt gewesen. Nur zeichenhaft konnte einmal im Jahr der Hohepriester vor Ihn hintreten. Jetzt hat Gott Selbst den Vorhang weggenommen, Sich im Gekreuzigten als Der bis in den Tod hinein Liebende gezeigt. Der Zugang zu Gott ist frei.
Die zweite Gruppe von Spöttern besteht aus den Mitgliedern des Synedriums. Matthäus erwählt alle drei Fraktionen: Priester, Schriftgelehrte und Älteste. Sie formen ihr Spottwort im Anschluss an das Buch der Weisheit, das im 2. Kapitel von dem Gerechten spricht, Der dem boshaften Leben der anderen im Weg steht, Der Sich als Sohn Gottes bezeichnet und dem Leiden überliefert wird (Weish 2,10-20). Nun sagen die Mitglieder des Synedriums im Anschluss an diese Worte über Jesus, den Gekreuzigten: „Er ist doch der König von Israel! Er soll vom Kreuz herabsteigen, dann werden wir an Ihn glauben. Er hat auf Gott vertraut: Der soll Ihn jetzt retten, wenn er an Ihm Gefallen hat; Er hat doch gesagt: Ich bin Gottes Sohn“ (Mt 27.42f; Weish 2,18) Ohne dass die Spötter es merken, erkennen sie damit an, dass Jesus wirklich Derjenige ist, von Dem das Weisheits-Buch redet. Gerade in der Situation der äußeren Hilflosigkeit erweist Er Sich als der wahre Sohn Gottes.
05.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Die Verspottung Jesu (Teil I)
Drei Gruppen von Spöttern erscheinen im Evangelium. Als erste die Vorübergehenden. Sie rufen dem Herrn erneut das Wort von der Tempelzerstörung zu: “Ach, Du willst den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen? Hilf Dir doch Selbst und steig herab vom Kreuz!“ (Mk 15,29f). Die Menschen, die den Herrn auf diese Weise verhöhnen, drücken damit ihre Verachtung für den Ohnmächtigen aus, lassen Ihn Seine Ohnmacht noch einmal spüren. Zugleich wollen sie Ihn in Versuchung führen wie einst der Teufel: „Hilf Dir doch Selbst!“ Nimm Deine Macht in Anspruch! Sie wissen nicht, dass gerade in diesem Augenblick die Zerstörung des Tempels geschieht und dass der neue Tempel auf solche Weise entsteht.
Am Ende der Passion, mit dem Tode Jesu, reißt der Vorhang des Tempels – so berichten die Syynoptiker von oben bis unten entzwei (Mt. 27,51; Mk 16,38; Lk 23,45). Wahrscheinlich ist an den inneren der beiden Tempelvorhänge gedacht, den Vorhang, der das Allerheiligste dem Zutritt der Menschen verschließt. Nur einmal im Jahr darf der Hohepriester den Vorhand durchschreiten, vor das Angesicht des Allerhöchsten treten und Dessen heiligen Namen aussprechen.
04.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Das erste Wort Jesu am Kreuz: „Vater, vergib ihnen“ (Teil II)
Noch einmal auf andere Weise erscheint dasselbe Ineinander von Wissen und Unverständnis in der Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland. Die Hohepriester und Schriftgelehrten wissen genau, wo der Messias geboren wird. Aber sie erkennen Ihn nicht. Wissend bleiben sie blind (vgl. Mt 2,4-6).
Es ist offenkundig, dass dieses Miteinander von Wissen und Nichtwissen, von materieller Kenntnis und tiefem Unverstehen, in allen Zeiten vorkommt. Insofern muss das Wort Jesu vom Nichtwissen mit seinen Anwendungen in den verschiedenen Situationen der Schrift gerade auch heute die vermeintlich Wissenden aufrütteln. Sind wir nicht gerade als Wissende blind? Sind wir nicht gerade durch unser Wissen unfähig, die Wahrheit selbst zu erkennen, die sich im Gewussten uns zuwenden möchte? Entziehen wir uns nicht dem Schmerz jener ins Herz treffenden Wahrheit, von der Petrus in der Pfingstpredigt gesprochen hat? Nichtwissen mindert die Schuld, lässt den Weg zur Bekehrung offen. Aber es ist nicht einfach Entschuldigung, weil es zugleich eine Dumpfheit des Herzens verrät, die sich dem Anspruch der Wahrheit verweigert. Umso mehr bleibt es für alle Zeiten und für alle Menschen ein Trost, dass der Herr sowohl bei den wirklich Nichtwissenden, den Henkern, wie bei den Wissenden, die Ihn verurteilt hatten, ihr Nichtwissen zum Grund der Bitte um Vergebung macht – es als Tür ansieht, die uns der Bekehrung öffnen kann.
03.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Jesus am Kreuz
Das erste Wort Jesu am Kreuz: „Vater, vergib ihnen“ (Teil I)
Das erste Wort Jesu am Kreuz, fast noch während des Aktes der Kreuzigung gesprochen, ist eine Vergebungsbitte für diejenigen, die so an Ihm handeln: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). Was der Herr in der Bergpredigt verkündet hatte, vollzieht Er hier Selbst. Er kennt keinen Hass. Er ruft nicht nach Rache. Er bittet um Vergebung für die, die Ihn ans Kreuz bringen und motiviert diese Bitte: „Sie wissen nicht, was sie tun“.
Diese Wort vom Nichtwissen kehrt dann in der Predigt des heiligen Petrus in der Apostelgeschichte wieder. Er erinnert die Masse, die sich nach der Heilung des Gelähmten in der Halle Salomos versammelt hat, zunächst daran, dass sie „den Heiligen und Gerechten verleugnet und die Freilassung eines Mörders gefordert“ hatte (Apg 3,14). „Den Urheber des Lebens habt ihr getötet, aber Gott hat Ihn von den Toten auferweckt“ (3,15). Nach dieser schmerzlichen Erinnerung, die schon zu seiner Pfingstpredigt gehört und die Menschen mitten ins Herz getroffen hat (2,37), fährt er fort: „Nun, Brüder, ich weiß, ihr habt aus Unwissenheit gehandelt, ebenso wie eure Führer“ (3,17).
Noch einmal erscheint das Motiv des Nichtwissens in einem autobiografischen Rückblick des heiligen Paulus Er erinnert daran, dass er selbst Jesus „früher lästerte, verfolgte und verhöhnte“; dann fährt er fort: „Aber ich habe Erbarmen gefunden, denn ich habe im Nichtwissen gehandelt, im Unglauben“ (1 Tim 1,13). Im Hinblick auf sein früheres Selbstbewusstsein als perfekter Gesetzesschüler, der die Schrift kannte und erfüllte, ist dies ein hartes Wort: Er, der bei den besten Meistern gelernt hatte und sich selbst als wahren Schriftgelehrten ansehen durfte, muss rückschauend bekennen, dass er unwissend war. Aber es ist die Unwissenheit, die ihn gerettet hat und die ihn der Bekehrung und der Vergebung fähig machte. Freilich, dieses Miteinander von gelehrtem Wissen und tiefem Unwissen muss nachdenklich machen. Es zeigt die Problematik eines Wissens auf, das selbstherrlich bleibt und so nicht die Wahrheit selbst erreicht, die den Menschen umgestalten müsste.
02.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Vorüberlegung: Wort und Ereignis im Passionsbericht (Teil IV)
Dann aber wandelt sich der Notschrei in ein Bekenntnis des Vertrauens, ja, in drei Verszeilen wird eine große Erhörung antizipiert und gefeiert. Zunächst: „Deine Treue preise ich in großer Gemeinde, in der die Erhörung des Schreienden, seine Rettung – die Auferstehung – gefeiert wird! Dem folgen zwei weitere überraschende Elemente. Das Heil betrifft nicht nur den Beter, sondern wird zur „Sättigung der Armen“ (v. 27). Mehr noch: „Alle Enden der Erde… werden umkehren zum Herrn: Vor Ihm werfen sich alle Stämme der Völker nieder" (v. 28).
Wie hätte die werdende Kirche aus diesen Versen nicht zum einen die „Sättigung der Armen“ in dem geheimnisvollen neuen Mahl heraushören sollen, das ihnen der Herr in der Eucharistie geschenkt hatte? Wie hätte sie darin zum anderen nicht das unerwartete Ereignis sehen dürfen, dass die Völker der Erde sich zum Gott Israels, zum Gott Jesu Christi bekehrten dass die Kirche Christi aus allen Völkern wuchs? Eucharistie (Lobpreisung: v. 26; Sättigung: v. 27) und Universalismus des Heils (v. 28) erscheinen als die große Erhörung von Gott her, die dem Schrei Jesu antwortet. Es ist wichtig, sich immer den weiten Ereignisbogen dieses Psalms vor Augen zu halten, um zu verstehen, warum er in der Kreuzesgeschichte eine so zentrale Rolle spielt.
Den zweiten Grundtext – Jes 53 – haben wir bereits im Zusammenhang des Hohepriesterlichen Gebets Jesu behandelt. Marius Reiser hat eine sorgfältige Analyse dieses geheimnisvollen Textes vorgelegt, bei deren Lektüre man wieder das Staunen der frühen Christenheit darüber erlernen kann, wie Zug um Zug der Weg Jesu Christi vorhergesagt ist. Der Prophet - nun gelesen mit allen Mitteln moderner kritischer Textanalyse - spricht als Evangelist.
Gehen wir jetzt zu einer kurzen Betrachtung der wesentlichen Elemente der Kreuzigungsberichte über.
01.09.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Vorüberlegung: Wort und Ereignis im Passionsbericht (Teil III)
In die Leidensgeschichte ist eine Vielzahl von Anspielungen auf alttestamentliche Texte eingewoben. Zwei davon sind von grundlegender Bedeutung, weil sie sozusagen den ganzen Bogen des Passionsgeschehens umspannen und theologisch durchlichten: Psalm 22 und Jes 53. Werfen wir daher im Voraus einen kurzen Blick auf diese beiden Texte, die für die Einheit von Schriftwort (Altes Testament) und Christus-Geschehen (Neues Testament) grundlegend sind.
Psalm 22 ist der große Notschrei des leidenden Israel zum scheinbar schweigenden Gott. Das Wort „schreien“, das dann auch in der Kreuzesgeschichte Jesu, besonders bei Markus, von zentraler Bedeutung ist, charakterisiert sozusagen die Tonart dieses Psalms. „Du bist fern meinem Schreien“, heißt es gleich zu Beginn. In den Versen 3 und 6 ist noch einmal von diesem Rufen die Rede. Die ganze Not des Leidenden vor dem scheinbar abwesenden Gott wird da hörbar. Hier reicht einfaches Rufen oder Bitten nicht mehr aus. In der äußersten Not wird das Gebet notwendigerweise zum Schrei.
Die Verse 7 – 9 sprechen von dem Spott, der den Beter umgibt. Dieser Spott wird zu einer Herausforderung Gottes und so erst recht zu einer Verhöhnung des Leidenden: „Der Herr reiße ihn heraus, wenn er an ihm Gefallen hat“: Das hilflose Leiden wird zum Beweis dafür herangezogen, dass Gott kein Gefallen an dem Gequälten habe. Vers 19 spricht vom Verlosen der Gewänder, wie es unter dem Kreuz tatsächlich stattgefunden hat.
31.08.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Vorüberlegung: Wort und Ereignis im Passionsbericht (Teil II)
Was hier in einem großen Gespräch mit zwei Jüngern zusammengefasst ist, war in der werdenden Kirche ein Prozess des Suchens und Reifens. Im Licht der Auferstehung, im Licht der neu geschenkten Weggemeinschaft mit dem Herrn musste man das Alte Testament neu zu lesen lernen. „Mit einem Ende des Messias am Kreuz hatte ja niemand gerechnet. Oder hatte man die entsprechenden Andeutungen in der Heiligen Schrift bisher nur übersehen?“ (Reiser, Bibelkritik, S. 332). Nicht die Schriftworte haben die Erzählung von Fakten hervorgerufen, sondern die zunächst unverständlichen Fakten haben zu einem neuen Verstehen der Schrift geführt.
Der so gefundene Einklang von Faktum und Wort bestimmt nicht nur die Struktur der Passionsberichte (und der Evangelien überhaupt), sondern ist konstitutiv für den christlichen Glauben. Ohne ihn ist das Werden der Kirche nicht zu verstehen, deren Botschaft eben durch dieses Ineinander von Sinn und Geschichte ihre Glaubwürdigkeit und ihre historische Relevanz empfing und weiter empfängt: Wo dieser Zusammenhang aufgelöst wird, wird die Grundstruktur des christlichen Glaubens selbst aufgelöst.
30.08.2021
8. Kapitel: Kreuzigung und Grablegung Jesu
Vorüberlegung: Wort und Ereignis im Passionsbericht (Teil I)
Alle vier Evangelisten erzählen uns von den Stunden des leidenden Jesus am Kreuz und von Seinem Tod – übereinstimmend in den großen Linien des Geschehens, aber mit unterschiedlichen Akzentuierungen in den Details. Das Besondere an diesen Berichten ist, dass sie angefüllt sind mit Anspielungen und Zitaten aus dem Alten Testament: Wort Gottes und Ereignis durchdringen einander. Die Fakten sind gleichsam mit Wort - mit Sinn - angefüllt; und auch umgekehrt: Was bisher nur Wort - oft unverständliches Wort - gewesen war, wird Wirklichkeit, und so erst erschließt es sich.
Hinter dieser besonderen Weise des Erzählens steht ein Prozess des Lernens, den die werdende Kirche durchschritten hat und der für ihr Entstehen konstitutiv war. Zunächst war Jesu Ende am Kreuz einfach ein irrationales Faktum gewesen, das Seine ganze Verkündigung und Seine ganze Gestalt in Frage stellte. Die Geschichte von den Emmaus-Jüngern (Lk 24,13-35) beschreibt das gemeinsame Unterwegssein, das Miteinander-Sprechen und Miteinander-Suchen als Vorgang, in dem sich die Dunkelheit der Seele durch das Mitgehen Jesu langsam lichtet (v. 15). Es wird sichtbar, dass Mose und die Propheten, dass „die gesamte Schrift“ von den Ereignissen dieser Passion gesprochen hatten (v. 26f): Das „Absurde“ erweist sich nun in seiner tiefen Bedeutung. In dem scheinbar sinnlosen Geschehen hat sich in Wahrheit der wirkliche Sinn der menschlichen Wanderschaft eröffnet, hat der Sinn über die Macht der Zerstörung und des Bösen gesiegt.
29.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil XXIII)
Als Präfekt vertrat Pilatus das römische Recht, auf dem die Pax Romana beruhte – der Friede des die Welt umspannenden Reiches. Dieser Friede war zum einen durch die militärische Macht Roms gesichert. Aber durch militärische Macht allein kann man keinen Frieden herstellen. Friede beruht auf Gerechtigkeit. Die Stärke Roms war sein Rechtssystem, die Rechtsordnung, auf die die Menschen sich verlassen durften. Pilatus – wiederholen wir es – kannte die Wahrheit, um die es in diesem Fall ging, und wusste daher, was die Gerechtigkeit von ihm verlangte.
Aber am Schluss siegte in ihm die pragmatische Auffassung des Rechts: Wichtiger als die Wahrheit des Falls ist die friedensstiftende Kraft des Rechts, mochte er denken und sich innerlich rechtfertigen. Eine Freisprechung des Unschuldigen konnte nicht nur ihm persönlich Schaden bringen - die Furcht davor war gewiss ein entscheidendes Motiv seines Handelns -; sie konnte auch weiteren Ärger und Unruhen hervorrufen, die gerade in den Pascha-Tagen vermieden werden mussten.
Der Friede ging ihm in diesem Fall über die Gerechtigkeit. Nicht nur die große, unzulängliche, sondern auch die konkrete Wahrheit des Falls musste zurücktreten: So glaubte er, den eigentlichen Sinn des Rechts zu erfüllen – seine friedensstiftende Funktion. Aber dass der Friede letztlich nicht gegen die Wahrheit geschaffen werden kann, sollte sich später zeigen.
28.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil XXII)
„Ecce homo“ – das Wort erhält selbst eine über den Augenblick hinausreichende Tiefe. In Jesus erscheint der Mensch überhaupt. In Ihm erscheint die Not aller Geschlagenen, Zerschundenen. In seiner Not spiegelt sich die Unmenschlichkeit menschlicher Macht, die den Machtlosen so niedertritt. In Ihm spiegelt sich, was wir Sünde nennen: wie der Mensch wird, wenn er sich von Gott abwendet und die Weltherrschaft selbst in die Hände nimmt.
Aber auch das andere gilt: Seine innerste Würde kann Jesus nicht genommen werden. Der verborgene Gott bleibt in Ihm gegenwärtig. Auch der geschlagene und erniedrigte Mensch bleibt Bild Gottes. Seit Jesus Sich schlagen ließ, sind gerade die Verwundeten und Geschlagenen Bild des Gottes, Der für uns leiden wollte. So ist Jesus mitten in Seiner Passion Bild der Hoffnung: Gott steht auf Seiten der Leidenden.
Am Ende setzte sich Pilatus auf den Richterstuhl. Noch einmal sagte er: „Seht euren König!“ (Joh 19,14). Dann spricht er das Todesurteil.
Zwar ist ihm die große Wahrheit, von der Jesus gesprochen hatte, unzugänglich. Aber die konkrete Wahrheit dieses Falls kannte er genau. Er wusste, dass dieser Jesus kein politischer Verbrecher war und dass das von Ihm beanspruchte Königtum keine politische Gefahr darstellte – dass er also freizusprechen war.
27.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil XXI)
Der dritte Akt ist die Dornenkrönung. Die Soldaten treiben ihr rohes Spiel mit Jesus.Sie wissen, dass Er beansprucht, ein König zu sein. Aber nun ist Er in ihren Händen und nun ist es ihre Lust, Ihn zu demütigen, an Ihm ihre Stärke zuu zeigen vielleicht auch stellvertretend an Ihm ihren Zorn auf die Großen abzuladen. Sie legen Ihm, Dem am ganzen Körper Zerschlagenen und Verwundeten, in karikierender Form die Zeichen kaiserlicher Majestät um: den purpurnen Mantel, die aus Dornen geflochtene Krone und das Zepter aus Schilf. Sie huldigen Ihm: „Sei gegrüßt, König der Juden“; ihre Huldigung besteht aus Ohrfeigen, mit denen sie noch einmal ihre ganze Verachtung für Ihn zeigen (Mt 27,28ff; Mk 16,17ff; Joh 19,2f).
Die Religionsgeschichte kennt die Figur des Spottkönigs – der Gestalt des „Sündenbocks“ verwandt. Auf ihn wir alles abgelden, was die Menschen bedrängt: So soll es fortgeschafft werden aus der Welt. Ohne es zu wissen, vollziehen die Soldaten das, was in jenen Riten und Gewohnheiten nicht geschehen konnte: „Zu unserem Heil lag die Strafe auf Ihm; durch Seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53,5). Als diese Spottgestalt wird Jesus zu Pilatus geführt, und Pilatus stellt Ihn der Menge – der Menschheit – vor: „Ecce homo – seht den Menschen“ (Joh 19,5). Der römische Richter ist wohl erschüttert über die geschlagene und verhöhnte Gestalt dieses geheimnisvollen Angeklagten. Er zählt auf das Mitleid derer, die Ihn sehen.
26.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil XX)
Die Anhänger Jesu fehlen auf dem Richtplatz, sie fehlen aus Furcht. Aber sie fehlen auch, weil sie nicht als Masse auftreten. Ihre Stimme wird an Pfingsten in der Petrus-Predigt hörbar, die nun jene Menschen „ins Herz“ trifft, die sich vorher für Barabbas entschieden hatten. Auf die Frage „Was sollen wir tun, Brüder?“ erhielten sie die Antwort: „Denkt um“ – erneuert und verwandelt euer Denken, euer Sein (vgl. Apg 2,37f). Das ist der Ruf, der angesichts der Barabbas-Szene und all ihrer Wiederholungen uns das Herz aufreißen und zur Wende des Lebens führen soll.
Den zweiten Akt fasst Johannes lakonisch in dem Satz zusammen: "Da nahm Pilatus Jesus und geißelte Ihn" (19,19). Geißelung war die Strafe, die im römischen Strafrecht als Begleitstrafe des Todesurteils vorgenommen wurde (Hangel/Schwemer, S. 609). Bei Johannes erscheint sie dagegen als Akt während des Verhörs, eine Maßnahme, zu der der Präfekt aufgrund seiner Polizeigewalt ermächtigt war. Es war eine äußerst barbarische Strafe; der Verurteilte wurde „von mehreren Folterknechten so lange geschlagen, bis diese ermüdeten und das Fleisch des Delinquenten in blutigen Fetzen herabhing“ (Blinzler, S. 321). Rudolf Pesch bemerkt dazu: Dass Simon von Zyrene Jesus den Kreuzesbalken tragen muss und dass Jesus so schnell stirbt, wird wohl mit Recht mit der Tortur der Geißelung in Zusammenhang gebracht, bei der andere Delinquenten bereits starben“ (Markusevangelium II,S. 467).
25.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil XIX)
Das Gegenüber von Jesus und Barabbas wie die theologische Bedeutung dieser Alternative habe ich im ersten Teil dieses Buches bereits ausführlich behandelt (S. 69f). So braucht hier nur noch kurz an das Wesentliche erinnert zu werden. Johannes nennt Barabbas nach unseren Übersetzungen einfach einen Räuber (18,40). Aber das griechische Wort, das er gebraucht, hatte im damaligen politischen Kontext auch die Bedeutung Terrorist bzw. Widerstandskämpfer angenommen. Dass dies gemeint ist, wird deutlich im Bericht des Markus: „Damals saß gerade ein Mann namens Barabbas im Gefängnis, zusammen mit anderen Aufrührern, die bei einem Aufstand einen Mord begangen hatten“ (15,7).
Barabbas („Sohn des Vaters“) ist eine Art messianischer Figur; zwei Auslegungen der messianischen Hoffnung stehen sich beim Angebot der Pascha-Amnestie gegenüber. Vom römischen Recht her handelt es sich um zwei der gleichen Straftat beschuldigten Delinquenten-Aufrührer gegen die Pax Romana. Es ist klar, dass Pilatus den gewaltlosen „Schwärmer“, der Jesus für ihn ist, vorzieht. Aber die Kategorien der Menge und auch der Tempelbehörde sind andere. Wenn die Tempel-Aristokratie als Äußeres zu dem Satz „Wir haben keinen König als den Kaiser“ (Joh 19,15) greift, ist dies nur scheinbar ein Verzicht auf die messianische Hoffnung Israels: Diesen König wollen wir nicht. Sie möchten eine andere Art von Lösung des Problems. Die Menschheit wird immer wieder vor dieser Alternative stehen: Ja zu dem Gott, Der nur mit der Macht der Wahrheit und der Liebe wirkt, oder Setzen auf Konkretes, Greifbares, auf die Gewalt.
24.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil XVIII)
Die Ankläger bemerken dies ganz offensichtlich und stellen nun eine Furcht gegen eine andere. Gegen die abergläubische Furcht vor einer möglichen göttlichen Gegenwart setzen sie die ganz praktische Furcht, der Gunst des Kaisers verlustig zu gehen, die Stellung zu verlieren und so ins Bodenlose zu stürzen. Die Aussage „Wenn du Diesen freigibst, bist du kein Freund des Kaisers“ (Joh 19,12) ist eine Drohung. Am Ende ist die Angst um die Karriere stärker als die Furcht vor den göttlichen Mächten.
Aber dem Schlussentscheid geht noch ein dramatisches und schmerzhaftes Zwischenspiel in drei Akten voraus, das wir wenigstens in Kürze bedenken müssen.
Der erste Akt besteht darin, dass Pilatus Jesus als einen Kandidaten für die Pascha-Amnestie vorstellt und Ihn auf diese Weise frei zu bekommen versucht. Damit freilich begibt er sich in eine fatale Situation. Wer als Kandidat für die Amnestie angeboten wird, ist an sich schon verurteilt. Nur so hat die Amnestie Sinn. Wenn der Menge das Akklamationsrecht zukommt, dann ist nach ihrem Zuruf derjenige als verurteilt anzusehen, den sie nicht gewünscht hat. Insofern ist im Vorschlag zur Freigabe auf dem Weg der Amnestie im Stillen schon eine Verurteilung eingeschlossen.
23.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil XVII)
Für Pilatus ist nach dem Verhör klar, was er auch vorher im Prinzip schon gewusst hatte. Dieser Jesus ist kein politischer Aufrührer, Seine Botschaft und Sein Auftreten sind keine Gefahr für die römische Herrschaft. Ob Er gegen die Tora verstoßen hat, geht ihn, den Römer, nichts an.
Es scheint aber, dass Pilatus auch eine gewisse abergläubische Scheu gegenüber dieser merkwürdigen Gestalt empfand. Gewiss, Pilatus war Skeptiker. Aber als antiker Mensch rechnete er doch damit, dass Götter oder jedenfalls gottähnliche Wesen in Menschengestalt auftreten konnten. Johannes sagt, dass „die Juden“ Jesus beschuldigten, sich zum Sohn Gottes zu machen. Er fährt fort: „Als Pilatus das hörte, fürchtete er sich noch mehr“ (19,8).
Ich denke, mit dieser Furcht muss man bei Pilatus rechnen: Vielleicht war wirklich etwas Göttliches in diesem Menschen? Vielleicht vergriff er sich gegen göttliche Macht, wenn er Ihn verurteilte? Vielleicht musste er mit dem Zorn dieser Mächte rechnen? Ich denke, seine Haltung in diesem Prozess erklärt sich nicht nur aus einem gewissen Willen zur Rechtlichkeit heraus, sondern gerade auch von diesen Vorstellungen her.
22.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil XVI)
Im Gespräch zwischen Jesus und Pilatus geht es um das Königtum Jesu und so um das Königtum, das „Reich“ Gottes. Gerade im Gespräch Jesu mit Pilatus wird sichtbar, dass es keinen Bruch zwischen der galiläischen Verkündigung Jesu – Reich Gottes – und Seinen Jerusalemer Predigten gibt. Das Zentrum der Botschaft ist bis ans Kreuz hin – bis zur Kreuzesinschrift – das Reich Gottes, das neue Königtum, für das Jesus steht. Dessen Zentrum aber ist die Wahrheit. Das von Jesus in Gleichnissen und zuletzt ganz offen vor dem weltlichen Richter erkündigte Königtum ist eben das Königtum der Wahrheit. Um das Aufrichten dieses Königtums als die wahre Befreiung des Menschen geht es.
Zugleich wird sichtbar, dass zwischen der vorösterlichen Zentrierung auf das Reich Gottes und der nachösterlichen Zentrierung auf den Glauben an Jesus Christus als Sohn Gottes kein Widerspruch besteht. In Christus ist Gott – die Wahrheit – in die Welt hereingetreten. Christologie ist konkret gewordene Verkündigung von Gottes Reich.
21.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil XV)
Was ist Wahrheit? Diese Frage hat nicht nur Pilatus als unlösbar und für Seine Aufgabe unpraktikabel beiseite geschoben. Sie wird auch heute im politischen Disput wie im Disput um die Gestaltung des Rechts meist als störend empfunden. Aber ohne Wahrheit lebt der Mensch an sich selbst vorbei, überlässt er das Feld letztlich den Stärkeren. „Erlösung“ im vollen Sinn kann nur darin bestehen, dass die Wahrheit erkennbar wird. Und sie wird erkennbar, wenn Gott erkennbar wird. Er wird erkennbar in Jesus Christus. In Ihm ist Gott in die Welt hereingetreten und hat damit den Maßstab der Wahrheit inmitten der Geschichte aufgerichtet. Die Wahrheit ist äußerlich in der Welt ohnmächtig, wie Christus nach den Maßstäben der Welt ohnmächtig ist: Er hat keine Legionen. Er wird gekreuzigt. Aber gerade so, in Seiner Ohnmacht, her Er Macht, und nur so wird Wahrheit immer neu zur Macht.
20.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil XIV)
Sagen wir es ruhig: Die Unerlöstheit der Welt besteht eben in der Unlesbarkeit der Schöpfung in der Unerkennbarkeit der Wahrheit, die dann zur Herrschaft des Pragmatischen zwingt und so die Macht der Starken zum Gott dieser Welt werden lässt.
An dieser Stellt ist man als moderner Mensch versucht zu sagen:ns ist dank der Wissenschaft die Schöpfung lesbar geworden. In der Tat sagt beispielsweise Francis S. Collins, der das Human Genome Project leitete, mit freudigem Erstaunen: „Die Sprache Gottes war entschlüsselt“ (The Language of God, S. 99). Ja wirklich, in der großartigen Mathematik der Schöpfung, die wir im gentischen Code des Menschen heute lesen können, vernehmen wir die Sprache Gottes. Aber leider nicht die ganze Sprache. Die funktionelle Wahrheit über den Menschen ist sichtbar geworden. Aber die Wahrheit über Ihn selbst – wer Er ist, woher Er kommt, was Er soll und was das Gute ist oder das Böse – die kann man leider auf solche Weise nicht lesen. Mit der wachsenden Erkenntnis der funktionellen Wahrheit scheint vielmehr eine zunehmende Erblindung für „die Wahrheit“ selbst Hand in Hand zu gehen – für die Frage nach dem, was wir wirklich sind und was wir wirklich sollen.
19.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil XIII)
Mit dieser Formel sind wir in der Nähe dessen, was Jesus sagen will, wenn Er von der Wahrheit spricht, für die zu zeugen Er in die Welt gekommen ist. In der Welt sind Wahrheit und Irrtum, Wahrheit und Lüge immer wieder fast untrennbar vermischt. Die Wahrheit in ihrer ganzen Größe und Reinheit erscheint nicht. Die Welt ist „wahr“, insoweit sie Gott, den schöpferischen Sinn, die ewige Vernunft, spiegelt, aus der sie gekommen ist. Und sie wird umso wahrer, je mehr sie sich Gott annähert. Der Mensch wird wahr, wird er selbst, wenn er gottgemäß wird. Dann kommt er zu seinem eigentlichen Wesen. Gott ist die Sein und Sinn gebende Wirklichkeit.
„Für die Wahrheit Zeugnis geben“ heißt, Gott und Seinen Willen den Interessen der Welt und ihren Mächten gegenüber zur Geltung zu bringen. Gott ist der Maßstab des Seins. In diesem Sinn ist die Wahrheit der wirkliche „König“, der allen Dingen ihr Licht und ihre Größe gibt. Wir können auch sagen: Zeugnis für die Wahrheit geben bedeutet, von Gott, der schöpferischen Vernunft, her die Schöpfung lesbar und ihre Wahrheit so zugänglich zu machen, dass sie Maßstab und wegweisendes Kriterium in der Welt des Menschen sein kann – dass den Großen und Mächtigen die Macht der Wahrheit, das gemeinsame Recht, das Recht der Wahrheit entgegentritt.
18.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil XII)
Was ist Wahrheit? Die skeptisch hingeworfene Frage des Pragmatikers ist eine sehr ernste Frage, in der es in der Tat um das Geschick der Menschheit geht. Was also ist Wahrheit? Können wir sie erkennen? Kann sie als Maßstab in unser Denken und Wollen hereintreten, sowohl im Einzelnen wie im Leben der Gemeinschaft?
Die klassische Wahrheitsdefinition der scholastischen Philosophie bezeichnet Wahrheit als „adaequatio intellectus et rei – Entsprechung zwischen Verstehen und Wirklichkeit“ (Thomas von Aquin, S. theolog. I q. 21 a. 2 c). Wenn der Verstand eines Menschen eine Sache so widerspiegelt, wie sie in sich selber ist, dann hat der Mensch Wahrheit gefunden. Aber nur einen kleinen Ausschnitt aus dem, was wirklich ist – nicht die Wahrheit in ihrer Größe und als Ganze.
Schon näher kommen wir an die Intention Jesu mit einem anderen Wort des heiligen Thoms heran: “Die Wahrheit ist im Intellekt Gottes im eigentlichen Sinn und zuerst (primo et proprie); im menschlichen Intellekt aber ist sie eigentlich und abgeleitet (proprie quidem sed secundario)“ (De verit. q. 1 a. 4 c). Und so ergibt sich schließlich die lapidare Formel: Gott ist „ipsa summa et prima veritas – die höchste und erste Wahrheit Selbst“ (S. theolog. I q. 16 a. 5 c).
17.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil XI)
Es ist die Frage, die auch die moderne Staatslehre stellt: Kann Politik Wahrheit als Kategorie für ihre Struktur annehmen? Oder muss sie die Wahrheit als das Unzugängliche der Subjektivität überlassen und stattdessen sehen, wie sie mit den verfügbaren Instrumenten der Ordnung von Macht zu Rande kommt, um Frieden und Gerechtigkeit zu stiften? Macht sie sich nicht, auf Wahrheit setzend, angesichts der Unmöglichkeit eines Einverständnisses über die Wahrheit zum Werkzeug bestimmter Traditionen, die in Wirklichkeit doch nur Formen des Machterhalts darstellen?
Aber andererseits – was geschieht, wenn Wahrheit nicht zählt? Welche Gerechtigkeit ist dann möglich? Muss es nicht gemeinsame Maßstäbe geben, die wirklich Gerechtigkeit für alle verbürgen – Maßstäbe, die der Willkür der wechselnden Meinungen und der Machtkonzentrationen entzogen sind? Ist es nicht wahr, dass die großen Diktaturen von der Macht der ideologischen Lüge gelebt haben und dass nur die Wahrheit befreien konnte?
16.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil X)
Mit diesen Worten hat Jesus einen durchaus neuen Begriff von Königtum und Reich geschaffen und Pilatus, den Vertreter der klassischen weltlichen Macht, damit konfrontiert. Was soll Pilatus und was sollen wir von diesem Begriff eines Reichs und eines Königtums halten? Ist es unwirklich, eine Schwärmerei, die man übergehen kann? Oder geht es uns irgendwie an?
Jesus hat neben der klaren Abgrenzung des Reich-Begriffs (niemand kämpft, irdische Machtlosigkeit) einen positiven Begriff eingeführt, um das Wesen und die eigene Art der Macht dieses Königtums zugänglich zu machen: die Wahrheit. Pilatus hat im weiteren Verlauf des Verhörs einen anderen Begriff ins Spiel gebracht, der Seiner Welt entstammt und normalerweise mit „Reich“ verbunden wird: Macht – Vollmacht (exousia). Herrschaft verlangt Macht, definiert sie geradezu. Jesus dagegen definiert als Wesen Seines Königtums das Zeugnis für die Wahrheit. Ist Wahrheit eine politische Kategorie? Oder hat das „Reich“ Jesu mit Politik nichts zu tun? Welcher Ordnung gehört es dann an?
Wenn Jesus Sein Konzept von Königtum und Reich auf Wahrheit als fundamentaler Kategorie gründet, fragt der Pragmatiker Pilatus durchaus verständlicherweise: „Was ist Wahrheit?“ (18,38).
15.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil IX)
Aber im Verhör gibt es unvermittelt doch einen erregenden Augenblick: das Bekenntnis Jesu. Auf die Frage des Pilatus „Also bis Du ein König?“ antwortet Er: „Du sagst es, Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf Meine Stimme“ (Joh 18,37). Vorher schon hatte Jesus gesagt: „Mein Königtum (Reich) ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden Meine Leute kämpfen, damit Ich nicht den Juden ausgeliefert würde. Aber Mein Königtum ist nicht von hier“ (18,36).
Dieses „Geständnis“ Jesu stellt Pilatus vor eine merkwürdige Situation: Der Angeklagte beansprucht Königtum und Königreich (basileia). Aber Er betont die totale Andersheit Seines Königtums, und zwar mit dem konkreten Punkt, der für den römischen Richter entscheidend sein muss: Niemand kämpft für dieses Königtum. Wenn Macht, und zwar militärische Macht charakteristisch ist für Königtum und Reich, so ist nichts davon bei Jesus vorhanden. Insofern gibt es auch keine Bedrohung der römischen Ordnungen. Dieses Reich ist gewaltlos. Es verfügt über keine Divisionen.
14.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil VIII)
Die Anklage, Jesus erkläre sich zum König der Juden, wog schwer. Rom konnte zwar durchaus regionale Könige- wie Herodes – anerkennen, aber sie mussten von Rom legitimiert sein und von Rom die Umschreibung und die Umgrenzung ihrer Hoheitsrechte erhalten. Ein König ohne diese Legitimität war ein Aufrührer, der die Pax Roma bedrohte und damit des Todes schuldig war.
Aber Pilatus wusste, dass von Jesus keine Aufstandsbewegung ausgegangen war. Nach allem, was er gehört hatte, muss ihm Jesus als ein religiöser Schwärmer erschienen sein, der vielleicht jüdische Rechts- und Glaubensordnungen verletzte, aber das betraf ihn nicht. Darüber mussten die Juden selbst richten. Von den römischen Rechts- und Herrschaftsordnungen her, die seiner Kompetenz zugehörten, lag nichts Ernstliches gegen Jesus vor.
An dieser Stelle müssen wir uns von den Erwägungen über die Person des Pilatus dem Prozess selbst zuwenden. In Joh 18,34f wird klar gesagt, dass bei Pilatus von seinen eigenen Informationen her nichts gegen Jesus vorlag. Der römischen Behörde war nichts bekannt geworden, was irgendwie den Rechtsfrieden bedroht hätte. Die Anklage kam von Jesu eigenen Landsleuten, von der Tempelbehörde. Es musste Pilatus verwundern, dass Jesu Landsleute ihm als Verteidiger Roms gegenübertraten, wo seine eigenen Kenntnisse einen Eingriff nicht als erforderlich erscheinen ließen.
13.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil VII)
Kommen wir von den Anklägern zun Richter: dem römischen Statthhalter Pontius Pilatus. Während Flavius Josephus und besonders Philon von Alexandrien ein ganz negatives Bild von ihm zeichnen, erscheint er in anderen Zeugnissen als entscheidungsfreudig, pragmatisch und realistisch. Man sagt vielfach, die Evangelien hätten ihn von einer politisch motivierten romfreundlichen Tendenz her zunehmend positiv gestaltet und die Verantwortung für den Tod Jesu immer mehr den Juden angelastet. Aber für eine solche Tendenz gab es in der historischen Situation der Evangelisten keine Gründe: Als die Evangelien geschrieben wurden, hatte die neronische Verfolgung bereits die grausame Seite des römischen Staates und die ganze Willkür der kaiserlichen Macht gezeigt. Wenn wir die Apokalypse ungefähr gleichzeitig mit dem Johannes-Evangelium datieren dürfen, so wird sichtbar, dass das vierte Evangelium nicht in einem Kontext entstand, der zu einer romfreundlichen Darstellung Anlass gegeben hätte.
Das Pilatus-Bild der Evangelien zeigt uns ganz realistisch den römischen Präfekten als einen Mann, der brutal einzufreifen wusste, wenn ihm dies der öffentlichen Ordnung wegen angezeigt schien. Aber er wusste auch, dass Rom seine Weltherrschaft nicht zuletzt der Toleranz fremden Gottheiten gegenüber und der friedenstiftenden Kraft des römischen Reiches verdankte. So tritt er uns im Prozess Jesu gegenüber.
12.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil VI)
Bei diesen Worten ist – wie schon beim Bedenken der eschatologischen Rede Jesu gezeigt – an die innere Entsprechung zwischen der Botschaft des Propheten Jeremia und der Botschaft Jesu zu erinnern. Jeremia kündigt – gegen die Verblendung der damaligen herrschenden Kreise – die Zerstörung des Tempels und die Verbannung Israels an. Aber er spricht auch von einem „Neuen Bund“: Züchtigung ist nicht das letzte Wort, sie dient der Heilung. Ebenso kündigt Jesus das „verlassene Haus“ an und schenkt schon jetzt den Neuen Bund „in Seinem Blut“: Letztlich geht es um Heilung, nicht um Zerstörung und Verstoßung.
Wenn nach Matthäus das „ganze Volk“ gesagt habe: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ (27,25), dann wird der Christ sich daran erinnern, dass Jesu Blut eine andere Sprache spricht als das Blut Abels (Hebr 12,24): Es ruft nicht nach Rache und nach Strafe, sondern es ist Versöhnung. Es wird nicht gegen jemand vergossen, sondern es ist Blut, vergossen für viele, für alle. „Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren… Ihn (Jesus) hat Gott dazu bestimmt, Sühne zu leisten mit Seinem Blut“, sagt Paulus (Röm 3,23.25). Wie man den Spruch des Kajaphas über den notwendigen Tod Jesu vom Glauben her ganz neu lesen muss, so auch das Matthäus-Wort vom Blut: Vom Glauben her gelesen heißt es, dass wir alle die reinigende Kraft der Liebe brauchen, die Sein Blut ist. Es ist nicht Fluch, sondern Erlösung, Heil. Nur von der Abehndmahls- und Kreuzestheologie des ganzen Neuen Testaments her erhält das matthäische Blutwort seinen richtigen Sinn.
11.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil V)
Eine in ihren Folgen verhängnisvolle Ausweitung des markinischen Ochlos findet sich bei Matthäus (27,25), der nun stattdessen vom „ganzen Volk“ spricht und ihm den Ruf nach der Kreuzigung Jesu zuschreibt. Matthäus drückt damit sicher nicht einen historischen Befund aus: Wie hätte das ganze Volk in diesem Augenblick anwesend sein und nach Jesu Tod rufen können? Die historische Realität erscheint offenkundig richtig bei Johannes und bei Markus. Die eigentliche Klägergruppe sind die bestehenden Tempelkreise, und im Rahmen der Pascha-Amnestie gesellt sich ihnen der „Haufen“ der Parteigänger des Barabbas bei.
Man wird wohl Joachim Gnilka darin recht geben dürfen, dass Matthäus – das Historische übersteigend – eine theologische Ätiologie formulieren wollte, mit der er sich das furchtbare Geschick Israels im Jüdisch-Römischen Krieg erklärt, in dem Land, Stadt und Tempel dem Volk genommen wurden (vgl. Matthäusevangelium II, S. 459). Matthäus denkt dabei wohl an Jesu Worte, in denen dieser das Ende des Tempels vorhersagt: “Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte Ich deine Kinder um Mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt. Darum wird euer Haus verlassen…“ (Mt 23,37f; vgl. bei Gnilka den ganzen Abschnitt „Gerichtsworte“, S 295-308).
10.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil III)
Bei Markus erscheint im Kontext der Pascha-Amnestie (Barabbas oder Jesus) der Kreis der Kläger ausgeweitert: Der „Ochlos“ tritt in Erscheinung und optiert für die Freigabe des Barabbas. „Ochlos“ bedeutet zunächst einfach einen Haufen Leute, „die Menge“. Das Wort hat nicht selten einen negativen Beiklang in Richtung „Pöbel“. Jedenfalls ist damit nicht „das Volk“ der Juden bezeichnet. Bei der Pascha-Amnestie (die wir freilich aus anderen Quellen nicht kennen, an der aber nicht zu zweifeln ist) hat das Volk – wie bei solchen Amnestien üblich - ein Vorschlagsrecht, das in der "Akklamation" zum Ausdruck kommt: Der Zuruf des Volkes hat in diesem Fall rechtlichen Charakter (vgl, Pesch, Markuseangelium II, S. 466). Faktisch handelt es sich bei diesem „Haufen“ um die für die Amestie mobilisierte Anhängerschaft des Barabbas, der als Aufrührer gegen die römische Macht natürlich auf eine Anzahl von Freunden rechnen durfte. Anwesend waren also die Parteigänger des Barabbas, der „Haufen“, während die Anhänger Jesu aus Furcht verborgen blieben, wodurch die Volksstimme, auf die das römische Recht baute, einseitig repräsentiert war. So tritt zwar bei Markus neben „die Juden“, das heißt die maßgebenden Priesterkreise, der Ochlos, der Anhängerkreis des Barabbas, aber nicht das jüdische Volk als solches.
09.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil III)
Aber fragen wir zunächst: Wer genau waren die Ankläger? Wer hat auf das Todesurteil Jesu gedrängt? In den Antworten der Evangelien gibt es Differenzen, die wir bedenken müssen. Nach Johannes sind es einfach „die Juden“. Aber dieser Ausdruck bezeichnet bei Johannes keineswegs – wie der moderne Leser vielleicht zu lesen geneigt ist – das Volk Israel als solches, noch weniger hat er „rassistischen“ Charakter. Schließlich war Johannes vom Volk her selbst Jude, genauso wie Jesus und all die Seinigen. Die ganze Urgemeinde bestand aus Juden. Bei Johannes hat dieses Wort eine präzis und streng umgrenzte Bedeutung: Er benennt damit die Tempel-Aristrokratie. So ist der Kreis der Ankläger, die den Tod Jesu betreiben, im vierten Evangelium genau umschrieben und klar begrenzt: eben die Tempel-Aristrokratie – auch sie freilich nicht ausnahmslos, wie der Hinweis auf Nikodemus (7,50ff) zeigt.
08.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil II)
Bei der Schilderung des Prozessverlaufs stimmen die vier Evangelien in allem Wesentlichen überein. Johannes allein berichtet von dem Gespräch zwischen Jesus und Pilatus, in dem die Frage nach dem Königtum Jesu, nach dem Grund Seines Sterbens in ihrer ganzenTiefe ausgemessen wird (18,33-38). Die Frage nach dem historischen Wert dieser Überlieferung ist – selbstverständlich – bei den Auslegern umstritten. Während Charles H. Dodd und auch Raymond E. Brown sie positiv beurteilen, äußert sich Charles K. Barrett extrem kritisch. „Die Ergänzungen und Veränderungen, die Johannes vornimmt, flößen kein Vertrauen in seine historische Zuverlässigkeit ein“ (a.a.O., S. 511). Es wird gewiss niemand voraussetzen, dass Johannes so etwas wie ein Prozessprotokoll bieten will. Wohl aber darf man annehmen, dass er die Kernfrage, um die es ging, mit großer Genauigkeit auszulegen wusste und uns vor die eigentliche Wahrheit dieses Prozesses stellt. So sagt denn auch Barrett, „dass Johannes höchst scharfsinnig den Schlüssel der Passionsgeschichte im Königtum Jesu herausgefunden und dessen Sinn vielleicht deutlicher als irgendein anderer neutestamentlicher Autor herausgestellt hat“ (S512).
07.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Jesus vor Pilatus (Teil I)
Das Verhör Jesu vor dem Hohen Rat hatte in einer Weise geschlossen, wie Kajaphas es erwartet hatte: Jesus wurde der Blasphemie für schuldig befunden, auf die die Todesstrafe stand.
Da aber die Blutgerichtsbarkeit den Römern vorbehalten war, musste der Prozess zu Pilatus verlegt werden und damit die politische Seite des Schuldspruchs in den Vordergrund treten. Jesus hatte sich als Messias bekannt also die Königwürde in Anspruch genommen, wenn auch auf ganz eigene Weise. Der Anspruch auf das messianische Königtum war ein politisches Vergehen, das von der römischen Justiz geahnt werden musste. Mit dem Hahnenschrei war der Tag angebrochen. Der römische Statthalter pflegte in den früheren Morgenstunden zu Gericht zu sitzen.
So wird Jesus nun von Seinen Anklägern zum Prätorium geführt und dem Pilatus als todeswürdiger Missetäter vorgestellt. Es ist „Rüsttag“ zum Pascha-Fest: Die Lämmer werden am Nachmittag geschlachtet für das abendliche Mahl. Dafür ist kultische Reinheit erforderlich; so können die priesterlichen Ankläger das heidnische Prätorium nicht betreten und verhandeln mit dem Römer vor dem Gebäude. Johannes, der uns diese Notiz übermittelt (18,28f), lässt damit den Widerspruch zwischen korrekter Einhaltung der kultischen Reinheitsvorschriften und der Frage der inneren, eigentlichen Reinheit des Menschen durchscheinen: Dass nicht das Betreten des heidnischen Hauses verunreinigt, sondern die innere Gesinnung des Herzens, kommt den Anklägern nicht in den Sinn. Zugleich unterstreicht der Evangelist damit, dass das Pascha-Mahl noch nicht stattgefunden hat und dass die Schlachtung der Lämmer noch bevorsteht.
06.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
2. Jesus vor dem Hohen Rat (Teil X)
Zur selben Zeit versichert Petrus zum dritten Mal, dass er nichts mit Jesus zu tun habe. „Gleich darauf krähte der Hahn zum zweiten Mal, und Petrus erinnerte sich…“ (Mk 14,72). Der Hahnenschrei wurde als Zeichen für das Ende der Nacht angesehen: Er eröffnete den Tag. Auch für Petrus endet mit dem Krähen des Hahns die Nacht der Seele, in die er versunken war. Das Wort Jesu von seiner Verleugnung noch vor dem Hahnenschrei steht plötzlich wieder vor ihm – und nun in seiner schrecklichen Wahrheit. Lukas fügt noch die Nachricht hinzu, dass in diesem Augenblick der gefesselte und verurteilte Jesus abgeführt wird, um vor das Gericht des Pilatus gebracht zu werden. Jesus und Petrus begegnen sich. Jesu Blick trifft die Augen und die Seele des untreuen Jüngers. Und Petrus „ging hinaus und weinte bitterlich (Lk 22,62).
05.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
2. Jesus vor dem Hohen Rat (Teil IX)
Für den Hohepriester und die Versammelten war jedenfalls mit Jesu Antwort der Tatbestand der Gotteslästerung erfüllt, und Kajaphas „zerriss sein Gewand und rief: Er hat Gott gelästert!“ (Mt 26,65). „Das Einreißen des Gewandes, das der Hohepriester vornimmt, geschieht nicht aus Erregung, sondern ist für den amtierenden Richter beim Anhören einer Gotteslästerung als Zeichen der Empörung vorgeschrieben“ (Gnilka, Matthäusevangelium II, S. 429). Nun bricht über Jesus, Der Sein Kommen in Herrlichkeit vorhergesagt hatte, der brutale Spott jener herein, die sich als die Stärkeren wissen und Ihn ihre Macht, ihre ganze Verachtung spüren lassen. Der, vor dem sie die Tage zuvor noch Angst gehabt hatten, ist nun in ihrer Hand. Der feige Konformismus schwacher Seelen fühlt sich stark im Losgehen auf Den, Der nur noch Ohnmacht zu sein scheint.
Sie merken nicht, dass sie gerade in der Verhöhnung und im Zuschlagen das Geschick des Gottesknechtes an Jesus wörtlich erfüllen (vgl. Gnilka, S. 430): Erniedrigung und Erhöhung greifen geheimnisvoll ineinander. Gerade als der Geschlagene ist Er der Menschensohn, kommt Er in der Wolke der Verhüllung von Gott und richtet das Reich des Menschensohns, das Reich der von Gott kommenden Menschlichkeit auf. „Von jetzt an werdent ihr sehen…“, hatte Jesus nach Matthäus (26,64) in einer erregenden Paradoxie gesagt. Von jetzt an – es beginnt ein Neues. Die Geschichte hindurch sehen Menschen auf das geschändete Antlitz Jesu hin und erkennen gerade darin die Herrlichkeit Gottes.
04.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
2. Jesus vor dem Hohen Rat (Teil VIII)
Aus alldem geht hervor: Jesus hat den von der Tradition her vieldeutigen Messias-Titel angnommen, aber ihn zugleich in einer Weise präzisiert, die einen Schuldspruch herbeiführen musste, den Er mit einer Abweisung oder mit einer gemilderten Fassung des Messianismus hätte vermeiden können. Er gibt Vorstellungen keinen Raum, die auf ein politisches oder kriegerisches Verständnis der Wirksamkeit des Messias hinauslaufen könnten. Nein, der Messias - Er Selbst – wird als Menschensohn mit den Wolken des Himmels kommen. Sachlich ist das ziemlich genau dasselbe, was uns bei Johannes in dem Wort begegnet: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (18,36). Er beansprucht, zur Rechten der Macht zu sitzen, das heißt in der Weise des danielischen Menschensohns zu kommen, von Gott her, um von Ihm her das endgültige Reich zu errichten.
Dies musste den Mitgliedern des Hohen Rates als politisch unsinnig und als theologisch unannehmbar erscheinen, denn damit war nun in der Tat eine Nähe zur „Macht“, eine Teilhabe an Gottes eigenem Wesen angesagt, die als lästerlich verstanden wurde. Allerdings, Jesus hatte nur Schriftworte miteinander verknüpft und Seine Sendung „schriftgemäß“, in Worten der Schrift selbst, ausgedrückt. Aber den Mitgliedern des Synedriums erschien die Anwendung der hohen Worte der Schrift auf Jesus offenbar als unterträglicher Angriff auf die Höhe Gottes, auf Seine Einzigkeit.
03.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
2. Jesus vor dem Hohen Rat (Teil VII)
Matthäus setzt in der Formulierung der Frage einen besonderen Akzent, Nach ihm fragt Kajaphas: Bist du der Sohn Gottes Selbst?" Er lässt so direkt das Bekenntnis des Petrus zu Caesarea Philippi anklingen: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes“ (16,16). Im selben Augenblick, in dem der Hohepriester das Bekenntnis Petri als Frage an Jesus richtet, behauptet derselbe Petrus, nur durch eine Tür von Jesus getrennt, Ihn nicht zu kennen. Während Jesus das „schöne Bekenntnis“ ablegt (vgl. 1 Tim 6,13), verleugnet der Vor-Beter dieses Bekenntnisses das, was er damals „vom Vater aus den Himmeln“ empfangen hatte; nun spricht nur noch „Fleisch und Blut“ aus ihm (vgl. Mt 16,17).
Nach Markus hat Jesus auf die Frage, an der Sein Geschick hing, ganz einfach und klar geantwortet: „Ich bin es“. (Klingt darin nicht vielleicht Ex 3,14 durch: „Ich bin der Ich-bin“?).
Aber Jesus definiert dann doch mit einem Wort aus Psalm 110,1 und Daniel 7,13 näher, wie Messianität und Sohnschaft zu verstehen sind. Matthäus fasst die Antwort Jesu zurückhaltender: „Du hast es gesagt. Doch Ich sage euch…“ (26,64). Jesus gibt so Kajaphas nicht unrecht, stellt Seiner Formulierung aber doch die Weise entgegen, in der Er Selbst Seinen Auftrag verstanden wissen will – mit Worten der Schrift. Lukas schließlich trennt zwei verschiedene Fragen voneinander )vgl. 22,7-70): Auf die Aufforderung des Hohen Rates: „Wenn Du der Messias bist, dann sag es uns“ antowortet der Herr mit einem Rätselspruch , also nicht offen zustimmend und auch nicht klar ablehnend. Darauf folgt Sein eigenes, aus Ps 110 und Dan 7 gewobenes Bekenntnis, und dann - nach der nachhakenden Frage des Hohen Rates: „Du bist also der Sohn Gottes?“ – antwortet Er: „Ihr sagt es, Ich bin es“.
02.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
2. Jesus vor dem Hohen Rat (Teil VI)
Kommen wir zum Entscheidenden: zur Frage des Kajaphas und zur Antwort Jesu. Matthäus, Markus und Lukas weichen in der Wiedergabe der Formulierungen im Einzelnen voneinander ab; ihre Fassung des Textes ist durch den Gesamtzusammenhang des Evangeliums und durch die Bezogenheit auf die Verstehensmöglichkeiten ihrer Adressaten mitgeprägt. Wie im Fall der Abendmahlsworte, so ist auch hier eine strikte Rekonstruktion der Kajaphas-Frage und der Antwort Jesu nicht möglich. Das Wesentliche des Vorgangs erscheint dennoch in den drei unterschiedlichen Brechungen durchaus eindeutig und klar. Es gibt gute Gründe dafür, anzunehmen, dass die Fassung des heiligen Markus uns am meisten den ursprünglichen Wortlaut dieses dramatischen Dialogs vernehmen lässt. Aber in der abweichenden Fassung bei Matthäus und Lukas kommen wichtige Aspekte zur Erscheinung, die uns helfen, den Tiefgang des ganzen besser zu verstehen.
Bei Markus lautet die Frage des Hohepriesters: „Bist Du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?“ Jesus antwortete: „Ich bin es. Und ihr werdet den Menschensohn zu Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen“ (14,62). Dass der Gottesname und das Wort „Gott“ vermieden und durch die Worte „der Hochgelobte“ und „die Macht“ ersetzt werden, ist Zeichen für die Ursprünglichkeit des Textes. Der Hohepriester fragt Jesus nach Seiner Messianität und bestimmt sie gemäß Ps. 2,7 (vgl. Ps 110,3) mit dem Wort „Sohn des Hochgelobten“ – Sohn Gottes. Von der Frage her gehört dieses Prädikat zur messianischen Überliefung, wobei freilich die Art der Sohnschaft offenbleibt. Mn kann davon ausgehen, dass Kajaphas die Frage nicht nur an theologische Überlieferungen anlehnt, sondern sie gerade auch von der Verkündigung Jesu her formuliert hat, die ihm bekannt geworden war.
01.08.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
2. Jesus vor dem Hohen Rat (Teil V)
In den vier Evangelien erscheint dieser weltgeschichtliche Augenblick als ein Drama, in dem drei verschiedene Ebenen ineinander greifen, die man zusammen sehen muss, um das Geschehen in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen (vgl. Mt 26,57-75; Mk 14,53-72, Lk 22,54-71; Joh 18,12-27). Zu derselben Zeit, zu der Kajaphas Jesus verhört und schließlich die Frage nach Seiner messianischen Identität stellt, sitzt Petrus im Vorhof des Palastes und verleugnet Jesus. Besonders Johannes hat die chronologische Verschränkung beider Ereignisse eindrucksvoll dargestellt, Matthäus lässt in seiner Version der messianischen Frage vor allem den inneren Zusammenhang zwischen dem Bekenntnis Jesu und der Verleugnung Petri sichtbar werden.
Unmittelbar mit dem Verhör Jesu verflochten ist aber auch die Verspottung durch die Tempelknechte (oder durch die Ratsherren selbst?), der im Pilatus-Prozess die Verspottung durch die römischen Soldaten folgen wird.
31.07.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
2. Jesus vor dem Hohen Rat (Teil IV)
Wie die Ereignisse des Jüdischen Krieges zeigen, gab es im Hohen Rat gewiss Kreise, die einer Befreiung Israels mit politischen und militärischen Mitteln zugeneigt waren. Aber die Weise, wie Jesus Seinen Anspruch darstellte, erschien ihnen offenbar nicht geeignet, diesem Anliegen wirklich zu dienen. Dann war eher der Status quo vorzuziehen, in dem Rom immerhin die religiösen Grundlagen Israels respektierte und so Tempel und Volk in ihrem Bestand als einigermaßen gesichert gelten durften.
Nach dem vergeblichen Versuch, aufgrund von Jesu Spruch über Zerstörung und Erneuerung des Tempels eine klare und begründete Anklage gegen Ihn zu erheben, kommt es zu dem dramatischen Gegenüber zwischen dem amtierenden Hohepriester Israels, der höchsten Instanz des erwählten Volkes, und Jesus, in dem die Christen später den „Hohepriester der künftigen Güter“ (Hebr 9,11), den endgültigen Hohepriester „nach der Ordnung Melchisedeks“ (Ps 110,4; Hebr. 5,6 u.a.) erkannten.
30.07.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
2. Jesus vor dem Hohen Rat (Teil III)
Aufgrund der Tempelreden Jesu lag eine zweite Anklage in der Luft: dass Jesus einen messianischen Anspruch erhob , durch den Er sich irgendwie in Einheit mit Gott Selbst setzte und so der Grundlage von Israels Glauben, dem Bekenntnis zu dem einen und einzigen Gott, zu widersprechen schien.
Beachten wir, dass beide Anklagen rein theologischer Natur sind. Aber entsprechend der Unmöglichkeit, die religiöse und die politische Ebene voneinander zu trennen, von der wir oben gesprochen haben, eignet ihnen auch eine politische Dimension: Der Tempel als die Opferstätte Israels, zu der das ganze Volk bei den großen Festen pilgert, ist die Grundlage der inneren Einheit Israels. Der messianische Anspruch ist der Anspruch auf das Königtum über Israel. So wird dann auch über dem Kreuz das Wort „König der Juden“ als Grund für Jesu Hinrichtung stehen.
29.07.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
2. Jesus vor dem Hohen Rat (Teil II)
Sehen wir uns nun die Berichte der Evangelien näher an, immer in der Absicht, die Gestalt Jesu selbst dabei besser kennen und verstehen zu lernen.
Wir haben bereits gesehen, dass nach dem Vorfall der Tempelreinigung zwei Anklagen gegen Jesus in der Luft lagen. Die erste betraf das Deutewort der prophetischen Zeichenhandlung des Austreibens von Vieh und Händlern aus dem Tempel, was ein Angriff auf den heiligen Ort selbst zu sein schien und damit auf die Tora, auf der das Leben Israels beruhte. Ich halte es für wichtig, dass nicht der Akt der Tempelreinigung als solcher Gegenstand der Verhandlungen war, sondern allein das Deutewort, mit dem der Herr Seine Gebärde ausgelegt hatte. Daraus darf man schließen, dass der zeichenhafte Akt in Grenzen geblieben war und keine öffentliche Unruhe ausgelöst hatte, die Grund zu rechtlichem Einschreiten geboten hätte. Das Gefährliche war vielmehr die Deutung, der scheinbare Angriff auf den Tempel und der Vollmachtsanspruch Jesu Selbst.
Aus der Apostelgeschichte wissen wir, dass dieselbe Anklage gegen Stephanus erhoben wurde, der Jesu Tempelprophetie aufgegriffen hatte, was zu seiner Steinigung führte, also als Gotteslästerung angesehen wurde. Im Prozess Jesu traten Zeugen auf, die das Wort Jesu wiedergeben wollten. Aber es gab keine einheitliche Version: Was Jesus wirklich gesagt hatte, war nicht eindeutig zu klären. Dass daraufhin dieser Anklagepunkt fallen gelassen wurde, zeigt, dass man sich um ein rechtlich korrektes Vorgehen mühte.
28.07.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
2. Jesus vor dem Hohen Rat (Teil I)
Die grundsätzliche Entscheidung für ein Vorgehen gegen Jesus, die in der Versammlung des Hohen Rates gefällt worden war, wurde in der Nacht von Donnerstag auf Freitag am Ölberg mit der Verhaftung Jesu in die Tat umgesetzt. Man führte Jesus noch zu nächtlicher Stunde in den Palast des Hohepriesters, wo der Hohe Rat (Sanhedrin/Synodrium) mit den drei Fraktionen – Priester, Älteste, Schriftgelehrte - offenbar bereits versammelt war.
Die beiden „Prozesse“ Jesu vor dem Hohen Rat und vor dem römischen Statthalter Pilatus sind von Rechtshistorikern und Exegeten bis in kleinste Details ausgiebig diskutiert worden. In diese subtile historischen Fragen brauchen wir hier nicht einzutreten, zumal wir, wie Martin Hengel betont hat, Einzelheiten über das sadduzäische Kriminalrecht nicht wissen und Rückschlüsse aus dem zeitlich späteren Mischna- Traktat Sanhedrin auf die Ordnung zur Zeit Jesu nicht statthaft sind (vgl. Hengel /Schwenger S. 592). Als wahrscheinlich darf heute wohl gelten, dass es sich bei der Verhandlung von Jesus vor dem Hohen Rat wohl nicht um einen eigentlichen Prozess, sondern um ein eingehendes Verhör handelte, das mit dem Beschluss endet, Jesus dem römischen Statthalter zur Verurteilung zu übergeben.
27.07.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
1. Vorberatung im Synedrium (Teil IX)
Johannes hat dem Wort des Kajaphas, das faktisch einem Todesurteil gleichkam, noch einen Kommentar aus dem Blickfeld des Glaubens der Jünger hinzugefügt. Er betont zunächst – wie schon gesagt -, dass das Wort vom Sterben für das Volk aus prophetischer Eingebung gekommen sei, und fährt dann fort: „Aber Er sollte nicht nur für das Volk sterben, sondern auch, um die getrennten Kinder Gottes in eins zu sammeln“ (11,52). Dies ist zunächst durchaus jüdische Sprechweise. Sie drückt die Hoffnung aus, die über die Welt hin zerstreuten Israeliten würden in der Zeit des Messias im eigenen Land gesammelt (vgl. Barrett, S. 403).
Aber im Mund des Evangelisten nimmt das Wort eine neue Bedeutung an. Die Sammlung richtet sich nicht mehr auf ein geographisch bestimmtes Land, sondern auf das Einswerden der Kinder Gottes: Das Stichwort des Hohepriesterlichen Gebets Jesu klingt hier schon an. Die Sammlung zielt auf die Einheit aller Glaubenden und verweist so auf die Gemeinschaft der Kirche und freilich über sie hinaus auf die endgültige eschatologische Einheit.
Die zerstreuten Kinder Gottes sind nicht mehr bloß Juden, sondern Kinder Abrahams in dem tiefen Sinn, wie ihn Paulus entwickelt hat: Menschen, die wie Abraham Ausschau halten nach Gott; Menschen, die bereit sind, auf Ihn zu hören und Seinem Anruf zu folgen – adventliche Menschen, könnten wir sagen. Die neue Gemeinschaft aus Juden und Heiden wird sichtbar (vgl. Joh 10,16). So öffnet sich von hier aus auch wieder ein Zugang zum Abendmahlswort von den „vielen“, für die der Herr Sein Leben gibt: Es geht um die Sammlung der „Kinder Gottes“, das heißt aller, die sich von Ihm rufen lassen.
26.07.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
2. Vorberatung im Synedrium (Teil VIII)
Im Alten Testament erscheint der Stellvertretungsgedanke ganz zentral, wenn Mose nach dem Götzendienst des Volkes am Sinai zum zürnenden Gott sagt: „Doch jetzt nimm ihre Sünde von ihnen! Wenn nicht, dann streich mich aus dem Buch, das Du angelegt hast“ (Ex 32,32). Ihm wird zwar gesagt: „Nur den, der gegen Mich gesündigt hat, streiche Ich aus Meinem Buch“ (32.33), aber Mose bleibt doch irgendwie Stellvertreter, der das Schicksal des Volkes trägt und durch seine Fürbitte immer wieder wendet. Im Deuteronomium ist schließlich das Bild des leidenden Mose gezeichnet, der stellvertretend für Israel leidet und auch stellvertretend für Israel außerhalb des Heiligen Landes sterben muss (vgl. v. Rad I., S. 293). Vollends entfaltet erscheint der Gedanke der Stellvertretung im Bild des leidenden Gottesknechtes in Jes 53, Der die Schuld vieler auf Sich nimmt und sie so gerecht macht (53,11). Bei Jesaja bleibt diese Gestalt geheimnisvoll; das Lied vom Gottesknecht ist wie ein Ausschauhalten nach Dem, Der kommen muss. Der Eine stirbt für die vielen – dieses prophetische Wort des Hohepriesters Kajaphas fasst die Sehnsucht der Religionsgeschichte der Welt und die großen Glaubenstraditionen Israels zusammen und überträgt sie auf Jesus. Sein ganzes Leben und Sterben ist eingeborgen in dem Wort „für“; es ist – wie vor allem Heinz Schürmann immer wieder betont hat – „Proexistenz“.
25.07.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
3. Vorberatung im Synedrium (Teil VII)
Der Inhalt der „Prophetie“ des Kajaphas ist zunächst durchaus pragmatischer Natur und hat von da aus für ihn eine unmittelbare Einsichtigkeit: Wenn man durch den Tod eines Einzigen (und nur so) das Volk retten kann, ist der Tod dieses Einzigen das geringere Übel und der politisch richtige Weg. Aber was so zunächst bloß pragmatisch klingt und gemeint ist, reicht doch von der „prophetischen“ Eingebung her in eine ganz andere Tiefe. Jesus, der Eine, stirbt für das Volk: Das Geheimnis der Stellvertretung leuchtet auf, das der tiefste Inhalt von Jesu Sendung ist.
Der Gedanke der Stellvertretung durchzieht die ganze Religionsgeschichte. In vielfältigen Formen versucht man, das drohende Unheil vom König, vom Volk, vom eigenen Leben abzuwenden, indem man es auf Stellvertreter überträgt. Böses muss gesühnt, die Gerechtigkeit so wiederhergestellt werden. Aber man lädt die Strafe, das unabwendbare Unglück auf andere ab und sucht so sich selbst zu befreien. Doch diese Stellvertretung durch Tier- oder auch Menschenopfer bleibt letztlich unglaubhaft. Was da zur Stellvertretung angeboten wird, ist doch nur Ersatz für das Eigene und kann gar nicht die Stelle dessen einnehmen, der so erlöst werden soll. Ersatz ist nicht Stellvertretung, und doch schaut alle Geschichte aus nach Dem, Der wirklich für uns eintreten kann, Der wirklich uns in Sich aufzunehmen vermag und uns so ins Heil bringt.
24.07.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
4. Vorberatung im Synedrium (Teil VI)
Aus diesem Wort geht zunächst hervor, dass der versammelte Rat bis dahin vor einem Todesurteil zurückschreckte und nach anderen Auswegen aus der Krise suchte, ohne freilich eine Lösung zu finden. Erst ein theologisch motiviertes Wort des Hohepriesters, von der Autorität seines Amtes her gesprochen, konnte ihre Bedenken zerstreuen und sie grundsätzlich bereitmachen für den schwerwiegenden Beschluss.
Dass Johannes das Amts-Charisma des unwürdigen Amtsinhabers ausdrücklich als entscheidenden Punkt in der Heilsgeschichte anerkennt, entspricht dem von Matthäus überlieferten Jesus-Wort: „Auf dem Lehrstuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles, was sie euch sagen, tut, und haltet es. Nach ihren Werken aber handelt nicht!“ (23,2f). Matthäus wie Johannes haben diese Unterscheidung gewiss auch der Kirche ihrer Zeit ins Gedächtnis rufen wollen, denn auch in ihr gab es den Widerspruch zwischen Amtsautorität und Lebensführung, zwischen dem, „was sie sagen“, und dem, „was sie tun“.
23.07.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
1. Vorberatung im Synedrium (Teil V)
Aber das bedeutet, dass das Kreuz einem göttlichen “Muss“ entsprach und dass Kajaphas mit seiner Entscheidung letztlich zum Vollstrecker des göttlichen Willens wurde, auch wenn seine eigene Motivation unrein und nicht dem Willen Gottes, sondern seinen eigenen Absichten gemäß war.
Johannes hat dieses merkwürdige Ineinander der Vollstreckung von Gottes Willen und der eigensüchtigen Blindheit bei Kajaphas ganz deutlich ausgesprochen. In der Ratlosigkeit der Ratsmitglieder, was man angesichts von der Jesus-Bewegung ausgehenden Gefahr tun solle, hat Er das entscheidende Wort gesagt: „Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht“ (11,50). Johannes bezeichnet diesen Ausspruch ausdrücklich als Wort aus „prophetischer Eingebung“, das Kajaphas aus seinem Amts-Charisma als Hohepriester und nicht aus Eigenem formulierte.
22.07.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
2. Vorberatung im Synedrium (Teil IV)
Es ist eine Überlagerung, die dem entspricht, was wir in der Tempelreinigung gefunden hatten. Jesus kämpft dort einerseits, wie wir sahen, gegen eigensüchtigen Missbrauch im Raum des Heiligen, aber die prophetische Gebärde und ihre Deutung im Wort reicht doch viel tiefer: Der alte Kult des steinernen Tempels ist zu Ende. Die Stunde der neuen Gottesverehrung in „Geist und Wahrheit“ hat geschlagen. Der Tempel aus Stein muss abgebrochen werden, damit das Neue, der Neue Bund mit seiner neuen Weise der Gottesverehrung, kommen kann. Das bedeutet aber zugleich: Jesus Selbst muss durch die Kreuzigung hindurchgehen, um als Auferstandener der neue Tempel zu werden.
An dieser Stelle kommen wir noch einmal zur Frage der Verflechtung und der Entflechtung von Religion und Politik zurück. Jesus, so sagten wir, hatte in Seiner Verkündigung und mit Seinem ganzen Wirken ein nichtpolitisches Reich des Messias eröffnet und die beiden bisher untrennbaren Wirklichkeiten voneinander zu lösen begonnen. Aber diese zum Wesen seiner Botschaft gehörende Trennung von Politik und Glaube, von Gottesvolk und Politik war letztlich nur durch das Kreuz möglich: Nur durch den tatsächlich restlosen Verlust jeder äußeren Macht, durch die radikale Entblößung des Kreuzes wurde das Neue Wirklichkeit. Erst im Glauben an den Gekreuzigten, den jeder irdischen Macht Beraubten und so Erhöhten, erscheint auch die neue Gemeinschaft, die neue Weise von Gottes Herrschen in der Welt.
21.07.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
1. Vorberatung im Synedrium (Teil III)
Dennoch muss man sich vor einer eilfertigen Verurteilung der „bloß politischen“ Betrachtungsweise Seiner Gegner hüten. Denn in der bisherigen Ordnung war nun eben beides – das Politische und Religiöse – gar nicht zu trennen. Das „bloß“ Politische gab es so wenig wie das bloß Religiöse. Der Tempel, die Heilige Stadt und das Heilige Land mit seinem Volk, das waren keine bloß politischen Größen, aber auch keine bloß religiösen Wirklichkeiten. Wo es um Tempel, Volk und Land ging, waren das religiöse Fundament der Politik und deren religiöse Konsequenzen im Spiel. „Ort und „Volk“ zu verteidigen, war letztlich eine religiöse Angelegenheit, weil es um Gottes Haus und um Gottes Volk ging.
Von dieser für die Verantwortlichen Israels grundlegenden, zugleich religiösen und politischen Motivierung muss man freilich das spezifische Machtinteresse der Dynastie von Hannas und Kajaphas unterscheiden, das dann faktisch in die Katastrophe des Jahres 70 hineingeführt und so gerade das bewirkt hat, was zu verhindern ihr eigentlicher Auftrag war. Insofern gibt es in dem Todesbeschluss gegen Jesus eine eigentümliche Überlagerung zweier Schichten: die rechtmäßige Sorge um den Schutz von Tempel und Volk einerseits, das eigensüchtige Machtstreben der herrschenden Gruppe andererseits.
20.07.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
1. Vorberatung im Synedrium (Teil II)
In den Tagen um das Pascha-Fest, in denen die Stadt mit Pilgern überfüllt war und messianische Hoffnungen leicht zu politischem Dynamit werden konnten, musste die Tempelbehörde ihre Verantwortung wahrnehmen und sich zuallererst darüber Klarheit verschaffen, was von dem Ganzen zu halten und wie dann darauf zu reagieren sei. Nur Johannes berichtet näherhin über eine Sitzung des Synedriums, das der Meinungsbildung und Beschlussfassung über den Fall Jesu diente (11,47-53). Er datiert sie übrigens vor den „Palmsonntag“ und sieht als ihren direkten Anlass die Volksbewegung, die im Anschluss an die Erweckung des Lazarus entstanden war. Ohne eine solche vorgängige Beschlussfassung ist die Verhaftung Jesu in der Nacht von Gethsemani undenkbar. Offenbar hat Johannes hier eine historische Erinnerung bewahrt, von der kürzer auch die Synoptiker (Mk 14,1 par.) berichten.
Nach Johannes sind Hohepriester und Pharisäer – die zwei in vielem einander entgegenstehenden führenden Gruppierungen des Judentums zur Zeit Jesu – miteinander versammelt. Ihre gemeinsame Befürchtung lautet: „Es werden die Römer kommen und uns ‚den Ort‘ (d.h. den Tempel, die heilige Stätte der Gottesverehrung) und das Volk wegnehmen“ (11,48). Man ist versucht zu sagen, das Motiv zum Vorgehen gegen Jesus sei eine politische Sorge gewesen, in der sich von unterschiedlichen Ausgangspunkten her die Priester-Aristokratie und die Pharisäer begegneten; mit dieser politischen Betrachtung von Jesu Gestalt und Wirken sei aber genau Sein Eigentliches und Neues verkannt worden. Und in der Tat: Jesus hat mit Seiner Verkündigung eine Lösung des Religiösen aus dem Politischen vollzogen, die die Welt verändert hat und die wirklich zum Wesen Seines neuen Weges gehört.
19.07.2021
7. Kapitel: Der Prozess Jesu
Das nächtliche Beten Jesu endete nach dem Bericht aller vier Evangelien damit, dass unter Führung von Judas eine der Tempelbehörde unterstehende bewaffnete Truppe kam und Jesus verhaftete, während die Jünger unbehelligt blieben.
Wie kam es zu dieser offensichtlich von der Tempelbehörde – letztlich vom Hohepriester Kajaphas – angeordneten Verhaftung? Wie kam es zur Überstellung Jesu an das Gericht des römischen Statthalters Pilatus und zur Verurteilung zum Kreuzestod?
Die Evangelien gestatten uns, auf dem Weg zum rechtskräftigen Todesurteil drei Etappen zu unterscheiden: eine Ratsversammlung im Haus des Kajaphas, das Verhör Jesu vor dem Synedrium und schließlich den Prozess vor Pilatus.
1. Vorberatung im Synedrium (Teil I)
Das Auftreten Jesu und die sich um Ihn bildende Bewegung hatten offensichtlich die Tempelbehörde zunächst wenig interessiert; das Ganze schien eher eine provinzielle Angelegenheit zu sein – eine der Bewegungen, die sich gelegentlich in Galiläa bildeten, und keines großen Aufhebens wert. Die Situation änderte sich mit dem „Palmsonntag“: Die messianische Huldigung für Jesus bei Seinem Einzug in Jerusalem; die Tempelreinigung mit dem Deutewort, das das Ende des Tempels überhaupt und eine grundsätzliche Änderung des Kults im Widerspruch zu den von Mose gegebenen Ordnungen anzukündigen schien; die Predigten Jesu im Tempel, in denen ein Vollmachtsanspruch vernehmbar wurde, der der messianischen Hoffnung eine neue, den Monotheismus Israels bedrohende Form zu geben schien; die Wunder, die Jesus öffentlich tat, und der wachsende Zustrom des Volkes zu Ihm – das alles waren Vorgänge, die nicht mehr ignoriert werden durften.
18.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
4. Das Ölberggebet Jesu im Brief an die Hebräer (Teil IV)
So darf man die Erhörung gewiss auch von dem Paralleltext bei Joh 12,27f her verstehen; wo die Stimme vom Himmel her auf die Bitte Jesu „Vater, verherrliche Deinen Namen!“ antwortet: Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen.“ Das Kreuz selbst ist die Verherrlichung Gottes geworden, Erscheinen von Gottes Herrlichkeit in der Liebe des Sohnes. Diese Herrlichkeit reicht über den Augenblick hinaus in die ganze Weite der Geschichte hinein. Diese Herrlichkeit ist Leben. Am Kreuz selbst erscheint – verhüllt und doch eindringlich – Gottes Herrlichkeit, die Umwandlung von Tod in Leben.
Vom Kreuz her kommt neues Leben auf die Menschen zu. Am Kreuz wird Jesus zum Quell des Lebens für Sich und für alle. Am Kreuz wird der Tod besiegt. Die Erhörung Jesu betrifft die Menschheit als Ganze: Sein Gehorsam wird Leben für alle. Und so schließt denn auch sinngemäß dieser Abschnitt des Hebräer-Briefs mit den Worten: „Er ist für alle, die Ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden und wurde von Gott angeredet als „Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks“ (5,9f; Ps 110,4).
17.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
4. Das Ölberggebet Jesu im Brief an die Hebräer (Teil III)
Nun müssen wir aber noch zur Kernaussage des Hebräer-Briefs bezüglich der Bitte des leidenden Herrn vorstoßen. Der Text sagt, dass Jesus zu Dem flehte, Der Ihn vom Tod erretten konnte, und dass Er „ob Seiner Ehrfurcht erhört worden ist“ (5,7). Aber ist Er denn erhört worden?
Er ist doch am Kreuz gestorben! So hat Harnack gesagt, hier müsse ein „nicht“ ausgefallen sein, und Bultmann schließt sich ihm an. Aber eine Auslegung, die den Text in sein Gegenteil wendet, ist keine Auslegung. Wir müssen vielmehr versuchen, diese geheimnisvolle Art der „Erhörung“ zu verstehen, um darin auch dem Geheimnis unseres eigenen Heils näherzukommen.
Man kann verschiedene Dimensionen dieser Erhörung erkennen. Eine Übersetzungsmöglichkeit des Textes lautet: „Er ist erhört und aus Seiner Angst befreit worden.“ Das würde dem Lukas-Text entsprechen, wonach ein Engel kam und Ihn stärkte (22,43). Es wäre dann die Rede von der inneren Kraft, die Jesus im Beten zugewachsen ist, so dass Er aufrecht auf die Verhaftung und das Leiden zuzugehen vermochte. Aber der Text meint doch offensichtlich mehr: Der Vater hat Ihn aus der Nacht des Todes heraufgeholt, in der Auferstehung Ihn endgültig und für immer vom Tod gerettet: Jesus stirbt nicht mehr (vgl. Vanhoye,S. 71f). Aber der Text meint wohl noch mehr: Die Auferstehung ist nicht nur Jesu persönliche Errettung aus dem Tod. Denn in diesem Tod stand Er nicht für Sich allein. Er war ein Sterben „für die anderen“; es ging um die Überwindung des Todes überhaupt.
16.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
4. Das Ölberggebet Jesu im Brief an die Hebräer (Teil II)
Wenn der Hebräer-Brief die ganze Passion Jesu als ein betendes Ringen mit Gott dem Vater und zugleich mit der menschlichen Natur betrachtet, so zeigt er dabei auf eine neue Weise die theologische Tiefe des Ölberggebets auf. Für ihn ist dieses Schreien und Bitten Vollzug des Hohepriestertums Jesu. Gerade in Seinem Schreien, Weinen und Beten tut Jesus das, was des Hohepriesters ist: Er trägt die Not des Menschseins zu Gott hinauf. Er bringt den Menschen vor Gott.
Mit zwei Worten hat der Verfasser des Hebräer-Briefs diese Dimension von Jesu Beten deutlich gemacht. Das Wort „bringen“ (prospherin: vor Gott bringen, emportragen – vgl. Hebr. 5,1) ist ein Begriff aus der Terminologie des Opferkults. Jesus tut darin, was im Opfer zuinnerst geschieht. „Er hat Sich dargebracht, den Willen des Vaters zu tun“, kommentiert Albert Vanhoye (Accogliamo, S. 71). Das zweite Wort, auf das es hier ankommt, sagt, dass Jesus durch Leiden den Gehorsam gelernt habe und so „zur Vollendung gelangt“ sei (Hebr 5,8 f.). Vanhoye macht darauf aufmerksam, dass der Ausdruck „zur Vollendung gelangen (teleioun) im Pentateuch, den fünf Büchern Mose, ausschließlich in der Bedeutung „zum Priester weihen“ verwendet wird (S. 75). Diese Terminologie macht sich der Hebräer-Brief zu eigen (vgl. 7,11.19.28). So sagt diese Stelle, dass der Gehorsam Christi, das am Ölberg errungene letzte Ja zum Vater, Ihn gleichsam „zum Priester geweiht“ hat, dass Er gerade darin, in der Gabe Seiner Selbst, im Hinauftragen des Menschseins zu Gott, im wirklichen Sinn zum Priester geworden ist „nach der Ordnung Melchisedeks“ (Hebr 5,9f; vgl. Vanhoye, S. 75f).
15.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
4. Das Ölberggebet Jesu im Brief an die Hebräer (Teil I)
Zuletzt müssen wir uns noch dem Ölbergtext des Hebräer-Briefes zuwenden. Da heißt es: „In den Tagen Seines Fleisches hat Er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor Den gebracht, Der Ihn vom Tod erretten konnte. Und Er hat dank Seiner Ehrfurcht Erhörung gefunden“ (5,7). In diesem Text ist eine eigenständige Überlieferung über das Geschehen in Gethsemani erkennbar, denn von lautem Schreien und von Tränen ist in den Evangelien nicht die Rede.
Wir müssen freilich bedenken, dass der Verfasser sich offensichtlich nicht bloß auf die Nacht von Gethsemani bezieht, sondern an den ganzen Passionsweg Jesu denkt bis zur Kreuzigung hin, also bis zu dem Augenblick, von dem uns Matthäus und Markus sagen, dass Jesus „mit lauter Stimme“ die Anfangsworte des Psalms 22 ausrief; beide sagen auch, dass Jesus mit einem lauten Ruf verschieden ist; Matthäus gebraucht dabei ausdrücklich das Wort „Schrei“ (27,50). Von Tränen Jesu spricht Johannes beim Tod des Lazarus und dies im Zusammenhang mit der „Erschütterung“ Jesu, die mit dem gleichen Wort beschrieben wird wie Seine Angst in der Ölberg-Überlieferung, die Johannes im Zusammenhang des „Palmsonntags“ erzählt.
Immer geht es um die Begegnung Jesu mit den Mächten des Todes, dessen Abgrund Er als der Heilige Gottes in seiner ganzen Tiefe und Schrecklichkeit empfindet. Der Hebräer-Brief sieht so die ganze Passion Jesu vom Ölberg bis zum letzten Schrei am Kreuz durchtränkt vom Gebet, als ein einziges leidenschaftliches Flehen zu Gott um das Leben gegen die Macht des Todes.
14.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
3. Jesu Wille und der Wille des Vaters (Teil VI)
Damit kommen wir zu einem letzten Punkt dieses Gebets, zu dessen eigentlichem Deutungsschlüssel, zu der Anrede „Abba, Vater" (Mk 14,36). Joachim Jeremias hat 1966 über dieses Gebetswort Jesu ein wichtiges Buch geschrieben, aus dem ich zwei wesentliche Einsichten zitieren möchte: „Während es in der jüdischen Gebetsliteratur keinen einzigen Beleg für die Anrede Gottes mit Abba gibt, hat Jesus Gott (mit Ausnahme des Kreuzesrufes Mk 15,34 par.) immer so angewendet. Wir haben es also mit einem völlig eindeutigen Kenzeichen der ipissima vox Jesu zu tun („Abba, S. 59). Dazu zeigt Jeremias, dass dieses Wort „Abba“ der Kindersprache zugehört – dass es die Weise ist, wie in der Familie das Kind den Vater anredet. „Es wäre für jüdisches Empfinden unehrerbietig und darum undenkbar gewesen, Gott mit diesem familiären Wort anzureden. Es war etwas Neues und Unerhörtes, dass Jesus es gewagt hat, diesen Schritt zu vollziehen. Er hat so mit Gott geredet wie das Kind mit seinem Vater… Das Abba der Gottesanrede Jesu enthüllt das Herzstück Seines Gottesverhältnisses“ (S. 63). Es ist daher ganz abwegig, wenn manche Theologen meinen, im Ölberggebet habe der Mensch Jesus den trinitarischen Gott angesprochen. Nein, gerade hier spricht der Sohn, Der allen menschlichen Willen in Sich aufgenommen und in Sohneswillen umgewandelt hat.
13.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
3. Jesu Wille und der Wille des Vaters (Teil V)
Das Drama des Ölbergs besteht darin, dass Jesus den Naturwillen des Menschen aus der Opposition in die Synergie zurückholt und damit den Menschen in seiner Größe wiederherstellt.
In dem menschlichen Naturwillen Jesu ist sozusagen in Ihm selbst der ganze Widerstand der menschlichen Natur gegen Gott anwesend. Unser aller Eigensinn, die ganze Opposition gegen Gott ist da, und ringend zieht Jesus die widerständige Natur in ihr eigentliches Wesen hinauf.
Christoph Schönborn sagt dazu, „dass der Übergang vom Gegensatz zur Gemeinschaft der beiden Willen durch das Kreuz des Gehorsams führt. In der Agonie von Gethsemane vollzieht sich dieser Übergang" (Christus-Ikone, S. 131). So ist das Gebet „nicht Mein Wille, sondern der Deine" (Lk 22,42) wirklich ein Sohnesgebet an den Vater, bei Dem der menschliche Naturwille ganz hineingeholt ist in das Ich des Sohnes, Dessen Wesen sich eben dem „nicht Ich, sondern Du" ausspricht - in der völligen Übergabe des Ich an das Du Gott Vaters. Dieses „Ich" aber hat die Opposition des Menschseins in sich aufgenommen und umgewandelt, so dass nun im Sohnesgehorsam wir alle mit anwesend sind, wir alle in die Sohnschaft hineingezogen werden.
12.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
3. Jesu Wille und der Wille des Vaters (Teil IV)
Der große byzantinische Theologe Maximus der Bekenner (662) hat die Antwort auf diese Frage im Ringen um das Verstehen des Ölberggebets Jesu erarbeitet. Maximus ist zunächst und vor allem ein entschiedener Gegner des Monotheletismus: Die menschliche Natur Jesu wird durch die Einheit mit dem Logos nicht amputiert, sie bleibt vollständig. Und zur menschlichen Natur gehört der Wille. Diese unabweisbare Zweiheit von menschlichem und göttlichem Wollen in Jesus darf aber nicht zur Schizophrenie einer doppelten Persönlichkeit führen. Deshalb müssen Natur und Personen ihrer je eigenen Seinsweise gesehen werden. Das bedeutet: Es gibt in Jesus den "Naturwillen" der menschlichen Natur, aber es gibt nur einen „Personwillen", der den „Naturwillen" in sich aufnimmt. Und dies ist ohne Zerstörung des eigentlich Menschlichen möglich, weil von der Schöpfung her der menschliche Wille auf den göttlichen hingeordnet ist. Er findet im Einstimmen in den göttlichen Willen seine Vollendung, nicht etwa seine Zerstörung. Maximus sagt dazu, dass der menschliche Wille schöpfungsgemäß auf die Synergie (das Zusammenwirken) mit Gottes Willen hin tendiert, dass freilich durch die Sünde aus Synergie Opposition geworden ist: Der Mensch, dessen Wille sich im Einstimmen in Gottes Willen vollendet, fühlt nun seine Freiheit durch den Willen Gottes gefährdet. Er sieht im Ja zum Willen Gottes nicht die Möglichkeit, ganz er selbst zu sein, sondern die Bedrohung seiner Freiheit, gegen die er sich zur Wehr setzt.
11.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
3. Jesu Wille und der Wille des Vaters (Teil III)
Bei dem großen Ringen, das nach Chalkedon vor allem byzantinischen Raum ausgetragen wurde, ging es wesentlich um die Frage: Wenn in Jesus nur die göttliche Person ist, die die beiden Naturen umfasst, wie steht es dann um die menschliche Natur? Kann diese, von der einen göttlichen Person gehalten, dann überhaupt als solche in ihrer Eigenheit und Eigentlichkeit bestehen? Muss sie nicht zwangsläufig vom Göttlichen absorbiert werden, wenigstens in ihrer höchste Spitze, dem Willen? So heißt denn die letzte der großen christologischen Häresien „Monotheletismus". Es könne bei der Einheit der Personen – so sagt sie - nur einen Willen geben; eine Person mit zwei Willen wäre schizophren: Die Person zeige sich letztlich im Willen, und wenn nur eine Person da sei, dann könne es schließlich nur einen Willen geben. Aber dagegen steht die Frage auf: Was ist das für ein Mensch, der keinen eigenen menschlichen Willen hat? Ist ein Mensch ohne Willen wirklich ein Mensch? Ist Gott in Jesus wirklich Mensch geworden, wenn dieser Mensch keinen Willen hatte?
10.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
3. Jesu Wille und der Wille des Vaters (Teil II)
Diese Formel – zwei Naturen, eine Person – hat Papst Leo der Große mit einer weit über den geschichtlichen Augenblick hinausreichenden Intuition geschaffen und dafür sofort die begeisterte Zustimmung der Konzilsväter gefunden.
Aber sie war eine Antizipation: Ihre konkrete Bedeutung war noch nicht ausgelotet. Was heißt das, „Natur"? Vor allem aber: Was heißt das, „Person"? Weil dies keineswegs geklärt war, haben viele Bischöfe nach Chalkedon gesagt, sie wollten lieber nach der Art von Fischern als in der Weise des Aristoteles denken; die Formel blieb dunkel. Deswegen ist die Rezeption von Chalkedon äußerst verwickelt und unter ungeheuren Kämpfen verlaufen. Zuletzt blieb Teilung übrig: Nur die Kirchen von Rom und Byzanz haben das Konzil und seine Formel definitiv angenommen. Alexandrien (Ägypten) blieb lieber bei der Formel von „der einen vergöttlichten Natur" (Monophysitismus); im Orient blieb Syrien skeptisch gegenüber dem Begriff der einen Person, sofern er eben doch das reale Menschsein Jesu zu beeinträchtigen schien (Nestorianismus). Mehr als die Begriffe wirkten freilich Frömmigkeitstypen, die sich entgegenstellen und den Gegensatz mit der Wucht religiöser Empfindungen aufluden und unlösbar werden ließen.
Das ökumenische Konzil von Chalkedon bleibt für die Kirche aller Zeiten die verbindliche Wegweisung ins Geheimnis Jesu Christi hinein. Es muss freilich neu angeeignet werden im Kontext unseres Denkens, in dem die Begriffe „Natur" und "Person" gegenüber damals eine andere Bedeutung angenommen haben. Dieses Mühen um neue Aneignung muss Hand in Hand gehen mit dem ökumenischen Dialog, der mit den vorchalkedonischen Kirchen zu führen ist, um die verlorene Einheit im Zentrum des Glaubens – dem Bekenntnis zu dem in Jesus Christus Mensch gewordenen Gott - wiederzufinden.
09.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
3. Jesu Wille und der Wille des Vaters (Teil I)
Aber was heißt das? Was ist „mein“ Wille im Gegensatz zu „deinem“ Willen? Wer steht sich da gegenüber? Der Vater und der Sohn? Oder der Mensch Jesus und Gott, der dreifaltige Gott? Nirgends sonst in der Heiligen Schrift schauen wir so tief in das innere Geheimnis Jesu hinein wie im Ölbergsgebet. So hat nicht zufällig das Ringen der Alten Kirche um das Verstehen der Gestalt Jesu Christi im gläubigen Bedenken des Ölbergsgebets seine abschließende Gestalt gefunden.
An dieser Stelle ist es wohl notwendig, einen ganz kurzen Blick auf die Christologie der Alten Kirche zu werfen, um ihr Verständnis des ineinander von göttlichem und menschlichem Willen in der Gestalt Jesu Christi zu verstehen. Das Konzil von Nizäa (325) hatte den christlichen Gottesbegriff geklärt. Die drei Personen – Vater, Sohn und Heiliger Geist – sind eins, in dem einen „Wesen“ Gottes. Mehr als hundert Jahre später hat das Konzil von Chalkedon (451) das Ineinander von Gottheit und Menschheit in Jesus Christus begrifflich zu fassen versucht mit der Formel, dass ich Ihm die eine Person des Sohnes Gottes die beiden Naturen – die menschliche und die göttliche „unvermischt und ungetrennt“ umfängt und trägt.
So wird die unendliche Unterschiedenheit von Gott und Mensch, von Schöpfer und Geschöpf gewahrt: Menschsein bleibt Menschsein, Gottsein bleibt Gottsein. Das Menschsein ist in Jesus nicht durch die Gottheit absorbiert oder reduziert. Es ist ganz als es selber da, aber doch gehalten von der göttlichen Person des Logos. Zugleich wird in der unaufgehobenen Verschiedenheit der Naturen durch das Wort „eine Person“ die radikale Einheit ausgedrückt, in die Gott in Christus mit dem Menschen eingetreten ist.
08.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
2. Das Gebet Jesu (Teil VI)
Die zwei Teile des Gebets Jesu erscheinen als das Gegenüber von zweierlei Willen: d ist der „Naturwille“ des Menschen Jesus, Der Sich gegen das Ungeheuerliche, Zerstörerische des Geschehens sträubt und das Vorübergehen des Kelchs erbitten möchte; und das ist der „Sohneswille“, der sich ganz in den Willen des Vaters hineingibt.
Wenn wir dieses Geheimnis der „zwei Willen“ so weit wie möglich zu verstehen versuchen möchten, ist es nützlich, noch einen Blick auf die johanneische Fassung des Gebets zu werfen. Auch bei Johannes finden wir die zwei Bitten Jesu: „Vater, errette Mich aus dieser Stunde… Vater, verherrliche Deinen Namen (12,27f).
Das Zueinander der beiden Bitten ist bei Johannes nicht grundsätzlich anders als bei den Synoptikern. Die Not von Jesu menschlicher Seele („Ich bin erschüttert“; Bultmann übersetzt: „mir ist angst“, S. 327) drängt Jesus, um Rettung aus dieser Stunde zu bitten. Aber das Wissen um Seine Sendung, das Er ja gerade für diese Stunde überhaupt gekommen ist, lässt Ihn die zweite Bitte aussprechen – die Bitte, dass Gott Seinen Namen verherrliche: Gerade das Kreuz, die Annahme des Schrecklichen, das Hineingehen in die Schmach der Vernichtung der eigenen Würde, in die Schmach eines ehrlosen Todes wird zur Verherrlichung von Gottes Namen. Denn gerade so wird Gott als der sichtbar, Der Er ist: der Gott, Der im Abgrund Seiner Liebe, im Sich-Selber-Geben allen Mächten des Bösen die wahre Macht des Guten entgegenstellt. Jesus hat beide Bitten ausgesprochen, aber die erste, die um „Rettung“, ist in die zweite, die um Gottes Verherrlichung im Geschehen Seines Willens, eingeschmolzen – und so ist der Widerstreit im Innern der menschlichen Existenz Jesu zur Einheit geführt.
07.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
2. Das Gebet Jesu (Teil V)
Gerade weil Er der Sohn ist, sieht Er mit letzter Deutlichkeit die ganze schmutzige Flut des Bösen, all die Macht der Lüge und des Hochmuts, all die Raffinesse und Schrecklichkeit des Bösen, das sich die Maske des Lebens umhängt und immerfort der Zerstörung des Seins, der Vernichtung deswegen dient. Gerade weil Er der Sohn ist, empfindet Er zutiefst das Grauen, all den Schmutz und das Gemeine, das Er in dem Ihm zugedachten „Kelch“ trinken muss: die ganze Macht der Sünde und des Todes.
Bultmann sagt mit Recht: Jesus ist hier „nicht nur der Prototyp, an dem das vom Menschen geforderte Verhalten exemplarisch sichtbar wird…, sondern Er ist auch und vor allem der Offenbarer, Dessen Entscheidung die menschliche Entscheidung für Gott in solcher Stunde erst möglich macht“ (S.328). Die Angst Jesu ist etwas viel Radikaleres als die Angst, die jeden Menschen angesichts des Todes überfällt: Sie ist der Zusammenstoß zwischen Licht und Finsternis, zwischen Leben und Tod selber – das eigentliche Entscheidungsdrama der menschlichen Geschichte. In diese Sinn dürfen wir mit Pascal das Geschehen des Ölbergs ganz persönlich auch auf uns beziehen: Auch meine Sünde war in jenem erschreckenden Kelch mit gegenwärtig. „Jene Tropfen Blut habe Ich für dich vergossen“, hört Pascal den am Ölberg ringenden Herrn ihm sagen (vgl. Pensees, VII 553).
06.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
2. Das Gebet Jesu (Teil IV)
Nun folgt das eigentliche Gebet, in dem das ganze Drama unserer Erlösung gegenwärtig ist. Markus sagt zuerst zusammenfassend, Jesus habe gebetet, „dass die Stunde, wenn möglich, an Ihm vorübergehe“ (14,35). Den wesentlichen Satz des Betens Jesu bringt er wörtlich so: „Abba, Vater, alles ist Dir möglich. Nimm diesen Kelch von Mir! Aber nicht, was Ich will, sondern was Du willst“ (14,36).
Wir können drei Elemente in diesem Beten Jesu unterscheiden. Da ist zunächst die Urerfahrung der Angst, die Erschütterung angesichts der Macht des Todes, das Erschrecken vor dem Abgrund des Nichts, das Ihn zittern, ja nach Lukas Blutstropfen vergießen lässt (22,44). Bei Johannes (12,27) ist diese Erschütterung wie bei den Synkoptikern im Anschluss an Ps 43,5 ausgedrückt, aber mit einem Wort, das die Abgründlichkeit der Angst Jesu besonders deutlich werden lässt: tetaraktai – es ist dasselbe Wort tarassein, das Johannes gebraucht, um die Erschütterung Jesu am Grab des Lazarus zu benennen (11,33) wie Seine innere Erregung bei der Vorhersage des Judas-Verrats im Abendmahlsaal (13,21).
Damit bezeichnet Johannes zweifellos die kreatürliche Urangst angesichts der Nähe des Todes, aber doch noch mehr: die besondere Erschütterung Dessen, Der das Leben Selbst ist, vor dem Abgrund aller Macht der Zerstörung, des Bösen, des Widergöttlichen, das nun direkt auf Ihn einstürzt, das Er direkt auf Sich, Ja in Sich hineinnehmen soll, bis dahin, dass Er Selbst „zur Sünde gemacht“ wird (2 Kor 5,21).
05.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
2. Das Gebet Jesu (Teil III)
Nach dieser Mahnung zur Wachsamkeit entfernt Sich Jesus ein Stück. Es beginnt das eigentliche Ölberggebet. Matthäus und Markus sagen uns, dass Jesus Sich auf die Erde niederwirft – die Gebetshaltung der äußersten Unterwerfung unter den Willen Gottes, des radikalen Sich-Ergebens an Ihn, die in der abendländischen Liturgie noch am Karfreitag und bei der Mönchsprofess wie bei der Diakonen-, der Priester- und der Bischofsweihe geübt wird.
Lukas sagt demgegenüber, dass Jesus kniend betet. Er stellt so von der Gebetshaltung her dieses nächtliche Ringen Jesu in den Zusammenhang der Geschichte des christlichen Betens hinein: Stephanus sinkt bei der Steinigung betend auf die Knie (Apg 7,60); Petrus kniet, ehe er Tabitha vom Tod erweckt (Apg 9,40); Paulus kniet, als er von den ephesinischen Presbytern Abschied nimmt (Apg 20,36) und nochmals, als die Jünger Ihm sagen, Er solle nicht nach Jerusalem hinaufziehen (Apg 21,5). Alois Stöger sagt dazu: „Sie alle beten knieend angesichts der Macht des Todes; das Martyrium kann nicht anders als durch das Gebet bewältigt werden. Jesus ist das Vorbild der Martyrer“ (Das Evangelium nach Lukas II, S. 247).
04.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
2. Das Gebet Jesu (Teil II)
Der Ruf zur Wachsamkeit ist schon ein Hauptthema der Verkündigung in Jerusalem gewesen und erscheint nun mit einer ganz unmittelbaren Dringlichkeit. Aber obwohl er sich gerade auf diese Stunde bezieht, weist er voraus in die kommende Geschichte der Christenheit. Die Schläfrigkeit der Jünger bleibt die Jahrhunderte hindurch die Chance für die Macht des Bösen. Diese Schläfrigkeit ist eine Abstumpfung der Seele, die sich nicht aufregen lässt durch die Macht des Bösen in der Welt, durch all das Unrecht und all das Leid, das die Erde verwüstet. Sie ist eine Stumpfheit, die all dies lieber nicht wahrnehmen möchte; die sich beruhigt, dass alles schon nicht so schlimm sei, um in der Selbstzufriedenheit des eigenen gesättigten Daseins fortfahren zu können. Aber diese Stumpfheit der Seelen, dieser Mangel an Wachsamkeit sowohl für die Nähe Gottes wie für die drohende Gewalt des Übels, gibt dem Bösen Macht in der Welt. Den schläfrigen, nicht zu beunruhigenden Jüngern gegenüber sagt der Herr von Sich Selbst: „Meine Seele ist zu Tode betrübt.“ Dies ist ein Wort aus Ps 43,5 und lässt andere Psalmworte anklingen.
Auch in Seiner Passion, auf dem Ölberg wie am Kreuz, spricht Jesus mit Psalmworten von Sich und zu Gott Vater. Aber diese Psalmworte sind ganz persönlich geworden, ganz persönliche Worte Jesu in Seiner Not: Er ist in der Tat der wahre Beter dieser Psalmen, ihr eigentliches Subjekt. Das ganz persönliche Gebet und das Beten mit den Gebetsworten des glaubenden und leidenden Israel sind hier nahtlos eins.
03.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
2. Das Gebet Jesu (Teil I)
Über das Gebet am Ölberg, das nun folgt, liegen uns fünf Berichte vor: zunächst die der drei synoptischen Evangelien (Mt 26,36-46; Mk 14,32-42; Lk 22,39-46); dazu kommt ein kurzer Text im Johannes-Evangelium, den Johannes freilich in die Sammlung der Tempelreden am „Palmsonntag“ eingegliedert hat (12,27f), und schließlich ein auf eigener Überlieferung beruhender Text aus dem Hebräer-Brief (5,7ff). Versuchen wir nun, im Zusammenhören der Texte uns, so gut es geht, dem Geheimnis dieser Stunde Jesu zu nähern.
Nach dem gemeinsamen rituellen Psalmengebet betet Jesus allein – wie in so vielen Nächten zuvor. Allerdings lässt er die aus anderen Zusammenhängen, besonders von der Verklärungsgeschichte her bekannte Dreiergruppe Petrus, Jakobus und Johannes in Seiner Nähe, die so – obwohl immer wieder vom Schlaf überwältigt – Zeugen Seines nächtlichen Ringens werden. Markus sagt uns, dass Jesus „von Furcht und Angst ergriffen“ wird. Der Herr sagt zu Seinen Jüngern: „Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht!“ (14,33f).
02.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
1. Auf dem Weg zum Ölberg (Teil VIII)
Die dritte Prophezeiung ist eine nochmalige Abwandlung der zum letzten Abendmahl gehörenden Streitgespräche mit Petrus. Petrus überhört die Auferstehungs-Vorhersage. Er nimmt nur die Ankündigung von Tod und Zerstreuung wahr, und dies bietet ihm die Gelegenheit, seinen unerschütterlichen Mut und seine radikale Treue zu Jesus zu bekunden. Weil er das Kreuz nicht will, kann er das Wort von der Auferstehung nicht vernehmen und möchte – wie schon bei Caesarea Philippi – den Erfolg ohne das Kreuz. Er baut auf die eigene Kraft.
Wer könnte leugnen, dass sein Verhalten die ständige Versuchung der Christen, ja auch der Kirche spiegelt: ohne Kreuz zum Erfolg zu kommen? So muss ihm seine Schwachheit, die dreimalig Verleugnung angekündigt werden. Niemand ist aus Eigenem stark genug, den Weg des Heils bis zum Ende zu gehen. Alle haben gesündigt, alle brauchen die Erbarmung des Herrn, die Liebe des Gekreuzigen (vgl. Röm 3,23f).
01.07.2021
6. Kapitel: Gethsemani
2. Auf dem Weg zum Ölberg (Teil VII)
Der Unheilsprophetie folgt aber sogleich auch die Heilsverheißung: „Nach Meiner Auferstehung werde Ich euch nach Galiläa vorausgehen“ (Mk 14,28). „Vorausgehen“ ist ein typisches Wort der Hirtensprache. Jesus wird durch den Tod hindurch neu leben. Als der Auferweckte ist Er vollends der Hirte, Der durch den Tod hindurch auf die Straße des Lebens führt. Zum guten Hirten gehört beides: die Lebenshingabe und das Vorausgehen. Gerade durch sie führt Er uns. Gerade durch sie öffnet Er die Tür in die Weite der Wirklichkeit hinein. Durch die Zerstreuung hindurch geschieht die endgültige Sammlung der Schafe. So steht am Anfang der Nacht auf dem Ölberg das dunkle Wort vom Schlagen und vom Zerstreuen, aber auch die Verheißung, dass Jesus gerade so sich als der wirkliche Hirte zeigen, die Zerstreuten sammeln und auf Gott zu ins Leben hineinführen werde.
30.06.2021
6. Kapitel: Gethsemani
3. Auf dem Weg zum Ölberg (Teil VI)
Nach dem gemeinsamen Psalmengebet, noch auf dem Weg zum nächtlichen Ruheort, macht Jesus drei Prophezeiungen.
Er wendete Sich die Prophetie des Sacharja an, der davon gesprochen hatte, „der Hirte" werde geschlagen werden – das heißt zu Tode kommen -, und daraufhin würden die Schafe zerstreut (Sach 13,7; Mt 26,31). Sacharja hatte in einer geheimnisvollen Vision auf einen Messias gedeutet, Der den Tod erleidet, und auf eine neuerliche darauffolgende Zerstreuung Israels. Erst durch diese äußersten Bedrängnisse hindurch hat er die Rettung von Gott her erwartet. Jesus gibt dieser dunkel bleibenden Vision, die in eine unbekannte Zukunft ausgreift, konkrete Gestalt: Ja, der Hirte wird geschlagen. Jesus Selbst ist der Hirte Israels, der Hirte der Menschheit. Und Er nimmt das Unrecht auf Sich, die zerstörerische Last der Schuld. Er lässt Sich schlagen. Er tritt auf die Seite der Geschlagenen der Geschichte. Jetzt, in dieser Stunde, bedeutet dies auch, dass die Gemeinschaft der Jünger sich zerstreut, dass diese angefangene neue Familie Gottes wieder auseinanderläuft, bevor sie recht begonnen hat. „Der Hirte gibt Sein Leben für die Schafe“ (Joh 10,11). Dieses Wort Jesu wird von Sacharja her neu beleuchtet: Die Stunde dafür ist gekommen.
29.06.2021
6. Kapitel: Gethsemani
1. Auf dem Weg zum Ölberg (Teil V)
Dies ist einer der ehrwürdigsten Orte der Christenheit. Gewiss, die Bäume stammen nicht aus der Zeit Jesu; Titus hat bei der Belagerung Jerusalems alle Bäume im weiten Umkreis abholzen lassen. Aber der Ölberg ist doch derselbe wie damals. Wer dort verweilt, begegnet einem dramatischen Höhepunkt des Geheimnisses unseres Erlösers: Hier hat Jesus die letzte Einsamkeit, die ganze Not des Menschseins erfahren. Hier ist Ihm der Abgrund der Sünde und alles Bösen ins Innerste der Seele gedrungen. Hier ist Er von der Erschütterung des nahen Todes berührt worden. Hier hat Ihn der Verräter geküsst. Hier haben Ihn alle Jünger verlassen. Hier hat Er auch um mich gerungen.
Der heilige Johannes nimmt alle diese Erfahrungen auf und gibt dem Ort eine theologische Deutung, indem er sagt: „Auf der anderen Seite des Baches Kidron war ein Garten“ (18,1). Dasselbe Stichwort kehrt am Ende der Passionsgeschichte wieder: „An dem Ort, wo man Ihn gekreuzigt hatte, war ein Garten, und in dem Garten war ein neues Grab, in dem noch niemand bestattet worden war“ (19,41). Es ist unverkennbar, dass Johannes mit dem Wort „Garten“ auf die Geschichte vom Paradies und vom Sündenfall anspielt. Er will uns sagen, dass diese Geschichte hier wieder aufgenommen wird. Im „Garten“ geschieht der Verrat, aber der Garten ist auch der Ort der Auferstehung. Denn im Garten hat Jesus den Willen des Vaters ganz bejaht, zu Seinem eigenen Willen gemacht und so die Geschichte gewendet.
28.06.2021
6. Kapitel: Gethsemani
2. Auf dem Weg zum Ölberg (Teil IV)
Wir haben gesehen, dass dies in einer tiefen Kontinuität zum ursprünglichen Gotteswillen steht und zugleich der entscheidende Wendepunkt der Religionsgeschichte ist, der mit dem Kreuz Realität wird. Gerade dieser Eingriff – die Tempelreinigung – hat wesentlich zu Seiner Verurteilung zum Kreuzestod beigetragen, und eben so hat sich Seine Prophetie erfüllt, hat der neue Kult begonnen.
„Sie kamen zu einem Grundstück, das Gethsemani heißt, und Er sagte zu Seinen Jüngern: Setzt euch und wartet hier, während Ich bete“ (Mk 14,32). Gerhard Kroll bemerkt dazu: „Zur Zeit Jesu befand sich auf diesem Gelände zum Abhang des Ölbergs ein Gehöft mit einer Ölkelter, in der die Oliven ausgepresst wurden… Sie gab dem Gehöft den Namen: Gethsemani… Ganz in der Nähe lag eine große Naturhöhle, die Jesus und Seinen Jüngern eine sichere, wenn auch nicht gerade bequeme Unterkunft für die Nacht bieten konnte“ (S. 404). Die Pilgerin Aetheria fand schon im ausgehenden 4. Jahrhundert hier eine „prächtige Kirche“ vor, die in den Wirren der Zeiten verfiel, aber von den Franziskanern im 20. Jahrhundert wieder freigelegt wurde. „Die neue, im Jahre 1924 vollendete Kirche der Todesangst Jesu umschließt mit dem Gelände der „ecclesia elegans“ (der Kirche der Pilgerin Aetheria) wieder den Felsen, auf dem nach der Tradition… Jesus betete (Kroll, S. 410).
27.06.2021
6. Kapitel: Gethsemani
1. Auf dem Weg zum Ölberg (Teil III)
Dieser Vorgang der Aufnahme und der Transposition, der in Jesu Psalmenbeten beginnt, ist kennzeichnend für die Einheit der beiden Testamente, wie Er sie uns lehrt. Er selbst betet ganz mit Israel mit und ist doch Israel auf neue Weise: Das alte Pascha erscheint nun als ein großer Vor-Entwurf. Aber das neue Pascha ist Er selbst, und die wirkliche „Befreiung“ geschieht jetzt, durch Seine die ganze Menschheit umgreifende Liebe.
Dieses Ineinander von Treue und Neuheit, das wir alle Kapitel dieses Buches hindurch in der Gestalt Jesu beobachten konnten, zeigt sich auch noch an einem anderen Detail der Ölberggeschichte. Die Nächte zuvor hatte Jesus Sich nach Bethanien zurückgezogen. In dieser Nacht, die Er als Seine Pascha-Nacht begeht, folgt Er der Vorschrift, das Stadtgebiet von Jerusalem nicht zu verlassen, dessen Grenze für diese Nacht erweitert wurde, um allen Pilgern die Möglichkeit zu bieten, sich an dieses Gesetz zu halten. Jesus beachtet die Norm und geht gerade so wissend dem Verräter und der Stunde der Passion entgegen.
Wenn wir an diesem Punkt noch einmal auf den ganzen Weg Jesu zurückblicken, sehen wir auch hier das gleiche Ineinander von Treue und völliger Neuheit: Jesus ist „observant“. Er feiert die jüdischen Feste mit. Er betet im Tempel. Er hält sich an Mose und die Propheten. Aber zugleich wird doch alles neu: von Seiner Auslegung des Sabbat (Mk 2,27); vgl. dazu auch Teil I, S. 138 – 145) über die Reinheitsgebote (Mk 7) zur neuen Interpretation des Dekalogs in der Bergpredigt (Mt 5,17 – 48) bis hin zur Tempelreinigung (Mt 21,12f par.), die das Ende des steinernen Tempels vorwegnimmt und den neuen Tempel, die neue Anbetung „in Geist und Wahrheit“ (Joh 4,24) angekündigt.
26.06.2021
6. Kapitel: Gethsemani
1. Auf dem Weg zum Ölberg (Teil II)
Jesus betet mit Seinen Jüngern die Psalmen Israels: Dies ist ein grundlegender Vorgang einerseits zum Verständnis der Gestalt Jesu, aber andererseits auch zum Verständnis der Psalmen selbst, die in Ihm in gewisser Hinsicht ein neues Subjekt, eine neue Weise der Gegenwart und zugleich eine Erweiterung über Israel hinaus ins Universale erhalten. Wir werden sehen, dass darin auch eine neue Vision der Gestalt Davids aufsteht: Im kanonischen Psalter wird David als der Hauptverfasser der Psalmen angesehen. Er erscheint so als der Vor-Beter Israels, der alle Leiden und Hoffnungen Israels zusammengefasst, in sich trägt und in Gebet verwandelt. So kann nun Israel immerfort mit ihm beten und sich selbst ausdrücken in den Psalmen, von denen her es auch in allen Dunkelheiten immer neue Hoffnung empfängt. In der werdenden Kirche wurde alsbald Jesus als der neue, der wirkliche David betrachtet, und so konnten die Psalmen ohne Bruch doch neu als ein Beten in der Gemeinschaft mit Jesus Christus vollzogen werden. Augustinus hat diese früh sich bildende Form christlichen Psalmenbetens in vollendeter Weise erklärt, indem er sagte, in den Psalmen spreche immer Christus – einmal als Haupt, einmal als Leib (vgl. z.B. En. in Ps. 60,1f; 61,4; 85,1.5). Aber durch Ihn, Jesus Christus, sind wir nun doch ein einziges Subjekt und können so mit Ihm wirklich mit Gott reden.
25.06.2021
6. Kapitel: Gethsemani
1. Auf dem Weg zum Ölberg (Teil I)
„Nach dem Lobgesang gingen sie zum Ölberg hinaus“ – mit diesen Worten beschließen Matthäus und Markus ihre Abendmahlsberichte (Mt 26,30; Mk 14,26). Das letzte Mahl Jesu – ob Pascha-Mahl oder nicht - ist vor allem ein gottesdienstliches Geschehen. In seiner Mitte steht das Dank- und Segensgebet, und es mündet wieder ins Gebet. Jesus geht mit den Seinen betend in die Nacht hinaus, die an die Nacht erinnert, in der Ägyptens Erstgeburt erschlagen und Israel durch das Blut des Lammes gerettet wude (Ex 12) – in die Nacht, in der Er das Schicksal des Lammes übernehmen muss.
Man nimmt an, dass Jesus im Sinn des Pascha, das Er auf Seine Weise begangen hatte, wohl einige Psalmen des Hallel (113 – 118 und 136) gesungen hat, in denen Gott für die Rettung Israels aus Ägypten gedankt wird, in denen aber auch von dem durch die Bauleute verworfenen Stein die Rede ist, der nun wunderbarerweise zum Eckstein geworden ist. Vergangene Geschichte wird in diesen Psalmen immer neu Gegenwart. Der Dank für die Befreiung ist zugleich Hilferuf inmitten immer neuer Bedrängnisse und Bedrohungen, und im Wort vom verworfenen Stein werden Dunkel und Verheißung dieser Nacht zugleich gegenwärtig.
24.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
4. Vom Abendmahl zur Eucharistie am Sonntagmorgen (Teil VII)
Es war logisch, dass sich mit der Eucharistiefeier der anfangs noch in der Synagoge gehaltene Wortgottesdienst – Lesung der Schriften, Auslegung und Gebet – verband. Damit war dann zu Beginn des 2. Jahrhunderts die Gestaltwerdung des christlichen Gottesdienstes in ihren wesentlichen Komponenten abgeschlossen. Dieser Werdeprozess gehört in die Stiftung selbst hinein. Die Stiftung setzt – wie gesagt – die Auferstehung voraus und damit auch die lebendige Gemeinschaft, die unter der Führung des Geistes Gottes der Gabe des Herrn ihre Form im Leben der Glaubenden gibt.
Ein Archaismus, der hinter die Auferstehung und ihre Dynamik zurückgehen und nur das Abendmahl nachahmen wollte, entspräche gerade nicht dem Wesen der Gabe, die der Herr den Jüngern vermacht hat. Der Tag der Auferstehung ist der äußere und innere Ort des christlichen Gottesdienstes, und die Danksagung als schöpferische Vorwegnahme der Auferstehung durch Jesus ist die Weise, wie der Herr uns mit Ihm zu Dankenden macht, wie Er in der Gabe uns segnet und uns in die Verwandlung hineinzieht, die von den Gaben her zu uns kommen und auf die Welt ausgreifen soll, „bis Er kommt“ (1 Kor 11,26).
23.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
4. Vom Abendmahl zur Eucharistie am Sonntagmorgen (Teil VI)
In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Paulus anordnet, die Geldsammlung für Jerusalem habe jeweils „am ersten Tag der Woche“ stattzufinden (1 Kor 16,2). Von der Eucharistiefeier ist da zwar nicht die Rede, aber offensichtlich ist der Sonntag der Versammlungstag der korinthischen Gemeinde und damit wohl auch eindeutig der Tag ihres Gottesdienstes. Schließlich finden wir in Offb 1,10 erstmals für den Sonntag die Bezeichnung „Tag des Herrn“. Die neue christliche Gliederung der Woche ist klar ausgeformt. Der Tag der Auferstehung ist der Tag des Herrn und damit auch der Tag Seiner Jünger, der Kirche. Am Ende des 1. Jahrhunderts ist die Tradition bereits klar fixiert, wenn die Zwölf-Apostel-Lehre (Didaché, ca. 100) ganz selbstverständlich sagt: „Am Tag des Herrn sollt ihr zusammenkommen, Brot brechen und danken, nachdem ihr zuvor eure Sünden bekannt habt (14,1). Für Ignatius von Antiochien (+ ca. 110) ist das Leben „nach dem Tag des Herrn“ bereits Unterscheidungskennzeichen der Christen gegenüber denen, die den Sabbat feiern (Ad Magn. 9,1).
22.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
4. Vom Abendmahl zur Eucharistie am Sonntagmorgen (Teil V)
Für die Gestaltwerdung des christlichen Gottesdienstes ist aber noch ein weiteres Moment maßgebend. Der Herr hatte von Seiner Erhörungsgewissheit her den Jüngern schon im Abendmahl Seinen Leib
und Sein Blut als Gabe der Auferstehung gereicht: Kreuz und Auferstehung gehören in die Eucharistie, ohne sie ist sie nicht sie selbst. Aber weil die Gabe Jesu wesentlich Gabe von der Auferstehung her ist, musste sich die Feier des Sakraments notwendig mit dem Auferstehungsgedächtnis verbinden. Die erste Begegnung mit dem Auferstandenen hatte sich am Morgen des ersten Tages der Woche – des dritten nach Jesu Tod -, also am Sonntagmorgen, vollzogen. Der Morgen des ersten Tages wurde damit von selbst der Zeitpunkt des christlichen Gottesdienstes, der Sonntag zum „Tag des Herrn“.
Diese zeitliche Festlegung der christlichen Liturgie, die zugleich ihr inneres Wesen und ihre Gestalt bestimmt, ist sehr früh vollzogen worden. So erzählt uns der Augenzeugenbericht in Apg 20,6 – 11 von der Reise des heiligen Paulus und seiner Gefährten nach Troas und sagt: „Als wir aber am ersten Tag der Woche versammelt waren, um das Brot zu brechen…“ (20,7). Das bedeutet, dass schon in apostolischer Zeit das „Brotbrechen“ auf den Morgen des Auferstehungstages verlegt war – dass Eucharistie als Begegnung mit dem Auferstandenen gefeiert wurde.
21.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
4. Vom Abendmahl zur Eucharistie am Sonntagmorgen (Teil IV)
Natürlich sind diese Zusammenhäge den Jüngern erst nach und nach aufgegangen. Aber von der Danksagung Jesu her, die der jüdischen Berakha eine neue Mitte gibt, erweist sich das Dankgebet, die eucharistia, zunehmend als die eigentlich prägende Form, als die liturgische Gestalt, in der die Stiftungsworte ihren Sinn haben und in der sich der neue Kult darstellt, der die Tempelopfer ablöst: Verherrlichung Gottes im Wort, aber in einem Wort, das in Jesus Fleisch geworden ist und von diesem durch den Tod hindurchgegangenen Leib Jesu her nun den ganzen Menschen, die ganze Menschheit einbezieht – und Anfang für die neue Schöpfung wird.
Josef Andreas Jungmann, der große Erforscher der Geschichte der Eucharistiefeier und einer der Architekten der Liturgie-Reform, fasst dies Ganze zusammen, indem er sagt: „Grundgestalt ist das Dankgebet über Brot und Wein. Vom Dankgebet nach dem Mahle des letzten Abends hat die Liturgie der Messe ihren Ausgang genommen, nicht vom Mahle selbst. Dieses wurde für so wenig wesentlich und für so sehr ablösbar gehalten, dass es noch in der Urkirche weggefallen ist. Dagegen hat die Liturgie und haben alle Liturgien das über Brot und Wein gesprochene Dankgebet weiterentwickelt… Das, was die Kirche in der Messe feiert, ist nicht das letzte Abendmahl, sondern das, was der Herr beim letzten Abendmahl eingesetzt und der Kirche übergeben hat: das Gedächtnis Seines Opfertodes“ (Messe im Gottesvolk, S. 24).
Dem entspricht die historische Feststellung, „dass in der ganzen Überlieferung der Christenheit nach der Loslösung der Eucharistie von einem wirklichen Mahl (wo ‘Brotbrechen‘ und ‚Herrenmahl‘ erscheint) bis zur Reformation des 16. Jahrhunderts für die Feier der Eucharistie nirgends ein Name gebraucht wird, der ‚Mahl‘ bedeutet“ (S. 23, Anm. 73).
20.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
4. Vom Abendmahl zur Eucharistie am Sonntagmorgen (Teil III)
Wofür hat Jesus gedankt? Für die „Erhörung“ (Hebr 5,). Er hat im Voraus dafür gedankt, dass der Vater Ihn nicht im Tod lassen werde (vgl. Ps 16,10). Er hat für die Gabe der Auferstehung gedankt, und von ihr her konnte er jetzt schon in Brot und Wein Seinen Leib und Sein Blut geben als Unterpfand der Auferstehung und des ewigen Lebens (vgl. Joh 6,53 – 58).
Wir dürfen an das Schema der Gelübde-Psalmen denken, in denen der Bedrängte ankündigt, dass er nach seiner Errettung Gott danken und vor großer Gemeinde Gottes rettende Tat verkündigen werde. Der Passionspsalm 22, der mit den Worten beginnt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“ endet mit einem Versprechen, das die Erhörung vorwegnimmt: „Deine Treue preise ich in großer Gemeinde; ich erfülle meine Gelübde vor denen, die Gott fürchten. Die Armen sollen essen und sich sättigen; den Herrn sollen preisen, die Ihn suchen…“ (26f). In der Tag – nun erfüllt es sich: „Die Armen werden essen“ – sie empfangen mehr als irdische Nahrung, sie empfangen das wirkliche Manna: die Gemeinschaft mit Gott im auferstandenen Christus.
19.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
4. Vom Abendmahl zur Eucharistie am Sonntagmorgen (Teil II)
So war es mit den Worten und Gesten Jesu zwar das Wesentliche des neuen “Kultes“ geschenkt, aber noch nicht eine fertige kultische Gestalt vorgegeben. Sie musste sich im Leben der Kirche erst bilden. Es lag nahe, dass man zunächst nach dem Vorbild des Letzten Abendmahles miteinander Mahl hielt und dann die Eucharistie anfügte. Rudolf Pesch hat gezeigt, dass diese Mahlzeit bei der sozialen Struktur der werdenden Kirche und bei den gegebenen Lebensgewohnheiten wahrscheinlich ohnedies nur aus Brot bestand, ohne andere Speisen.
Im Ersten Korinther-Brief (11,20ff.34) sehen wir, dass in einer anderen Gesellschaft die Dinge anders verliefen: Die Wohlhabenden brachten ihre Mahlzeit mit und griffen kräftig zu, während es für die Armen auch dort beim Brot allein blieb. Solche Erfahrungen haben dann recht früh zur Trennung von Herrenmahl und Sättigungsmahl geführt und zugleich das Werden einer eigenen liturgischen Gestalt vorangetrieben. In keinem Fall dürfen wir uns vorstellen, dass beim „Herrenmahl“ nur einfach die Wandlungsworte rezitiert wurden. Von Jesus selbst her erscheinen sie als Teil Seiner Berakha, Seines Dank- und Segensgebets.
18.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
4. Vom Abendmahl zur Eucharistie am Sonntagmorgen (Teil I)
Bei Paulus und Lukas folgt auf das Wort „Das ist Mein Leib, der für euch hingegeben wird“ der Wiederholungsbefehl: „Tut dies zu Meinem Gedächtnis!“; Paulus bringt ihn in ausführlicherer Form noch einmal nach dem Kelchwort. Markus und Matthäus überliefern diesen Auftrag nicht. Aber da die konkrete Gestalt ihrer Berichte von liturgischer Übung geprägt ist, ist klar, dass auch sie dieses Wort als Stiftung verstanden: dass in der Jüngergemeinschaft weitergehen musste, was hier erstmals geschehen war.
So erhebt sich aber die Frage: Was genau hat der Herr zur Wiederholung aufgetragen? Sicher nicht das Pascha-Mahl (falls das Letzte Mahl Jesu ein solches war).Das Pascha war ein Jahresfest, dessen wiederkehrende Feier in Israel durch die heilige Überlieferung klar geregelt und an ein bestimmtes Datum gebunden war. Auch wenn es sich an jenem Abend nicht um ein eigentliches Pascha-Mahl nach jüdischem Recht handelte, sondern um ein letztes irdisches Mahl vor dem Tod, ist dieses nicht zur Wiederholung aufgetragen worden.
Zur Wiederholung aufgetragen ist so nur das, was Jesus an diesem Abend neu getan hat: das Brotbrechen, das Gebet des Segens und des Dankens und mit ihm die Worte der Verwandlung von Brot und Wein. Wir können sagen: Durch diese Worte wird unser Jetzt in den Augenblick Jesu hineingenommen. Es vollzieht sich, was Jesus in Joh 12,32 angekündigt hat: Vom Kreuz her zieht Er alle an Sich, in Sich hinein.
17.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil XVI)
Der evangelische Theologe Ferdinand Kattenbusch hat 1921 zu zeigen versucht, dass die Stiftungsworte Jesu beim Letzten Abendmahl der eigentliche Akt der Kirchengründung seien. Damit habe Jesus Seinen Jüngern das Neue gegeben, das sie zusammenschloss und sie zur Gemeinschaft machte. Kattenbusch hatte recht: Mit der Eucharistie ist die Kirche selbst gestiftet. Sie wird eins, sie wird sie selbst vom Leib Christi her, und sie wird zugleich von Seinem Tod her geöffnet auf die Weite der Welt und der Geschichte hin.
Die Eucharistie ist sichtbares Geschehen der Versammlung, das – am Ort und über die Orte hin – Eintreten in die Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott ist, Der die Menschen von innen her zueinander führt. Kirche wird von der Eucharistie her. Sie empfängt von ihr her ihre Einheit und ihre Sendung. Die Kirche kommt vom Abendmahl, aber deshalb von Tod und Auferstehung Christi her, die Er in der Gabe von Leib und Blut vorweg genommen hat.
16.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil XV)
Sehen können wir dann, wie auf dem Weg der werdenden Kirche zugleich langsam das Verstehen der Sendung Jesu wächst und wie das "Erinnern" der Jünger unter der Führung des Gottesgeistes (vgl. Joh 14,26) allmählich das ganze Geheimnis wahrzunehmen beginnt, das hinter Jesu Worten steht. 1 Tim 2,6 spricht von Jesus Christus als dem einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, „Der Sich als Lösegeld hingegeben hat für alle“. Die universale Heilsbedeutung von Jesu Tod ist hier in kristallener Klarheit ausgesprochen.
Historisch differenzierte und miteinander in der Sache völlig übereinstimmende Antworten auf die Frage nach dem Radius von Jesu Heilswerk – indirekte Antworten auf das Problem viele/alle – können wir bei Paulus und Johannes finden. Paulus schreibt den Römern, dass die Heiden “in voller Zahl“ (pleroma) das Heil erlangen müssen und dass ganz Israel gerettet wird (vgl. 11,25f). Johannes sagt, dass Jesus „für das Volk“ (die Juden) sterben werde, aber nicht nur für das Volk, sondern auch, um die zerstreuten Kinder Gottes zur Einheit zu sammeln (11,50ff). Jesu Tod gilt Juden und Heiden, der Menschheit im Ganzen.
Wenn mit „viele“ bei Jesaja wesentlich die Gesamtheit Israels gemeint sein mochte, so wird in der gläubigen Antwort der Kirche auf Jesu neuen Gebrauch des Wortes immer mehr sichtbar, dass Er in der Tat für alle gestorben ist.
15.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil XIV)
Denn es bleibt die grundlegende Deutung, die Jesus von Seiner Sendung in Mk 10,45 gibt, in der ebenfalls das Wort „viele“ erscheint: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um Sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und Sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“. Hier ist klar von der Lebenshingabe als solcher die Rede, und so ist klar, dass Jesus dabei die Gottesknecht-Prophetie von Jes 53 aufnimmt und mit der Sendung des Menschensohnes verbindet, die damit eine neue Deutung erfährt.
Was sollen wir also sagen? Es scheint mir anmaßend und zugleich einfältig, in Jesu Bewusstsein hineinleuchten und es von dem her klären zu wollen, was Er aufgrund unserer Erkenntnis jener Zeit und ihrer theologischen Anschauungen gedacht oder nicht gedacht haben kann. Wir können nur sagen, dass Er in Sich Selbst die Sendung des Gottesknechtes und die des Menschensohnes erfüllt wusste – wobei mit der Verbindung zwischen beiden Motiven zugleich eine Entschränkung der Sendung des Gottesknechtes verbunden ist, eine Universalisierung, die in eine neue Weite und Tiefe verweist.
14.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil XIII)
Neuerdings hat der Wiener Jesuit Norbert Baumert zusammen mit Maria-Irma Seewann eine Deutung des „für viele“ vorgelegt, die in der Hauptlinie schon 1947 Joseph Pascher in seinem Buch Eucharistia entwickelt hatte. Der Kern der These ist: Das „Ausgegossen-Werden“ beziehe sich von der sprachlichen Struktur des Textes her nicht auf das Blut, sondern auf den Becher; „es wäre dann von einem aktiven ‚Ausschenken‘ des Blutes aus dem Kelch die Rede, worin das göttliche Leben selbst überreich geschenkt wird, ohne dass das Tun von Henkern auch nur mit anklingen würde“ (Gregorianum 89, S. 507). Das Kelchwort würde also nicht vom Vorgang des Kreuzestodes und seiner Wirkung, sondern von der sakramentalen Handlung sprechen, und so würde auch das Wort „viele“ sich klären: Während der Tod Jesu „für alle“ gilt, ist die Reichweite des Sakraments beschränkter: Es kommt zu vielen, aber nicht zu allen (vgl. bes. S. 511).
Diese Lösung kann, streng philologisch betrachtet, für den Markus-Text in 14,24 zutreffen. Wenn man dem Matthäus-Text keine Originalität gegenüber Markus zuschreibt, könnte sie für die Abendmahlsworte als einleuchtend bezeichnet werden. Der Verweis auf den Unterschied zwischen dem Radius der Eucharistie und dem universalen Radius des Kreuzestodes Jesu ist auf jeden Fall wertvoll und kann ein Stück voranführen. Aber das Problem des Wortes „viele“ ist damit doch nur zum Teil erklärt.
13.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil XII)
Aber was bedeutet „ausgegossen für viele“? In seinem grundlegenden Werk „Die Abendmahlsworte Jesu“ (1935) hat Joachim Jeremias zu zeigen versucht, dass das Wort „viele“ in den Einsetzungsberichten ein Semitismus sei und daher nicht von der griechischen Wortbedeutung her, sondern von den entsprechenden alttestamentlichen Texten aus gelesen werden müsse. Er versucht zu beweisen, dass das Wort „viele“ im Alten Testament „die Gesamtheit“ bedeute, also in Wirklichkeit mit „alle“ zu übersetzen sei. Diese These hat sich damals schnell durchgesetzt und wurde zum theologischen Allgemeingut. Von ihr her wurde dann in verschiedenen Sprachen bei den Wandlungsworten „viele“ mit „alle“ übersetzt. „Für euch und für alle vergossen“, hören heute die Gläubigen die Worte Jesu während der Eucharistiefeier.
Inzwischen ist aber dieser Konsens unter den Exegeten wieder zerbröckelt. Die überwiegende Meinung geht heute dahin, dass „viele“ in Jes 53 und auch an anderen Stellen zwar eine Gesamtheit bezeichne, aber nicht einfach mit „alle“ gleichgesetzt werden könne. Im Anschluss an qumranischen Sprachgebrauch geht man jetzt überwiegend davon aus, dass „viele“ bei Jesaja und bei Jesus die „Gesamtheit“ Israels bedeute (vgl. Pesch, Abendmahl, S. 99f; Wilckens I/2, S. 84). Erst mit dem Übergang des Evangeliums zu den Heiden sei der universalistische Horizont von Jesu Sterben uns Seiner Sühne sichtbar geworden, die Juden und Heiden gleichermaßen umfasst.
12.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil XI)
Nun bleibt noch ein Wort aus den Stiftungsworten Jesu auszulegen, das in jüngster Zeit Anlass zu vielfältigen Debatten geworden ist. Nach Markus und Matthäus hat Jesus gesagt, dass Sein Blut „für viele“ ausgegossen werde und damit eben auf Jes 53 angespielt, während bei Paulus und Lukas vom Geben bzw. Ausgießen „für euch“ die Rede ist.
Die neuere Theologie hat mit Recht das allen vier Berichten gemeinsame Wort „für“ unterstrichen, das man als Schlüsselwort nicht nur der Abendmahlsberichte, sondern der Gestalt Jesu überhaupt ansehen darf. Sein ganzes Wesen wird mit dem Wort „Proexistenz“ umschrieben – ein Stehen nicht für Sich Selbst, sondern für die anderen, das nicht etwa nur eine Dimension dieser Existenz ist, sondern ihr Innerstes und Ganzes. Sein Sein ist als solches „Sein für“. Wenn uns gelingt, dies zu verstehen, sind wir wirklich dem Geheimnis Jesu nahegekommen, dann wissen wir auch, was Nachfolge heißt.
11.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil X)
Diese Seine Treue besteht darin, dass Er nun nicht nur als Gott gegenüber den Menschen handelt, sondern auch als Mensch gegenüber Gott, und den Bund so unwiderruflich fest gründet. Deshalb gehört die Figur des Gottesknechtes, Der die Sünden vieler trägt (Jes 53,12), mit der Verheißung des unzerstörbar gegründeten Neuen Bundes zusammen. Diese nicht mehr zu zerstörende Eingründung des Bundes im Herzen des Menschen, der Menschheit selbst, geschieht im stellvertretenden Leiden des Sohnes, Der Knecht geworden ist. Von da an steht der ganzen schmutzigen Flut des Bösen der Gehorsam des Sohnes entgegen, in Dem Gott Selbst gelitten hat und Dessen Gehorsam daher immer unendlich größer ist als die wachsende Masse des Bösen (vgl. Röm 5,16-20).
Das Tierblut hatte weder „sühnen“ noch Gott und Menschen verbinden können. Es konnte nur ein Zeichen der Hoffnung und der Erwartung auf einen wirklich rettenden größeren Gehorsam sein. Im Kelchwort Jesu ist dies alles zusammengefasst und zur Wirklichkeit geworden: Er schenkt den „Neuen Bund in Seinem Blut“. „Sein Blut“ – das ist die vollständige Gabe Seiner Selbst, in der Er alles Unheil der Menschheit durchleidet, allen Treubruch aufarbeitet in Seine bedingungslose Treue hinein. Das ist der neue Kult, den Er im Abendmahl stiftet: das Hineinziehen der Menschheit in Seinen stellvertretenden Gehorsam. Teilhabe an Leib und Blut Christi bedeutet, dass Er „für viele“, für uns steht und uns im Sakrament in diese Vielen aufnimmt.
10.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil IX)
In dieser Stunde tritt die Hoffnung auf den „Neuen Bund" hervor, der nicht mehr auf der immer brüchigen Treue menschlichen Wollens gegründet, sondern unzerstörbar in die Herzen selbst eingeschrieben ist (vgl. Jer 31,33). Der Neue Bund muss, mit anderen Worten, auf einen Gehorsam gegründet sein, der unwiderruflich und unverletzlich ist. Dieser nun in der Wurzel des Menschseins gründende Gehorsam ist der Gehorsam des Sohnes, Der Sich zum Knecht gemacht hat und allen menschlichen Ungehorsam in Seinen bis in den Tod gehenden Gehorsam aufnimmt, durchleidet und überwindet.
Gott kann den Ungehorsam der Menschen, all das Böse der Geschichte nicht einfach ignorieren, nicht als belanglos und bedeutungslos behandeln. Eine solche Art von „Barmherzigkeit", von "bedingungsloser Vergebung" wäre jene „billige Gnade", gegen die sich Dietrich Bonhoeffer vor dem Abgrund des Bösen in seiner Zeit mit Recht gewandt hat. Das Unrecht, das Böse als Realität kann nicht einfach ignoriert, nicht einfach stehengelassen werden. Es muss aufgearbeitet, besiegt werden. Nur das ist die wahre Barmherzigkeit. Und dass Gott nun, weil die Menschen es nicht zustande bringen, es Selber tut – das ist die "bedingungslose" Güte Gottes, die nie gegen die Wahrheit und die ihr zugehörige Gerechtigkeit stehen kann. „Wenn wir untreu sind, bleibt er doch treu, denn Er kann Sich Selbst nicht verleugnen“, schreibt Paulus an Timotheus (2 Tim 2,13).
09.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil VIII)
Versuchen wir nun, diese drei Texte in ihrer je eigenen Bedeutung und in ihrem neuen Zusammenhang zu verstehen. Der Sinai-Bund beruhte nach der Darstellung von Ex 24 auf zwei Elementen: zum einen auf dem "Bundesblut“, dem Blut geopferter Tiere, mit dem der Altar – als Sinnbild Gottes - und das Volk besprengt wurden, zum anderen auf dem Wort Gottes und dem Gehorsamsversprechen Israels: „Das ist das Blut des Bundes, den der Herr aufgrund all dieser Worte mit euch geschlossen hat", hatte Moses feierlich nach dem Besprengungsritus gesagt. Unmittelbar vorher hatte das Volk auf die Vorlesung der Bundesurkunde geantwortet: „Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun; wir wollen gehorchen“ (Ex 24,7 f).
Dieses Gehorsamsversprechen, das für den Bund konstitutiv ist, wurde unmittelbar darauf, während Mose auf dem Berg war, durch die Anbetung des Goldenen Kalbes gebrochen. Die ganze Geschichte, die darauf folgt, ist eine Geschichte immer neuen Abfalls vom Gehorsamsversprechen, wie sowohl die Geschichtsbücher des Alten Testaments wie die Bücher der Propheten zeigen. Der Bruch scheint unheilbar in dem Augenblick, in dem Gott Sein Volk der Verbannung und den Tempel der Zerstörung überlässt.
08.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil VII)
Und Er weiß: „Ich habe Macht, Mein Leben hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen (Joh 10,18). Er gibt das Leben und weiß, dass Er es gerade so neu nimmt. Im Geben Seines Lebens ist die Auferstehung mit eingeschlossen. Deswegen kann Er antizipativ Sich schon jetzt austeilen, weil Er jetzt schon das Leben - Sich Selber – gibt und es darin jetzt schon wieder empfängt. So kann Er jetzt das Sakrament stiften, in dem Er sterbendes Weizenkorn wird und durch die Zeiten hindurch in der wahren Brotvermehrung Sich Selbst an die Menschen austeilt.
Das Kelchwort, dem wir uns nun zuwenden, ist von einer außerordentlichen theologischen Dichte. Wie oben schon angedeutet, sind in dessen wenigen Worten drei alttestamentliche Texte miteinander verwoben, sodass darin die ganze vorhergehende Heilsgeschichte zusammengefasst und wieder Gegenwart wird.
Da ist zunächst Ex24,8 – der Bundesausschuss am Sinai; dann ist da Jer 31,31 – die Verheißung des Neuen Bundes inmitten der Krise der Bundesgeschichte, einer Krise, deren deutlichsten Manifestationen die Tempelzerstörung und das Babylonische Exil waren; schließlich ist da Jes 53,12 – die geheimnisvolle Verheißung des Gottesknechtes, Der die Sünde vieler trägt und so für sie das Heil erwirkt.
07.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil VI)
„Caritas", die Sorge um den anderen, ist nicht ein zweiter Sektor des Christentums neben dem Kult, sondern in diesem selbst verankert ihm zugehörig. Horizontale und Vertikale sind in der Eucharistie, im "Brotbrechen" untrennbar verbunden. In der doppelten Aussage vom Danken und Teilen zu Beginn des Einsetzungsberichtes wird das Wesen des neuen Kultes sichtbar, den Christus in Abendmahl, Kreuz und Auferstehung gestiftet hat: Darin wird der alte Tempelkult aufgehoben und zugleich zu seiner Erfüllung gebracht.
Kommen wir zu dem über das Brot gesprochenen Wort. Nach Markus und Matthäus lautet es einfach: „Das ist Mein Leib", Paulus und Lukas fügen hinzu: „der für euch hingegeben wird". Sie verdeutlichen damit, was an sich in der Gebärde des Austeilens enthalten ist. Wenn Jesus von Seinem Leib spricht, so ist damit selbstverständlich nicht der Körper im Unterschied zu Seele oder Geist gemeint, sondern die ganze, leibhaftige Person. In diesem Sinn kommentiert Rudolf Pesch mit Recht: Jesus "setzt die besondere Bedeutung Seiner Person bei Seiner Brotdeutung voraus. Die Jünger konnten verstehen: Das bin Ich, der Messias" (Markusevangelium II, S.357).
Wie aber kann das geschehen? Jesus steht doch inmitten Seiner Jünger – was tut Er da? Er vollzieht das, was Er in der Hirtenrede gesagt hatte: „Niemand entreißt Mir das Leben, sondern Ich gebe es von Mir aus hin" (Joh 10,18). Das Leben wird Ihm am Kreuz entrissen, aber Er gibt es jetzt schon von sich aus hin. Er wandelt Seinen gewaltsamen Tod in einen freien Akt der Hingabe Seiner Selbst für die anderen und an die anderen um.
06.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil V)
Als Zweites wird uns gesagt, dass Jesus "das Brot brach". Das Brechen des Brotes für alle ist zunächst die Funktion des Hausvaters, der damit irgendwie auch den Vater-Gott vertritt, Der uns allen das für das Leben Nötige durch die Fruchtbarkeit der Erde zuteilt. Es ist dann auch der Gestus der Gastlichkeit, durch die man den Fremden am Eigenen teilhaben lässt, ihn in die Tischgemeinschaft aufnimmt. Brechen und Teilen: Gerade das Teilen schafft Gemeinschaft. Diese menschliche Urgeste des Gebens, des Teilens und Einens, erhält im letzten Mahl Jesu eine ganz neue Tiefe: Er gibt Sich Selbst. Die austeilende Güte Gottes wird ganz radikal in dem Augenblick, in dem der Sohn Sich Selber mitteilt und austeilt.
Die Geste Jesu ist so zum Sinnbild für das ganze Geheimnis der Eucharistie geworden: In der Apostelgeschichte und überhaupt in der frühen Christenheit ist "Brotbrechen" Bezeichnung für die Eucharistie. In ihr empfangen wir die Gastlichkeit Gottes, Der Sich in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, an uns verschenkt. So aber ist Brotbrechen und Teilen – der Akt der liebenden Zuwendung zu dem, der meiner bedarf – eine innere Dimension der Eucharistie selbst.
05.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil IV)
Die beiden verschiedenen Wörter, die Markus/Matthäus einerseits und Paulus/Lukas andererseits verwenden, deuten auf die beiden Richtungen hin, die diesem Gebet innewohnen: Es ist Dank und Lobpreisung für Gottes Gabe. Dieser Lobpreis aber kehrt als Segen auf die Gabe zurück, wie es in 1 Tim 4,4 steht: “Alles, was Gott geschaffenen hat, ist gut und nichts ist verwerflich, wenn es mit Dank (eucharistia) genossen wird; es wird geheiligt durch Gottes Wort und durch das Gebet.“ Jesus hat beim letzten Abendmahl (wie schon bei der Brotvermehrung, Joh 6,11) diese Überlieferung aufgenommen. Die Einsetzungsworte gehören in diesen Gebetskontext hinein; in ihnen wird Dank zu Segen und zu Verwandlung.
Die Kirche hat von ihren frühesten Anfängen an die Wandlungsworte nicht einfach als eine Art von quasi magischem Befehl aufgefasst, sondern als Teil des Betens im Mitbeten mit Jesus; als zentralen Teil des dankenden Lobpreises, durch den uns die irdische Gabe von Gott her neu geschenkt wird als Jesu Leib und Blut, als Selbstschenkung Gottes in der sich öffnenden Liebe Seines Sohnes. Louis Bouyer hat die Entwicklung der christlichen Eucharistia – des Hochgebetes – aus der jüdischen Berakha nachzuzeichnen versucht. So wird verständlich, dass „Eucharistie" zum Namen für das ganze von Jesus geschenkte neue gottesdienstliche Geschehen wurde. Darauf werden wir im vierten Abschnitt dieses Kapitels noch einmal zurückkommen müssen.
04.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil III)
Wir gehen davon aus, dass es die Überlieferung der Worte Jesu nicht ohne die Rezeption durch die werdende Kirche gibt, die sich streng zur Treue im Wesentlichen verpflichtet wusste, aber sich auch bewusst war, dass die Schwingungsbreite der Worte Jesu mit ihren subtilen Anklängen an Worte der Schrift in Nuancen Gestaltungen zuließ. So konnte man sowohl Ex 24 wie Jer 31 in den Worten Jesu mithören und mehr das eine oder das andere akzentuieren, ohne damit diesen Worten untreu zu werden, die kaum hörbar und doch unmissverständlich Gesetz und Propheten in sich einholten. Damit sind wir aber nun schon zur Deutung der Herrenworte übergegangen.
Die Einsetzungsberichte beginnen in allen vier Texten mit zwei Aussagen über das Tun Jesu, die für die Rezeption des ganzen in der Kirche wesentliche Bedeutung gewonnen haben. Es wird uns gesagt, dass Jesus das Brot nahm, das Segens- und Dankgebet sprach und dann das Brot teilte. Am Anfang stand die Eucharistie (Paulus/Lukas) beziehungsweise die Eulogia (Markus/Matthäus): Beide Begriffe verweisen auf die Berakha, das große Dank- und Segensgebet der jüdischen Überlieferung, das sowohl beim Pascha-Ritual wie zu anderen Mahlzeiten gehört. Man isst nicht, ohne Gott für die Gabe zu danken, die Er schenkt: für das Brot, das Er aus der Erde hervorgehen lässt, wie für die Frucht des Weinstock.
03.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil II)
Wichtig sind aber zwei deutliche Unterschiede zwischen Paulus/Lukas einerseits und Markus/Matthäus andererseits: Bei Markus und Matthäus ist „Blut" Subjekt: „Das ist Mein Blut", während Paulus und Lukas sagen: Dies ist „der Neue Bund in Meinem Blut". Viele sehen darin eine Rücksicht auf den jüdischen Abscheu vor Blutgenuss: Als direkter Inhalt des zu Trinkenden wird nicht „das Blut", sondern „der Neue Bund" angegeben. Damit sind wir schon beim zweiten Unterschied: Während Markus und Matthäus einfach von „Bundesblut" sprechen und damit auf Ex 24,8, den Bundesschluss am Sinai, anspielen, sprechen Paulus und Lukas vom Neuen Bund und beziehen sich damit auf Jer 31,31- ein je unterschiedlicher alttestamentlicher Hintergrund erscheint. Des Weiteren sprechen Markus und Matthäus vom Vergießen des Blutes „für viele" und deuten damit auf Jes 53,12 hin während Paulus und Lukas "für euch" sagen und damit unmittelbar an die Jüngergemeinschaft denken lassen.
Begreiflicherweise gibt es in der Exegese eine umfängliche Diskussion darüber, was nun die ursprünglichen Worte Jesu seien. Rudolf Pech hat gezeigt, dass sich dabei zunächst 46 Möglichkeiten ergeben, die sich durch Vertauschung der Einleitung noch verdoppeln ließen (vgl. Das Evangelium in Jerusalem, S. 134 ff). Diese Bemühungen haben ihre Bedeutung, können aber nicht zu den Aufgaben dieses Buches gehören.
02.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl
3. Die Theologie der Einsetzungsworte (Teil I)
Nach all diesen Überlegungen über den geschichtlichen Rahmen und die historische Verlässlichkeit der Einsetzungsworte Jesu wird es nun Zeit, sich deren inhaltlichen Aussagen zuzuwenden. Zunächst ist noch einmal daran zu erinnern, dass uns in den vier Eucharistieberichten zwei Überlieferungstypen mit charakteristischen Unterschieden begegnen, die wir hier nicht im Einzelnen zu untersuchen brauchen. Die wichtigsten Unterschiede sollen aber dennoch kurz benannt werden.
Während nach Markus (14,22) und Matthäus (26,26) das Brotwort nur lautet: „Das ist Mein Leib", heißt es bei Paulus: „Das ist Mein Leib für euch (1 Kor 11,24), während Lukas sinngemäß ergänzt hat: “Das ist Mein Leib, der für euch hingegeben wird (22,19). Bei Lukas und Paulus folgt darauf sofort der Wiederholungsbefehl: „Tut dies zu Meinem Gedächtnis", der bei Matthäus und Markus fehlt. Das Kelchwort lautet nach Markus: „Das ist Mein Blut, das Blut des Bundes, das ausgegossen wird für viele" (14,24); Matthäus fügt noch hinzu: „… für viele zur Vergebung der Sünden" (26,28). Nach Paulus hat Jesus demgegenüber gesagt: „ Dieser Becher ist der Neue Bund in Meinem Blut. Tut dies, sooft ihr ihn trinkt, zu Meinem Gedächtnis" (1 Kor 11 25). Lukas formuliert ähnlich, aber mit kleinen Unterschieden: „Dieser Becher ist der Neue Bund in Meinem Blut, das für euch vergossen wird" (22,20). Es fehlt der zweite Wiederholungsbefehl.
01.06.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil IX)
2. Die Stiftung der Eucharistie (IX)
Einen Widerspruch zwischen Jesu Freudenbotschaft und Seiner Annahme des Kreuzes als Tod für viele gibt es nicht, im Gegenteil: Erst in dieser Annahme und Umwandlung des Todes erreicht die Gnadenbotschaft ihre ganze Tiefe. Im übrigen ist die Vorstellung von der Entstehung der Eucharistie in der „Gemeinde“ auch historisch völlig absurd. Wer hätte sich leisten können, einen solchen Gedanken, eine solche Wirklichkeit zu schaffen? Wie hätte es möglich sein sollen, dass die frühen Christen – eindeutig schon in den 30er Jahren – widerspruchslos eine solche Erfindung angenommen hätten?
Mit Recht sagt Pesch dazu, „dass bislang überhaupt keine überzeugende Sekundärerklärung der
Abendmahlsüberlieferung vorgelegt werden konnte“ (Abendmahl S. 21). Es gibt sie nicht. Nur aus dem Eigenen des Bewusstseins Jesu konnte sie kommen. Nur Er konnte so souverän die Fäden von Gesetz und Propheten zur Einheit verweben – ganz in der Treue zur Schrift und ganz in der Neuheit Seines Sohnseins.
Nur weil Er Selbst es gesagt und getan hatte, konnte die Kirche in ihren verschiedenen Strömungen von Anfang an „das Brot brechen“, so wie Jesus es in der Nacht des Verrats getan hatte.
31.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil IX)
3. Die Stiftung der Eucharistie (VIII)
Die von Anfang an geltende Bestimmtheit der Botschaft Jesu durch das Kreuz erscheint auch noch in anderer Weise in den synoptischen Evangelien. Ich beschränke mich auf zwei Hinweise. Am Anfang der Wege Jesu steht bei Matthäus die Bergpredigt mit der feierlichen Eröffnung in den Seligpreisungen. Sie sind als Ganzes von der Perspektive des Kreuzes geprägt, die dann in der letzten Seligpreisung mit voller Schärfe hervortritt: „Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn ihr um Meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet.
Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn so hatten sie schon vorher auch die Propheten verfolgt“ (Mt 5,10ff). Schließlich ist noch daran zu erinnern, dass Lukas an den Anfang seiner Darstellung von Jesu Weg seine Verwerfung in Nazareth stellt (vgl. 4,16 – 29). Jesus verkündet, dass die Verheißung des Jesaja von einem Gnadenjahr des Herrn erfüllt sei: „Er hat Mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze …“ (4,18). Aber Seine Landsleute geraten alsbald ob Seines Anspruchs in Wut und treiben Ihn zur Stadt hinaus: „Sie brachten Ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten Ihn hinabstürzen“ (4,29). Gerade mit der Gnadenbotschaft, die Jesus ausrichtet, eröffnet sich die Perspektive des Kreuzes. Lukas, der sein Evangelium so sorgfältig komponiert hat, hat ganz bewusst diese Szene als eine Art Überschrift über Jesu ganzes Wirken gestellt.
30.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil IX)
4. Die Stiftung der Eucharistie (VII)
Bei Markus steht schon im 2. Kapitel, im Disput über das Fasten der Jünger, die Vorhersage Jesu: „Es werden Tage kommen, in denen der Bräutigam genommen wird, und dann werden sie fasten, an jenem Tag“ (2,20). Noch sehr viel gewichtiger ist die Definition Seiner Sendung, die sich hinter Seinem Reden in Gleichnissen verbirgt – in den Gleichnissen, die Seine Reich-Gottes-Botschaft für die Menschen darstellen. Jesus identifiziert Seine Sendung mit derjenigen, die dem Jesaja nach der Begegnung mit dem lebendigen Gott im Tempel gegeben worden war: Dem Propheten war gesagt worden, seine Sendung werde zunächst nur zu weiterer Verstockung beitragen, und erst durch sie hindurch könne dann das Heil kommen. Den Jüngern sagt Jesus schon in der ersten Phase Seiner Verkündigung, dass genau dies die Struktur Seines Weges sein werde (Mk 4,10ff; vgl. Jes 6,9f). So werden aber die Gleichnisse alle, die ganze Reich-Gottes-Botschaft, unter das Zeichen des Kreuzes gestellt.
Wir könnten vom Abendmahl und von der Auferstehung her dazu sagen, dass gerade das Kreuz die äußerste Radikalisierung der bedingungslosen Liebe Gottes ist, in der Er gegen alle Verneinung von Seiten der Menschen Sich Selber gibt, das Nein der Menschen auf Sich nimmt und so in sein Ja hineinzieht (vgl. 2 Kor 1,19). Diese kreuzestheologische Interpretation der Gleichnisse und ihrer Reich-Gottes-Botschaft findet sich dann auch in den Parallelworten der beiden anderen Synoptiker (Mt 13,10 – 17; Lk 8,9f).
29.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil IX)
5. Die Stiftung der Eucharistie (VI)
Was also sollen wir zu alledem sagen? Zunächst dies: Eine gewisse Entwicklung in der Botschaft Jesu mit neuen Entscheidungen ist durchaus möglich. Peterson selbst verlegt freilich den Bruch nicht in die Botschaft Jesu, sondern in die Zeit nach Ostern, in der in der Tat die Jünger zunächst noch einmal um das Ja Israels rangen. Erst in dem Maß, in dem sich das Scheitern dieses Versuchs zeigte, sind sie zu den Heiden gegangen. Dieser zweite Vorgang ist für uns in den Texten des Neuen Testaments deutlich fassbar. Dagegen können wir Entwicklungen im Weg Jesu immer nur mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit vermuten, aber nicht deutlich fassen. Ganz sicher gibt es nicht den schneidenden Gegensatz zwischen der Reich-Gottes-Verkündigung und der Jerusalemer Botschaft, wie er uns in den Thesen moderner Exegeten begegnet ist. Die Indizien für eine gewisse Entwicklung im Weg Jesu haben wir vorhin notiert. Aber nun müssen wir sagen (was zum Beispiel John P. Meier deutlich herausgestellt hat), dass die Anlage der synoptischen Evangelien uns keine Chronologie der Verkündigung Jesu ermöglicht. Gewiss, die Akzente auf der Notwendigkeit von Tod und Auferstehung werden im Voranschreiten des Weges Jesu deutlicher. Aber das ganze Material ist nicht chronologisch geordnet, so dass wir klar ein Früher oder Später voneinander abheben könnten.
Ein paar Hinweise mögen genügen.
28.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil IX)
6. Die Stiftung der Eucharistie (V)
Die Frage ist vielmehr: Was ist das – Sühne? Ist das mit einem reinen Gottesbild vereinbar? Ist das nicht eine notwendig zu überwindende Stufe der religiösen Entwicklung der Menschheit? Muss Jesus, wenn Er der neue Bote Gottes sein soll, nicht gegen diese Vorstellung stehen? So wird der eigentliche Disput darum gehen müssen, ob die neutestamentlichen Texte – recht gelesen – uns einen Gedanken von Sühne eröffnen, der auch von uns nachvollziehbar ist, wenn wir bereit sind, der Botschaft ganz zuzuhören, die da auf uns zukommt. Wir werden diese Frage endgültig im Kapitel über den Kreuzestod Jesu bedenken müssen. Dazu gehört freilich die Bereitschaft, dem Neuen Testament nicht „sachkritisch“ einfach unser Besserwissen entgegenzuhalten, sondern zu lernen und uns führen zu lassen: die Texte nicht nach unserer Vorstellung umzumontieren, sondern unsere Vorstellungen von Seinem Wort reinigen und vertiefen zu lassen.
Einstweilen versuchen wir, in solchem Zuhören uns an das Verstehen heranzutasten. Da ist dann zunächst die Frage: Gibt es diesen Widerspruch zwischen der galiläischen Reich-Gottes-Botschaft und der in Jerusalem angesiedelten letzten Verkündigung Jesu wirklich?
Bedeutende Exegeten – Rudolf Pesch, Gerhard Lohfink, Ulrich Wilckens – sehen zwar einen tiefgehenden Unterschied, aber keinen unlösbaren Gegensatz zwischen beiden. Sie gehen davon aus, dass Jesus zunächst das große Angebot der Botschaft vom Gottesreich und der ohne Bedingung geschenkten Vergebung gemacht habe, dass Er aber das Scheitern dieses Angebots habe zur Kenntnis nehmen müssen und nun Seine Sendung mit der des Gottesknechtes identifiziert habe. Er habe eingesehen, dass nach der Ablehnung Seines Angebots nur der Weg der stellvertretenden Sühne übrigblieb: dass Er das auf Israel zukommende Unheil auf Sich nehmen musste, um so vielen das Heil zuzuwenden.
27.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil IX)
7. Die Stiftung der Eucharistie (IV)
Jesu Verkündigung ist durch die eindeutig vorrangige Orientierung an der Heilszusage Gottes charakterisiert, durch die Überbietung des nahen Richtergottes durch den gegenwärtigen Gott der Güte.“ In diesen Worten fasst Pesch den wesentlichen Inhalt der Argumentation zusammen, die die Unvereinbarkeit der Abendmahls-Überlieferung mit der Neuheit und der Eigenheit der Verkündigung Jesu behauptet (Abendmahl, S. 104). Peter Fiedler führt die Logik dieser Sicht drastisch aus, wenn er schreibt: „Jesus hatte den bedingungslos vergebungswilligen Vater verkündet“, und dann fragt: „War Dieser nun doch in Seiner Gnade nicht so großzügig oder gar souverän, dass Er auf einer Sühne bestand?“ (a. a. O., S. 569; vgl. Pesch, Abendmahl, S. 16 u. 106). Er erklärt dann den Sühnegedanken für mit Jesu Gottesbild unvereinbar, und darin pflichten ihm viele Exegeten und Systematiker inzwischen bei. In der Tat liegt hier der eigentliche Grund, warum sich ein Gutteil der modernen Theologen (nicht nur der Exegeten) gegen die jesuanische Herkunft der Abendmahlsworte stellt. Der Grund dafür liegt nicht im historischen Befund: Wie wir gesehen haben, sind die eucharistischen Texte ältestes Überlieferungsgut. Vom historischen Befund her kann gar nichts ursprünglicher sein als eben die Abendmahls-Überlieferung. Aber der Sühnegedanke ist dem modernen Empfinden nicht nachvollziehbar. Jesus muss mit Seiner Reich-Gottes-Verkündigung der Gegenpol dazu sein. Es geht um unser Gottes- und Menschenbild. Insofern ist die ganze Diskussion nur schein-historisch.
26.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil IX)
8. Die Stiftung der Eucharistie (III)
Bei einem so gewaltigen, religionsgeschichtlich und theologisch einzigartigen Vorgang, wie ihn die Abendmahlsberichte mitteilen, konnte die Infragestellung durch die moderne Theologie nicht ausbleiben: Mit dem Bild des freundlichen Rabbi, das viele Exegeten von Jesus zeichnen, lässt sich so Unerhörtes nicht vereinbaren. Es ist Ihm „nicht zuzutrauen“. Und natürlich passt es auch nicht zusammen mit dem Bild Jesu als eines politischen Aufrührers. So bestreitet ein nicht geringer Teil gegenwärtiger Exegese, dass die Einsetzungsworte wirklich auf Jesus zurückgehen. Weil es da um den Kern des Christentums überhaupt und um den zentralen Aspekt der Gestalt Jesu geht, müssen wir ein wenig näher hinsehen. Der Haupteinwand gegen die historische Ursprünglichkeit der Abendmahlsworte und -gesten lässt sich so zusammenfassen: Es gebe einen unlösbaren Widerspruch zwischen der Reich-Gottes-Botschaft Jesu und der Vorstellung von Seinem stellvertretenden Sühnetod. Die innere Mitte der Abendmahlsworte aber ist das „für euch – für viele“, die stellvertretende Hingabe Jesu und damit auch der Gedanke der Sühne. Hatte Johannes der Täufer angesichts des drohenden Gerichts zur Umkehr aufgerufen, so habe Jesus als Freudenbote die Nähe der Gottesherrschaft und den unbedingten Vergebungswillen, das Regiment von Gottes Güte und Barmherzigkeit verkündet. „Das letzte Wort, das Gott durch Seinen letzten Boten (den Freudenboten nach dem letzten Gerichtsboten Johannes) spricht, ist ein Wort des Heils.
25.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil IX)
2. Die Stiftung der Eucharistie (II)
Pesch sieht den historischen Vorrang des Markus-Berichts darin begründet, dass dieser noch einfache Erzählung sei, während er 1 Kor 11 als „Kult-Ätiologie“ und damit als schon liturgisch – und für die Liturgie – geformten Text ansieht (vgl. Markusevangelium II, S. 364 – 377, bes. 369). Daran ist sicher etwas Richtiges. Dennoch scheint mir kein letzter Unterschied zwischen der historischen und theologischen Qualität beider Texte zu bestehen. Es trifft zu, dass Paulus normativ im Blick auf die Feier der christlichen Liturgie sprechen will; wenn das mit „Kult-Ätiologie“ gemeint ist, kann ich zustimmen. Aber normativ für die christliche Liturgie ist der Überzeugung des Apostels nach der Text eben deshalb, weil er das Testament des Herrn genau wiedergibt. Insofern stellen Ausrichtung auf den Kult und schon bestehendes Geformtsein für den Kult keinen Widerspruch dar zur strengen Überlieferung dessen, was der Herr gesagt und gewollt hat. Im Gegenteil: Normativ ist es eben, weil es wahr und ursprünglich ist. Dabei schließt diese Genauigkeit des Überlieferns Konzentration und Auswahl nicht aus. Aber Auswahl und Formung durften – das ist Pauli Überzeugung – nicht verfälschen, was den Jüngern in jener Nacht vom Herrn übergeben worden war. Solche auf Liturgie bezogene Auswahl und Formung gibt es aber auch im Markus-Evangelium. Denn auch diese „Erzählung“ kann nicht von ihrer maßgebenden Bedeutung für die Liturgie der Kirche absehen und setzt ihrerseits bereits wirksame liturgische Tradition voraus. Beide Überlieferungstypen wollen uns wirklich das Testament des Herrn übermitteln. Zusammen lassen sie den Reichtum der theologischen Perspektiven des Geschehenen erkennen und zeigen uns zugleich gemeinsam das unerhört Neue, das Jesus in jener Nacht gesetzt hat.
24.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil XIII)
2. Die Stiftung der Eucharistie (I)
Der sogenannte Einsetzungsbericht, das heißt die Worte und die Gesten, mit denen Jesus in Brot und Wein Sich Selbst den Jüngern gab, bildet den Kern der Abendmahls-Überlieferung. Außer bei den drei synoptischen Evangelisten – Matthäus, Markus, Lukas – findet sich der Einsetzungsbericht auch im Ersten Korinther-Brief des heiligen Paulus (11,23 – 26). Die vier Berichte sind einander im Kern sehr ähnlich, aber doch mit Unterschieden im Detail, die begreiflicherweise Gegenstand ausgiebiger exegetischer Diskussionen geworden sind. Man kann zwei Grundtypen unterscheiden: Auf der einen Seite steht der Bericht des Markus, mit dem der Matthäus-Text weitgehend übereinstimmt; auf der anderen Seite steht der Text des Paulus, dem Lukas verwandt ist. Der paulinische Bericht ist der literarisch älteste Text: Der Erste Korinther-Brief wurde etwa im Jahr 56 geschrieben. Die Abfassungszeit des Markus-Evangeliums liegt später, aber es ist unbestritten, dass sein Text sehr alte Überlieferung wiedergibt. Der Streit der Exegeten geht nun darum, welcher der beiden Typen – Markus oder Paulus – der ältere ist. Rudolf Pesch hat sich mit beeindruckenden Argumenten für das höhere Alter der Markus-Überlieferung eingesetzt, die in die 30er Jahre zu datieren sei. Aber auch der Paulus-Bericht geht in dasselbe Jahrzehnt zurück. Paulus sagt, er überliefere hier, was er selbst als Überlieferung vom Herrn her empfangen habe.
Der Einsetzungsbericht und die Auferstehungs-Überlieferung (1 Kor 15,3 – 8) nehmen eine Sonderstellung in den paulinischen Briefen ein: Sie sind festgefügte Texte, die der Apostel als solche schon „empfangen“ hat und sorgsam wörtlich weitergibt. Beide Male sagt er, er überliefere, was er empfangen habe.
In 1 Kor 15 besteht er ausdrücklich auf dem Wortlaut, den zu wahren für das Heil nötig sei. Daraus folgt, dass Paulus die Abendmahlsworte in der Urgemeinde in einer Weise empfangen hat, die ihn gewiss machte, dass sie vom Herrn selbst herkommen.
23.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil XII)
1. Das Datum des letzten Abendmahls (IX)
Eines ist in der gesamten Überlieferung deutlich: Das Wesentliche dieses Abschiedsmahles war nicht das alte Pascha, sondern das Neue, das Jesus in diesem Zusammenhang vollzog. Auch wenn das Zusammensein Jesu mit den Zwölfen kein Pascha-Mahl nach den rituellen Vorschriften des Judentums gewesen war, so wurde in der Rückschau der innere Zusammenhang des Ganzen mit Tod und Auferstehung Jesu sichtbar: Es war Jesu Pascha. Und in diesem Sinn hat Er Pascha gefeiert und nicht gefeiert: Die alten Riten konnten nicht begangen werden; als ihre Stunde kam, war Jesus schon gestorben. Aber Er hatte Sich Selbst gegeben und so wirklich gerade Pascha mit ihnen gefeiert. Das Alte war so nicht abgetan, sondern erst zu seinem vollen Sinn gebracht. Das früheste Zeugnis für dieses Zusammenschauen des Neuen und des Alten, das die neue paschatische Auslegung von Jesu Mahl im Zusammenhang von Tod und Auferstehung vollzieht, findet sich bei Paulus in 1 Kor 5,7: „Schafft den alten Sauerteig weg, damit ihr neuer Teig seid. Ihr seid ja schon ungesäuertes Brot; denn unser Pascha ist geopfert, Christus“ (vgl. Meier, A Marginal Jew I, S. 429f). Wie in Mk 14,1 folgen hier einander der erste Tag der Ungesäuerten Brote und das Pascha, aber der rituelle Sinn von damals ist in eine christologische und existentielle Bedeutung umgewandelt. Ungesäuertes Brot müssen nun die Christen selber sein, vom Sauerteig der Sünde befreit. Das geopferte Lamm aber ist Christus. Darin stimmt Paulus genau mit der johanneischen Darstellung der Ereignisse überein. So sind für ihn Tod und Auferstehung Christi das bleibende Pascha-Fest geworden. Von da aus kann man verstehen, dass sehr früh Jesu Letztes Mahl, das ja nicht nur eine Vorhersage, sondern in den eucharistischen Gaben eine Antizipation von Kreuz und Auferstehung einschließt, als Pascha angesehen wurde – als Sein Pascha. Und das war es auch.
22.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil XI)
2. Das Datum des letzten Abendmahls (VIII)
Aber was war Jesu Letztes Mahl dann eigentlich? Und wie kam es zu der gewiss sehr frühen Auffassung von seinem Pascha-Charakter? Die Antwort von Meier ist verblüffend einfach und in vieler Hinsicht überzeugend: Jesus wusste um Seinen bevorstehenden Tod. Er wusste, dass Er das Pascha nicht mehr werde essen können. In diesem vollen Wissen lud Er die Seinen zu einem Letzten Mahl ganz besonderer Art ein, das keinem bestimmten jüdischen Ritus zugehörte, sondern Sein Abschied war, in dem Er Neues gab, Sich Selbst als das wahre Lamm schenkte und damit Sein Pascha stiftete. In allen synoptischen Evangelien gehört zu diesem Mahl die Todesprophetie Jesu und die Prophezeiung Seiner Auferstehung. Bei Lukas hat sie eine besonders feierliche und geheimnisvolle Form: „Mit Sehnsucht habe Ich danach verlangt, dieses Pascha mit euch zu essen, bevor Ich leide. Ich sage euch, Ich werde es nicht essen, ehe denn es sich erfüllt im Reiche Gottes“ (22,15f). Das Wort bleibt doppeldeutig: Es kann besagen, dass Jesus ein letztes Mal das gewohnte Pascha mit den Seinen isst. Es kann aber auch bedeuten, dass Er es nicht mehr isst, sondern auf das neue Pascha zugeht.
21.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil X)
3. Das Datum des letzten Abendmahls (VII)
Es bleibt die Frage: Aber warum haben die Synoptiker dann von einem Pascha-Mahl gesprochen? Worauf gründet dieser Strang der Überlieferung? Eine wirklich überzeugende Antwort auf diese Frage kann auch Meier nicht geben. Er versucht es – wie viele andere Exegeten – mit der Redaktions- und Literarkritik. Er will zeigen, dass Mk 14,1a und 14,12 – 16 – die einzigen Stellen, in denen bei Markus vom Pascha gesprochen wird – nachträglich eingefügt worden seien. In dem eigentlichen Bericht vom Letzten Abendmahl selbst sei vom Pascha nicht die Rede. Diese Operation, wie viele große Namen auch für sie stehen mögen, ist künstlich. Richtig bleibt aber der Hinweis von Meier, dass in der Schilderung des Mahles selbst bei den Synoptikern das Pascha-Ritual so wenig erscheint wie bei Johannes. So wird man mit gewissen Einschränkungen dem Satz zustimmen können: „Die gesamte johanneische Tradition … stimmt vollständig mit der ursprünglichen synoptischen Tradition über den nicht dem Pascha zugehörigen Charakter des Mahles überein“ (A Marginal Jew I, S. 398).
20.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil IX)
4. Das Datum des letzten Abendmahls (VI)
Gewiss, man wird der französischen Gelehrten zustimmen können, dass der Jubiläen-Kalender nicht strikt auf Qumran und die Essener beschränkt war. Aber dies reicht nicht aus, um ihn für Jesu Pascha reklamieren zu können. So ist es zu verstehen, dass die auf den ersten Blick faszinierende These von Annie Jaubert von der Mehrheit der Exegeten abgelehnt wird. Ich habe sie so ausführlich dargestellt, weil sie etwas von der Vielschichtigkeit der jüdischen Welt zur Zeit Jesu ahnen lässt, die wir trotz aller Erweiterungen unserer Quellenkenntnisse nur ungenügend rekonstruieren können. So würde ich dieser These nicht jede Wahrscheinlichkeit absprechen, aber sie schlicht zu übernehmen, ist angesichts ihrer Probleme nicht möglich. Was sollen wir also sagen? Die sorgsamste Erwägung aller bisher versuchten Lösungen habe ich in dem Jesus-Buch von John P. Meier gefunden, der am Ende seines ersten Bandes eine umfassende Studie über die Chronologie des Lebens Jesu vorgelegt hat. Er kommt zu dem Ergebnis, dass man zwischen der synoptischen und der johanneischen Chronologie zu wählen habe, und zeigt aufgrund des gesamten Quellenbefundes, dass der Entscheid zugunsten von Johannes ausfallen muss. Johannes hat recht damit, dass die jüdischen Autoritäten zur Zeit des Prozesses Jesu vor Pilatus das Pascha noch nicht gegessen hatten und sich dafür noch kultisch rein halten mussten. Er hat recht damit, dass die Kreuzigung nicht am Fest stattgefunden hat, sondern am Vortag des Festes. Das bedeutet, dass Jesus gestorben ist zu der Stunde, zu der im Tempel die Pascha-Lämmer geschlachtet wurden. Dass die Christen darin später mehr als einen Zufall erblickten, dass sie Jesus als das wahre Lamm erkannten, dass sie den Ritus der Lämmer gerade so zu seinem wirklichen Sinn geführt fanden – das ist dann nur normal.
19.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil VIII)
5. Das Datum des letzten Abendmahls (V)
Der zweite von Annie Jaubert betonte Vorteil zeigt zugleich die Schwäche dieses Lösungsversuches. Die französische Gelehrte macht darauf aufmerksam, dass die überlieferten Chronologien (Synoptiker und Johannes) eine Reihe von Ereignissen in wenigen Stunden zusammendrängen müssen: Verhör vor dem Hohen Rat, Überstellung an Pilatus, Traum der Frau des Pilatus, Übergabe an Herodes, Rückkehr zu Pilatus, Geißelung, Verurteilung zum Tod, Kreuzweg und Kreuzigung. Das alles in wenigen Stunden unterzubringen, scheint – so Jaubert – kaum möglich. Ihre Lösung bietet demgegenüber einen zeitlichen Rahmen von der Nacht auf Mittwoch bis zum Morgen des Karfreitag. Dabei zeigt sie, dass bei Markus für die Tage „Palmsonntag“, Montag und Dienstag eine genaue Ereignisfolge vorliegt, dass er aber von da direkt zum Pascha-Mahl springt. So blieben nach der überlieferten Datierung zwei Tage, über die nichts berichtet wird. Endlich erinnert Jaubert daran, dass auf diese Weise der Plan der jüdischen Autoritäten hätte funktionieren können, Jesus noch rechtzeitig vor dem Fest zu töten. Pilatus habe dann durch seine Zögerlichkeit die Kreuzigung bis zum Freitag hinausgeschoben. Gegen die Umdatierung des Letzten Abendmahls von Donnerstag auf Dienstag steht freilich die alte Überlieferung vom Donnerstag, die uns jedenfalls schon im 2. Jahrhundert klar begegnet. Dem hält aber Frau Jaubert den zweiten Text entgegen, auf den sich ihre These stützt: Es handelt sich um die sogenannte Didaskalie der Apostel, eine vom Anfang des 3. Jahrhunderts stammende Schrift, die das Mahl Jesu auf Dienstag datiert. Die Forscherin versucht zu zeigen, dass das Buch eine alte Tradition enthalten habe, deren Spuren sich auch in anderen Texten fänden. Dazu wird man freilich sagen müssen, dass die so aufgezeigten Traditionsspuren zu schwach sind, um überzeugen zu können. Die andere Schwierigkeit besteht darin, dass die Verwendung eines hauptsächlich in Qumran verbreiteten Kalenders für Jesus wenig wahrscheinlich ist. Jesus ist zu den großen Festen zum Tempel gegangen. Auch wenn Er dessen Ende vorhergesagt und in einer dramatischen Zeichenhandlung bekräftigt hat, ist Er dem jüdischen Festkalender gefolgt, wie besonders das Johannes-Evangelium zeigt.
18.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil VII)
1. Das Datum des letzten Abendmahls (IV)
Immer schon sind daher Versuche unternommen worden, die zwei Chronologien miteinander zu versöhnen. Der wichtigste und in vielem beeindruckende Versuch, zu einer Vereinbarkeit beider Überlieferungen zu kommen, stammt von der französischen Forscherin Annie Jaubert, die ihre These seit 1953 in einer Reihe von Veröffentlichungen entwickelt hat. In die Details dieses Vorschlags brauchen wir hier nicht einzugehen; beschränken wir uns auf das Wesentliche. Frau Jaubert stützt sich vor allem auf zwei frühe Texte, die zu einer Lösung des Problems zu führen scheinen. Da ist zunächst der Hinweis auf einen alten priesterlichen Kalender, der in dem in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. auf Hebräisch verfassten Buch der Jubiläen überliefert ist. Dieser Kalender lässt den Umlauf des Mondes außer Acht und sieht ein Jahr mit 364 Tagen vor, das in vier Jahreszeiten zu je drei Monaten geteilt ist, von denen je zwei 30 Tage haben und einer 31 Tage hat. Mit stets 91 Tagen umfasst jedes Vierteljahr exakt 13 Wochen, jedes Jahr also exakt 52 Wochen. Demzufolge fallen die liturgischen Feste jedes Jahres immer auf den gleichen Wochentag. Für Pascha bedeutet dies, dass der 15. Nisan immer ein Mittwoch ist und das Pascha-Mahl nach Sonnenuntergang am Dienstagabend gehalten wird. Jesus habe – so Jaubert – Pascha nach diesem Kalender, also am Dienstagabend, gefeiert und sei in der Nacht zum Mittwoch verhaftet worden. Die Forscherin sieht damit zwei Probleme gelöst: Zum einen hat Jesus ein wirkliches Pascha-Mahl gefeiert, wie es die Synoptiker überliefern; zum anderen hat Johannes darin recht, dass die jüdischen Autoritäten, die sich an ihren Kalender hielten, erst nach dem Prozess Jesu Pascha feierten und Jesus also am Vorabend des eigentlichen Pascha und nicht am Fest selbst hingerichtet wurde. Synoptische und johanneische Überlieferung erscheinen so gleichermaßen im Recht aufgrund der Differenz zweier verschiedener Kalender.
17.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil VI)
2. Das Datum des letzten Abendmahls (III)
Im Übrigen bleibt die Abfolge der Ereignisse gleich. Donnerstagabend: Letztes Mahl Jesu mit den Jüngern, das aber kein Pascha ist; Freitag – Vortag des Festes, nicht Fest –: Prozess und Hinrichtung; Samstag: Grabesruhe; Sonntag: Auferstehung. Bei dieser Chronologie stirbt Jesus zu der Zeit, zu der im Tempel die Pascha-Lämmer geschlachtet werden. Er stirbt als das wirkliche, in den Lämmern nur vorgeahnte Lamm. Dieser theologisch bedeutsame Zusammenhang, dass Jesus zeitgleich mit der Schlachtung der Pascha-Lämmer stirbt, hat viele Gelehrte dazu bewegt, die johanneische Darstellung als eine theologische Chronologie abzutun. Johannes habe die Chronologie geändert, um diesen theologischen Zusammenhang herzustellen, der freilich im Evangelium nicht ausgesprochen wird. Heute aber sieht man immer deutlicher, dass die johanneische Chronologie historisch wahrscheinlicher ist als die synoptische. Denn wie gesagt: Prozess und Hinrichtung am Fest scheinen kaum denkbar. Andererseits scheint Jesu Letztes Mahl so eng mit der Pascha-Tradition verknüpft, dass die Leugnung seines Pascha-Charakters
problematisch ist.
16.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil V)
3. Das Datum des letzten Abendmahls (II)
Diese Chronologie ist mit dem Problem belastet, dass Prozess und Kreuzigung Jesu am Pascha-Fest stattgefunden hätten, das in jenem Jahr auf einen Freitag fiel. Zwar haben viele Gelehrte zu zeigen versucht, dass Prozess und Kreuzigung mit den Vorschriften des Pascha-Festes vereinbar gewesen seien. Aber trotz aller Gelehrsamkeit erscheint es fragwürdig, dass an diesem für die Juden hohen Fest der Prozess vor Pilatus und die Kreuzigung statthaft und möglich gewesen seien. Überdies steht dem auch eine Notiz bei Markus im Weg. Er sagt uns, dass zwei Tage vor dem Fest der Ungesäuerten Brote die Hohepriester und die Schriftgelehrten nach einer Möglichkeit suchten, Jesus mit List in ihre Gewalt zu bringen und zu töten, dabei aber erklärten: „Ja nicht am Fest, damit es im Volk keinen Aufruhr gibt“ (14,1f). Nach der synoptischen Chronologie wäre aber in der Tat gerade am Fest selbst die Hinrichtung Jesu erfolgt.
Wenden wir uns nun der johanneischen Chronologie zu. Johannes achtet sorgfältig darauf, das Letzte Mahl Jesu nicht als Pascha darzustellen. Im Gegenteil: Die jüdischen Autoritäten, die Jesus vor das Gericht des Pilatus stellen, vermeiden es, das Prätorium zu betreten, „um nicht unrein zu werden, sondern das Pascha-Lamm essen zu können“ (18,28). Pascha beginnt also erst am Abend, das Pascha-Mahl steht beim Prozess noch bevor; Prozess und Kreuzigung finden am Vortag des Pascha, am „Rüsttag“, statt, nicht am Fest selbst. Das Pascha-Fest erstreckt sich demnach in dem fraglichen Jahr von Freitagabend bis Samstagabend, nicht von Donnerstagabend bis Freitagabend.
15.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil IV)
1. Das Datum des letzten Abendmahls (I)
Das Problem der Datierung von Jesu Letztem Mahl beruht auf dem Widerspruch in dieser Frage zwischen den synoptischen Evangelien einerseits und dem Johannes-Evangelium andererseits. Markus, dem Matthäus und Lukas im Wesentlichen folgen, gibt dazu eine präzise Datierung: „Am ersten Tag des Festes der Ungesäuerten Brote, an dem man das Pascha-Lamm schlachtete, sagten die Jünger zu Jesus: Wo sollen wir das Pascha-Mahl für Dich vorbereiten? … Als es Abend wurde, kam Jesus mit den Zwölf“ (Mk 14,12.17). Der Abend des ersten Tags der Ungesäuerten Brote, an dem im Tempel die Pascha-Lämmer geschlachtet werden, ist die Vigil des Pascha-Festes. Nach der Chronologie der Synoptiker ist dies ein Donnerstag. Nach Sonnenuntergang begann das Pascha-Fest, und zu dieser Zeit wurde das Pascha-Mahl eingenommen – von Jesus mit Seinen Jüngern ebenso wie von allen nach Jerusalem gekommenen Pilgern. In der Nacht zum Freitag wurde dann – immer gemäß der synoptischen Chronologie – Jesus verhaftet und vor Gericht gestellt, am Morgen des Freitag durch Pilatus zum Tod verurteilt und anschließend „um die dritte Stunde“ (ca. 9 Uhr) ans Kreuz gebracht. Der Tod Jesu ist auf die neunte Stunde (ca. 15 Uhr) datiert. „Da es Rüsttag war, der Tag vor dem Sabbat, und es schon Abend wurde, ging Josef von Arimathäa … zu Pilatus und wagte es, um den Leichnam Jesu zu bitten“ (Mk 15,42f). Das Begräbnis musste noch vor Sonnenuntergang erfolgen, weil dann der Sabbat begann. Der Sabbat ist der Tag der Grabesruhe Jesu. Die Auferstehung ereignet sich am Morgen des „ersten Tages der Woche“, am Sonntag.
14.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil III)
Von diesen methodischen Grundsätzen her möchte ich versuchen, aus dem Ganzen des Disputs die für den Glauben wesentlichen Fragen auszuwählen.
Dies soll in vier Abschnitten geschehen. An erster Stelle ist die Frage nach dem Datum von Jesu Abendmahlsfeier zu bedenken, bei der es wesentlich darum geht, ob es sich um ein Pascha-Mahl gehandelt hat oder nicht. An zweiter Stelle sind die Texte zu bedenken, in denen uns vom Letzten Mahl Jesu berichtet wird. Dabei wird dann die Frage nach der historischen Glaubwürdigkeit dieser Berichte zu behandeln sein. An dritter Stelle möchte ich eine Auslegung der wesentlichen theologischen Inhalte der Abendmahls-Überlieferung versuchen. Schließlich müssen wir im vierten Abschnitt den Blick über die neutestamentliche Überlieferung hinaus werfen und die Entstehung der Eucharistie der Kirche bedenken – den Vorgang, den Augustinus als Übergang vom Abendmahl zum „Morgenopfer“ beschrieben hat (vgl. En. in Ps. 140,5). Was die Schreibung Passah, Pascha usw. angeht, so hat seinerzeit Joachim Jeremias mit der bei ihm gewohnten Gelehrsamkeit gezeigt, dass es Passah heißen müsse. Aufgrund neuerer Forschungen schreibt zum Beispiel Ulrich Wilckens Päsach. Da dieses Buch ein Dialog mit dem Neuen Testament ist, habe ich mich entschlossen, zur Schreibung des Neuen Testaments zurückzukehren und Pascha zu sagen.
13.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil II)
Ich nehme ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte der exegetischen Forschung. Der große deutsche Exeget Joachim Jeremias hat in der zunehmenden Verwirrung der exegetischen Hypothesen mit äußerster historischer und philologischer Gelehrsamkeit und mit der größten methodischen Sorgfalt die „ipsissima verba Iesu“ – Jesu ureigene Worte – aus der Menge des überlieferten Stoffes herauszuschälen versucht, um darin den sicheren Fels des Glaubens zu finden: Was Jesus wirklich selbst gesagt hat, darauf können wir bauen. Obwohl die Ergebnisse von Jeremias nach wie vor bedeutend und – wissenschaftlich gesehen – von hohem Gewicht sind, gibt es begründete kritische Anfragen, die zumindest zeigen, dass die erreichte Gewissheit ihre Grenzen hat.
Was können wir also erwarten? Was nicht? Vom Theologischen her ist zu sagen: Wenn die Geschichtlichkeit der wesentlichen Worte und Ereignisse wirklich wissenschaftlich als unmöglich erwiesen werden könnte, hätte der Glaube seinen Boden verloren. Umgekehrt darf man absolute Gewissheitsbeweise über jede Einzelheit, wie gesagt, vom Wesen historischer Erkenntnis her nicht erwarten. Wichtig ist daher für uns, ob die Grundüberzeugungen des Glaubens auch bei vollem Ernst heutiger exegetischer Erkenntnisse historisch möglich und glaubwürdig sind.
Viele Details mögen offen bleiben. Aber das „factum est“ des Johannes-Prologs (1,14) gilt als christliche Grundkategorie nicht nur für die Menschwerdung als solche, sondern muss auch für Abendmahl, Kreuz und Auferstehung in Anspruch genommen werden: Die Fleischwerdung Jesu ist auf Seine Hingabe für die Menschen und diese auf die Auferstehung hingeordnet, sonst ist das Christentum nicht wahr. Die Wirklichkeit dieses „factum est“ können wir – wie gesagt – nicht in der Weise absoluter historischer Gewissheit anschauen, aber ihre Ernsthaftigkeit bei rechtem Lesen der Schrift als solche erkennen.
Die letzte Gewissheit, auf die wir unsere ganze Existenz gründen, schenkt uns der Glaube – das demütige Mitglauben mit der vom Heiligen Geist geführten Kirche aller Jahrhunderte. Von da aus können wir im Übrigen getrost auf die exegetischen Hypothesen hinblicken, die ihrerseits allzu oft mit einem Gewissheitspathos auftreten, das schon dadurch widerlegt wird, dass laufend gegensätzliche Positionen mit der gleichen Gebärde wissenschaftlicher Gewissheit vorgetragen werden.
12.05.2021
5. Kapitel: Das letzte Abendmahl (Teil I)
Noch mehr als die eschatologische Rede Jesu, die wir im 2. Kapitel dieses Buches behandelt haben, sind die Berichte über Jesu Letztes Mahl und die Einsetzung der Eucharistie überwuchert von einem Dickicht einander widersprechender Hypothesen, das den Zugang zum wirklichen Geschehen geradezu aussichtslos zu versperren scheint. Bei einem Text, der das eigentliche Zentrum des Christentums betrifft und in der Tat schwierige historische Fragen aufwirft, ist dies nicht verwunderlich. Ich versuche, den gleichen Weg zu gehen wie im Fall der eschatologischen Rede. In die vielen, durchaus berechtigten Detailfragen um jede Einzelheit von Wort und Geschichte einzutreten, ist nicht Aufgabe dieses Buches, das die Gestalt Jesu zu erkennen versucht und die Einzelprobleme den Fachgelehrten überlässt. Freilich – von der Frage der wirklichen Historizität der wesentlichen Ereignisse können wir uns nicht dispensieren. Die neutestamentliche Botschaft ist nicht nur Idee; für sie ist gerade das Geschehensein in der realen Geschichte dieser Welt wesentlich: Der biblische Glaube erzählt nicht Geschichten als Symbole für übergeschichtliche Wahrheiten, sondern er gründet auf Geschichte, die sich auf dem Boden dieser Erde zugetragen hat (vgl. Teil I, S. 14). Wenn Jesus Seinen Jüngern nicht Brot und Wein als Seinen Leib und als Sein Blut gereicht hat, dann ist die Eucharistiefeier der Kirche leer – eine fromme Fiktion und nicht Realität, die Gemeinschaft mit Gott und der Menschen untereinander gründet.
Dabei entsteht freilich noch einmal die Frage nach der möglichen und angemessenen Art historischer Vergewisserung. Wir müssen uns klar darüber Rechenschaft ablegen, dass historische Forschung immer nur zu hoher Wahrscheinlichkeit, aber nie zu einer letzten und absoluten Gewissheit über alle Einzelheiten führen kann. Wenn die Glaubensgewissheit allein auf historisch-wissenschaftlicher Vergewisserung beruhen würde, dann würde sie immer revidierbar bleiben.
11.05.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XXII)
Dieser universale Horizont, der kosmische Charakter der Sendung Jesu erscheint ebenfalls in zwei anderen wichtigen Texten des vierten Evangeliums, zuerst im Nachtgespräch Jesu mit Nikodemus: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen einzigen Sohn hingab“ (3,16) und dann – jetzt mit der Betonung auf dem Opfer des Lebens – in der Brotrede zu Kafarnaum: „Das Brot, das Ich geben werde, ist Mein Fleisch. Ich gebe es hin für das Leben der Welt“ (6,51).
Aber wie steht zu diesem Universalismus das harte Wort, das sich im Vers 9 des Hohepriesterlichen Gebets findet: „Für sie bitte Ich, nicht für die Welt bitte Ich“? Um die innere Einheit der scheinbar gegensätzlichen Bitten zu verstehen, müssen wir bedenken, dass Johannes das Wort Kosmos – Welt – in doppelter Bedeutung verwendet. Zum einen verweist es auf die ganze gute Schöpfung Gottes, besonders auf die Menschen als Seine Geschöpfe, die Er liebt bis zur Weggabe Seiner Selbst im Sohn. Zum anderen spricht das Wort von der Menschenwelt, wie sie geschichtlich geworden ist: In ihr ist Korruption, Lüge, Gewalt sozusagen „das Natürliche“ geworden. Blaise Pascal spricht von einer zweiten Natur, die sich im Lauf der Geschichte über die erste gelegt habe. Moderne Philosophen haben in vielfacher Form diese geschichtliche Situation des Menschen dargestellt, etwa Martin Heidegger, wenn er von der Verfallenheit an „das Man“, vom Existieren in der „Uneigentlichkeit“ spricht. Auf ganz andere Weise erscheint dieselbe Problematik, wenn Karl Marx die Entfremdung des Menschen schildert. Die Philosophie beschreibt damit im Grunde genau das, was der Glaube „Erbsünde“ nennt. Diese Art von „Welt“ muss verschwinden; sie muss umgewandelt werden in die Welt Gottes. Gerade dies ist die Sendung Jesu, in die die Jünger hineingenommen werden: die „Welt“ aus der Entfremdung des Menschen von Gott und von sich selbst herauszuführen, damit sie wieder Welt Gottes werde und damit der Mensch wieder ganz er selbst werde im Einswerden mit Gott. Diese Umwandlung kostet freilich das Kreuz, und sie kostet auch die Martyriumsbereitschaft der Zeugen Christi. Blicken wir zum Schluss auf das Ganze der Bitte um die Einheit zurück, so dürfen wir sagen, dass in ihr sich Stiftung der Kirche vollzieht, auch wenn das Wort Kirche nicht fällt. Denn was ist Kirche anderes als die Gemeinschaft der Jünger, die durch den Glauben an Jesus Christus als den Gesandten des Vaters ihre Einheit empfängt und hineingehalten ist in die Sendung Jesu, die Welt zur Erkenntnis Gottes zu führen und sie so zu retten?
Die Kirche entspringt dem Gebet Jesu. Dieses Gebet aber ist nicht nur Wort, es ist der Akt, in dem Er Sich Selbst „heiligt“, das heißt Sich „opfert“ für das Leben der Welt. Wir können auch umgekehrt sagen: Im Gebet wird das grausame Geschehen des Kreuzes zu „Wort“, zum Versöhnungsfest zwischen Gott und Welt. Daraus entspringt die Kirche als die Gemeinschaft derer, die auf das Wort der Apostel hin .an Christus glauben (17,20).
10.05.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XXI)
Die Einheit dieser drei Aufbauelemente der Kirche – Sakrament der Nachfolge, Schrift, Glaubensregel (Bekenntnis) – ist die wirkliche Bürgnis dafür, dass „das Wort echt erklingen“ kann, dass „die Tradition festgehalten wird“ (vgl. Bultmann). Natürlich ist von diesen drei Pfeilern der Jüngergemeinschaft der Kirche im Johannes-Evangelium so nicht die Rede, aber mit dem Verweis auf den trinitarischen Glauben und auf das Gesandtsein hat es doch die Fundamente dafür gelegt.
Kommen wir noch einmal darauf zurück, dass Jesus betet, durch die Einheit der Jünger möge die Welt Ihn als den Gesandten des Vaters erkennen. Dieses Erkennen und Glauben ist nichts bloß Intellektuelles; es ist das Berührtwerden von der Liebe Gottes und darum verwandelnd, Gabe des wirklichen Lebens. Die Universalität der Sendung Jesu wird sichtbar: Sie betrifft nicht bloß einen beschränkten Kreis von Erwählten; ihr Ziel ist der Kosmos – die Welt in ihrer Ganzheit. Durch die Jünger und deren Sendung soll die Welt als Ganze ihrer Entfremdung entrissen werden, die Einheit mit Gott wiederfinden.
09.05.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XX)
Die Alte Kirche hat für dieses wesentliche Gesandtsein der Jünger Christi, die Bindung an Sein Wort und an die Kraft Seines Geistes, die Form der „apostolischen Nachfolge“ gefunden. Das Weitergehen der Sendung ist „Sakrament“, das heißt nicht selbstverfügtes Können und auch nicht von Menschen gemachte Institution, sondern Hineingebundenwerden in das „Wort vom Anfang her“ (1 Joh 1,1), in die geistgewirkte Gemeinschaft der Zeugen. Das griechische Wort für Nachfolge – diadochē – hat strukturellen und inhaltlichen Sinn zugleich: Es bedeutet das Weitergehen der Sendung in den Zeugen. Es bedeutet aber auch den Inhalt: das überlieferte Wort, an das der Zeuge durch das Sakrament gebunden wird.
Zusammen mit der „apostolischen Nachfolge“ hat die Alte Kirche zwei weitere Grundelemente für ihre Einheit gefunden (nicht erfunden!): den Kanon der Schrift und die sogenannte Glaubensregel. Mit dieser ist eine sprachlich nicht im Einzelnen festgelegte kurze Summe der wesentlichen Glaubensinhalte gemeint, die in den verschiedenen Taufbekenntnissen der frühen Kirche eine liturgisch geformte Gestalt gefunden hat. Diese Glaubensregel bzw. das Glaubensbekenntnis bildet die eigentliche „Hermeneutik“ der Schrift, den aus ihr selbst gewonnenen Schlüssel, um sie ihrem Geist gemäß auszulegen.
08.05.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XIX)
In den Glauben an Jesus Christus als den vom Vater Gesandten ist als zweites Element die Struktur der Sendung eingeschlossen. Wir haben gesehen, dass Heiligkeit, das heißt Zugehörigkeit zum lebendigen Gott, Sendung bedeutet.
So ist Jesus als der Heilige Gottes im ganzen Johannes-Evangelium – und gerade auch im 17. Kapitel – der Gesandte Gottes. Sein ganzes Wesen ist „Gesandtsein“. Was das bedeutet, wird in einem Wort aus dem 7. Kapitel sichtbar: „Meine Lehre ist nicht Meine Lehre“ (v. 16), sagt da der Herr. Er ist ganz vom Vater her und stellt Ihm nichts anderes, nichts bloß Eigenes entgegen. In den Abschiedsreden wird dieses charakteristische Wesen des Sohnes auf den Heiligen Geist ausgedehnt: „Nicht aus sich wird Er sprechen, sondern was Er hört, wird Er sagen“ (16,13). Der Vater sendet den Geist in Jesu Namen (14,26); Jesus sendet Ihn vom Vater her (15,26).
Nach der Auferstehung zieht Jesus die Jünger in diesen Strom der Sendung hinein: „Wie Mich der Vater gesandt hat, so sende Ich euch“ (20,21). Für die Jüngergemeinschaft aller Zeiten muss es kennzeichnend sein, dass sie im Gesandtsein von Jesus her steht. Das heißt für sie immer: „Meine Lehre ist nicht meine Lehre“; die Jünger verkündigen nicht sich selbst, sondern sie sagen, was sie gehört haben. Sie stehen für Christus, so wie Christus für den Vater steht. Sie lassen sich führen vom Heiligen Geist und wissen dabei, dass in dieser völligen Treue zugleich die Dynamik des Reifens wirksam ist: „Der Geist der Wahrheit wird euch in die ganze Wahrheit einführen“ (16,13).
07.05.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XVIII)
Können wir noch mehr erkennen über Wesen und Inhalt der Einheit, um die Jesus betet? Ein erstes wesentliches Element dieser Einheit ist in unseren bisherigen Betrachtungen schon sichtbar geworden: Sie beruht auf dem Glauben an Gott und an Den, Den Er gesandt hat: Jesus Christus. Die Einheit der künftigen Kirche beruht also auf jenem Glauben, den Petrus nach dem Abfall der Jünger namens der Zwölf in der Synagoge von Kafarnaum bekannt hatte: „Wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist“ (Joh 6,69).
Dieses Bekenntnis steht in großer inhaltlicher Nähe zum Hohepriesterlichen Gebet. Jesus begegnet uns hier als derjenige, Den der Vater geheiligt hat, Der Sich für die Jünger heiligt, Der die Jünger selbst in der Wahrheit heiligt. Der Glaube ist mehr als ein Wort, als eine Idee: Er bedeutet das Eintreten in die Gemeinschaft mit Jesus Christus und durch Ihn mit dem Vater. Er ist der eigentliche Grund der Jüngergemeinschaft, die Grundlage für die Einheit der Kirche.
Dieser Glaube ist in seinem Kern „unsichtbar“. Aber weil die Jünger sich an den einen Christus binden, wird der Glaube „Fleisch“ und fügt die Einzelnen zu einem wirklichen „Leib“ zusammen. Die Inkarnation des Logos setzt sich fort bis hin zur vollendeten Gestalt Christi (vgl. Eph 4,13).
06.05.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XVII)
Aber die Kraft Gottes wirkt mitten in die Welt hinein, in der die Jünger leben. Sie muss von der Art sein, dass die Welt sie „erkennt“ und dadurch zum Glauben kommt. Das nicht von der Welt Kommende kann und muss durchaus etwas in der Welt und für die Welt Wirksames und auch für sie Wahrnehmbares sein. Die Zielsetzung der Einheitsbitte Jesu ist gerade, dass durch die Einheit der Jünger für die Menschen die Wahrheit Seiner Sendung sichtbar wird. Die Einheit muss erscheinen, und zwar als etwas, das es in der Welt sonst nicht gibt; als etwas, das aus den eigenen Kräften der Menschheit nicht erklärbar ist und daher das Wirken einer anderen Kraft sichtbar macht. Durch die menschlich nicht erklärbare Einheit der Jünger Jesu alle Zeiten hindurch wird Jesus Selbst legitimiert. Es wird sichtbar, dass er wirklich der „Sohn“ ist. So wird Gott erkennbar als Schöpfer einer Einheit, die die Zerfallstendenz der Welt überwindet.
Darum hat der Herr gebetet: um eine Einheit, die nur von Gott her und durch Christus möglich ist, die aber so konkret erscheint, dass Gottes gegenwärtig wirkende Kraft sichtbar wird. Deshalb bleibt das Ringen um eine sichtbare Einheit der Jünger Jesu Christi ein dringender Auftrag für die Christen aller Zeiten und aller Orte. Die unsichtbare Einheit der „Gemeinde“ genügt nicht.
05.05.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XVI)
Bedarf es also der Ökumene gar nicht, weil die Einheit in der Verkündigung geschaffen und durch die Spaltungen der Geschichte nicht gehindert wird? Vielleicht ist es auch bezeichnend, dass Bultmann das Wort „Kirche“ verwendet, wo er von Zersplitterung redet, dagegen das Wort „Gemeinde“ gebraucht, wo er von der Einheit handelt. Die Einheit der Verkündigung sei nicht kontrollierbar, so sagt er uns. Daher sei die Einheit der Gemeinde unsichtbar, wie der Glaube unsichtbar ist. Einheit sei unsichtbar, weil „kein weltliches Phänomen“.
Ist dies nun die rechte Auslegung der Bitte Jesu? Gewiss ist es wahr, dass die Einheit der Jünger – der künftigen Kirche –, um die Jesus betet, „kein weltliches Phänomen“ ist. Das sagt der Herr ganz deutlich: Die Einheit kommt nicht aus der Welt; aus den eigenen Kräften der Welt ist sie nicht möglich. Die eigenen Kräfte der Welt führen zur Spaltung: Wir sehen es. Soweit die Welt in der Kirche, in der Christenheit wirksam ist, kommt es zu Spaltungen. Die Einheit kann nur vom Vater durch den Sohn kommen. Sie hat mit der „Herrlichkeit“ zu tun, die der Sohn gibt: mit Seiner durch den Heiligen Geist geschenkten Gegenwart, die Frucht des Kreuzes, Seiner Verwandlung in Tod und Auferstehung ist.
04.05.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XV)
Es ist lehrreich, zu dieser Frage wiederum Rudolf Bultmann zu hören. Er sagt zunächst – wie es im Evangelium steht –, dass diese Einheit in der Einheit von Vater und Sohn begründet ist, und fährt dann fort: „Sie gründet also nicht in natürlichen oder weltgeschichtlichen Gegebenheiten, und sie kann auch nicht durch Organisation, durch Institutionen oder Dogmen hergestellt werden … Geschaffen werden kann die Einheit nur durch das Wort der Verkündigung, in der der Offenbarer – in Seiner Einheit mit dem Vater – jeweils gegenwärtig ist. Und bedarf die Verkündigung zu ihrer Realisierung in der Welt der Institutionen und Dogmen, so können diese doch nicht die Einheit echter Verkündigung garantieren. Andererseits braucht durch die faktische Zersplitterung der Kirche, die übrigens gerade die Folge ihrer Institutionen und Dogmen ist, die Einheit der Verkündigung nicht vereitelt zu werden. Überall kann das Wort echt erklingen, wo die Tradition festgehalten wird. Da die Echtheit der Verkündigung nicht … kontrollierbar ist und da der dem Wort antwortende Glaube unsichtbar ist, so ist auch die echte Einheit der Gemeinde unsichtbar … Unsichtbar ist sie, da sie überhaupt kein weltliches Phänomen ist …“ (Das Evangelium des Johannes, S. 393f).
Diese Sätze sind erstaunlich; vieles an ihnen wäre zu diskutieren, zunächst der Begriff von „Institutionen“ und „Dogmen“, dann aber mehr noch der Begriff der „Verkündigung“, die offensichtlich selbst die Einheit schafft. Ist es wahr, dass in der Verkündigung der Offenbarer in Seiner Einheit mit dem Vater gegenwärtig ist? Ist Er nicht oft erstaunlich abwesend? Nun, Bultmann gibt uns einen gewissen Maßstab dafür, wo das Wort „echt“ erklingt: da, „wo die Tradition festgehalten wird“. Welche Tradition?, muss man da fragen. Wo kommt sie her, worin besteht sie? Nicht jede Verkündigung also ist „echt“, aber wie erkennen wir sie? Die „echte Verkündigung“ schaffe selbst die Einheit. Die „faktische Zersplitterung“ der Kirche könne die vom Herrn herkommende Einheit nicht hindern, so lehrt uns Bultmann.
03.05.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XIV)
„Dass sie alle eins seien …“
Ein weiteres großes Thema des Hohepriesterlichen Gebets ist die künftige Einheit der Jünger Jesu. Der Blick Jesu geht dabei – einzigartig in den Evangelien – über die jetzige Jüngergemeinschaft hinaus und richtet sich auf alle, die „durch ihr Wort glauben werden“ (Joh 17,20): Der weite Horizont der kommenden Gemeinschaft der Glaubenden öffnet sich über die Generationen hin, die künftige Kirche ist in Jesu Gebet hineingenommen. Er bittet für die künftigen Jünger um Einheit.
Viermal wiederholt der Herr diese Bitte; zweimal wird als Ziel der Einheit genannt, dass die Welt glaubt, ja, dass sie „erkennt“, dass Jesus vom Vater gesandt ist: „Heiliger Vater, bewahre sie in Deinem Namen, den Du Mir gegeben hast, damit sie eins seien wie wir“ (v. 11). „Alle sollen eins sein: Wie Du, Vater, in Mir bist und Ich in Dir bin, sollen auch sie in Uns sein, damit die Welt glaubt, dass Du Mich gesandt hast“ (v. 22f). „Sie sollen eins sein, wie Wir eins sind … Sie sollen vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass Du mich gesandt hast …“ (v. 21ff).
In keiner Rede zur Ökumene fehlt der Hinweis auf dieses „Testament“ Jesu – darauf, dass Er vor dem Gang ans Kreuz den Vater beschwörend um die Einheit der künftigen Jünger, der Kirche aller Zeiten gebeten hat. Und das ist gut so. Aber umso dringender ist die Frage: Um welche Einheit hat Jesus da gebetet? Was ist seine Bitte für die Gemeinschaft der Glaubenden die Geschichte hindurch?
02.05.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XIII)
Basil Studer hat darauf aufmerksam gemacht, dass in den Anfängen der Christenheit „jüdisch beeinflusste Kreise“ eine „spezielle Namens-Christologie entwickelt“ haben. „Name, Gesetz, Bund, Anfang, Tag“ wurden nun Christus-Titel (Gott und unsere Erlösung …, S. 56 u. 61). Man weiß: Christus Selbst, als Person, ist „der Name“ Gottes, Gottes Zugänglichkeit für uns. „Ich habe Deinen Namen bekannt gemacht und werde ihn bekannt machen.“ – Die Selbstgabe Gottes in Christus ist nicht Vergangenheit: „Ich werde ihn bekannt machen.“ Immerfort geht Gott in Christus auf die Menschen zu, damit sie auf Ihn zugehen können. Christus bekannt machen heißt Gott bekannt machen. Durch die Begegnung mit Christus geht Gott auf uns zu, zieht uns in Sich hinein (vgl. Joh 12,32), um uns gleichsam über uns selbst hinauszuführen in die unendliche Weite Seiner Größe und seiner Liebe.
01.05.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XII)
Aus diesem Verstehen von Gottes Namen heraus spricht Jesus. Wenn Er sagt, dass Er den Namen Gottes offenbart habe und weiter offenbaren werde, so meint Er damit nicht irgendein neues Wort, das Er den Menschen als besonders angemessene Benennung für Gott mitgeteilt hätte. Die Offenbarung des Namens ist eine neue Weise der Gegenwärtigkeit Gottes unter den Menschen, eine neue radikale Weise, in der Gott bei den Menschen anwesend wird. In Jesus gibt Gott Sich ganz in die Menschenwelt hinein: Wer Jesus sieht, sieht den Vater (Joh 14,9). Wenn wir sagen dürfen, dass die Immanenz Gottes im Alten Testament in der Weise des Wortes und der liturgischen Begehung gegeben war, so ist diese Immanenz nun ontologisch geworden: In Jesus ist Gott Mensch geworden. Gott ist in unser Sein selbst eingetreten. In Ihm ist Gott wirklich „Gott mit uns“. Die Inkarnation, durch die dieses neue Sein Gottes als Mensch Wirklichkeit geworden ist, wird durch Sein Opfer zum Ereignis für die ganze Menschheit: Als Auferstandener kommt Er neu, um alle zu Seinem Leib, zum neuen Tempel zu machen. Die „Namensoffenbarung“ zielt darauf, dass „die Liebe, mit der Du Mich geliebt hast, in ihnen sei und Ich in ihnen“ (17,26). Sie zielt auf die Verwandlung des Kosmos, so dass er in Einheit mit Christus ganz neu Gottes wirkliche Wohnstatt wird.
30.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XI)
„Ich habe ihnen deinen Namen bekannt gemacht …“
Ein weiteres grundlegendes Thema des Hohepriesterlichen Gebets ist die Offenbarung von Gottes Namen: „Ich habe Deinen Namen den Menschen offenbart, die Du Mir aus der Welt gegeben hast“ (Joh 17,6). „Ich habe ihnen Deinen Namen bekannt gemacht und werde ihn bekannt machen, damit die Liebe, mit der Du Mich geliebt hast, in ihnen ist und damit Ich in ihnen bin“ (17,26). Es ist klar, dass Jesus sich mit diesen Worten als der neue Mose vorstellt, Der das zu Ende führt, was mit Mose am brennenden Dornbusch begonnen hat. Gott hatte dem Mose Seinen „Namen“ offenbart. Dieser „Name“ war mehr als ein Wort. Er bedeutete, dass Gott Sich anrufen ließ, in Gemeinschaft mit Israel getreten war. So wurde im Laufe der Glaubensgeschichte Israels immer deutlicher, dass mit „Name Gottes“ Seine „Immanenz“ gemeint war: Seine Gegenwärtigkeit mitten unter den Menschen, in der er ganz da ist und doch alles Menschliche und Weltliche unendlich überschreitet.
„Name Gottes“ bedeutet: Gott als unter den Menschen Gegenwärtiger. So wird vom Tempel zu Jerusalem gesagt, dass Gott dort „Seinen Namen wohnen lässt“ (Dtn 12,11 u. ö.). Israel hätte nie gewagt, schlichtweg zu sagen: Da wohnt Gott. Es wusste, dass Gott unendlich groß war, alle Welt überragte und umfasste. Und doch war Er wirklich da: Er selbst. Dies ist gemeint, wenn gesagt wird: „Er lässt dort Seinen Namen wohnen.“ Er ist wirklich gegenwärtig und bleibt doch immer unendlich größer und unfassbar. Der „Name Gottes“ ist Gott Selbst als Der Sich uns Schenkende; bei aller Gewissheit Seiner Nähe und in aller Freude darüber bleibt Er immer unendlich größer.
29.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil X)
Nach dem Buch Exodus vollzieht sich die Priesterweihe der Söhne Aarons durch Einkleidung in die heiligen Gewänder und durch Salbung (29,1 – 9); beim Ritual des Versöhnungstages ist auch von einem Vollbad vor dem Anlegen der kultischen Bekleidung die Rede (Lev 16,4). Die Jünger Jesu werden geheiligt, geweiht „in der Wahrheit“. Die Wahrheit ist das Bad, das sie reinigt; die Wahrheit ist das Gewand und die Salbung, derer sie bedürfen. Diese reinigende und heiligende „Wahrheit“ ist letztlich Christus selbst. In Ihn müssen sie eingetaucht sein, mit Ihm gleichsam „umkleidet“ werden, und so sind sie an Seiner Heiligung beteiligt, an Seinem priesterlichen Auftrag, an Seinem Opfer. Das Judentum hat nach dem Ende des Tempels auch seinerseits eine neue Deutung der kultischen Vorschriften suchen müssen. Es sah nun die „Heiligung“ im Erfüllen der Gebote – im Eintauchen in Gottes heiliges Wort und in den Willen Gottes, der sich darin ausdrückt (vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium III, S. 211). Jesus ist im Glauben der Christen die Tora in Person, und so geschieht Heiligung in der Gemeinsamkeit des Wollens und des Seins mit Ihm. Wenn es bei der Heiligung der Jünger in der Wahrheit letztlich um die Beteiligung an Jesu priesterlicher Sendung geht, dann dürfen wir in diesen Worten des Johannes-Evangeliums die Einsetzung des Priestertums der Apostel, des neutestamentlichen Priestertums erblicken, das im Tiefsten Dienst an der Wahrheit ist.
28.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil IX)
So steht in diesen wenigen Worten die neue Versöhnungsliturgie Jesu Christi, die Liturgie des Neuen Bundes, in ihrer ganzen Größe und Reinheit vor uns. Jesus selbst ist der vom Vater in die Welt gesandte Priester; er selbst ist das Opfer, das in der Eucharistie aller Zeiten gegenwärtig wird. Irgendwie hatte Philon von Alexandrien das richtig vorausgefühlt, als er vom Logos als Priester und Hohepriester sprach (Leg. all. III 82; De somn. I 215; II 183; Hinweis bei Bultmann, ebd.). Der Sinn des Versöhnungstages ist ganz erfüllt in dem „Wort“, das Fleisch geworden ist „für das Leben der Welt“ (Joh 6,51). Kommen wir zu der dritten Heiligung, von der im Gebet Jesu die Rede ist: „Heilige sie in der Wahrheit“ (17,17). „Ich heilige Mich, damit auch sie in Wahrheit geheiligt seien“ (17,19). Die Jünger sollen in die Heiligung Jesu hineingezogen werden; auch an ihnen soll sich diese Übereignung in die Sphäre Gottes hinein und damit das Gesandtsein für die Welt vollziehen. „Ich heilige Mich, damit auch sie in Wahrheit geheiligt seien“: Ihre Übereignung an Gott, ihre „Heiligung“, ist gebunden an die Heiligung Jesu Christi, ist Beteiligung an Seinem Geheiligtsein. Zwischen den beiden Versen 17 und 19, die von der Jüngerheiligung reden, gibt es einen kleinen, aber wichtigen Unterschied. Im Vers 19 wird gesagt, dass sie „in Wahrheit“ geheiligt sein sollen: nicht nur rituell, sondern wahrhaftig, in ihrem ganzen Sein – so werden wir dies wohl übersetzen dürfen. Im Vers 17 dagegen wird gesagt: „Heilige sie in der Wahrheit“. Hier ist die Wahrheit als Kraft der Heiligung bezeichnet, als „ihre Weihe“.
27.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XIII)
Aber wenn der Vater Ihn „geheiligt“ hat, was bedeutet dann „Ich heilige (hagiazo) Mich Selbst (17,19)? Überzeugend ist die Antwort, die Rudolf Bultmann in seinem Johannes-Kommentar auf diese Frage gibt: „Hagiazo“ bedeutet hier im Abschiedsgebet am Eingang der Passion und verbunden mit dem „hyper auton (für sie) ´heiligen´ im Sinne von ´zum Opfer weihen´“. Bultmann zitiert dazu zustimmend ein Wort des heiligen Johannes Chrysostomus: „Ich heilige Mich – Ich bringe Mich als Opfer dar“ (Das Evangelium des Johannes, S. 391, Anm. 3; vgl. auch Feuillet, S. 31 u. 38). Wenn die erste „Heiligung“ sich auf die Inkarnation bezieht, so ist hier von der Passion als Opfer die Rede.
Bultmann hat den inneren Zusammenhang der beiden „Heiligungen“ sehr schön dargestellt. Jesu vom Vater kommende Heiligkeit ist „Sein für die Welt, für die Seinen“. Diese Heiligkeit ist „kein statisches, substantiales Anderssein als die Welt“, sondern Er gewinnt sie erst im Vollzuge Seines Eintretens für Gott gegen die Welt. Dieser Vollzug aber heißt Opfer. Im Opfer ist Er in der göttlichen Weise so gegen die Welt, dass Er zugleich für sie ist (a.a.O., S. 391). Man mag an diesem Satz die scharfe Unterscheidung zwischen substantialem Sein und Vollzug des Opfers kritisieren: Jesu „substantiales“ Sein ist als solches ganz Dynamik des Seins für; beides ist untrennbar. Aber Bultmann hat vielleicht auch gerade dies sagen wollen. Recht zu geben ist ihm weiterhin, wenn er zu diesem Vers Joh 17,19 sagt, dass „die Anspielung auf die Abendmahlsworte doch wohl unbestreitbar“ sei (a.a.O., S. 391, Anm. 3).
26.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XII)
Kehren wir zurück zum Johannes-Evangelium. Was bedeuten die drei Heiligungen (Weihungen), von denen da die Rede ist? Da wird uns zunächst gesagt, dass der Vater Seinen Sohn in die Welt gesandt und Ihn geheiligt hat (10,36). Was ist da gemeint? Die Exegeten weisen uns darauf hin, dass es zu diesem Satz eine gewisse Parallele in den Berufungsworten des Propheten Jeremia gibt: „Noch ehe Ich dich im Mutterleib formte, habe Ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe Ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe Ich dich bestimmt (Jer 1,5). Heiligung bedeutet die völlige Beanspruchung dieses Menschen durch Gott, die „Aussonderung“ für Ihn, die aber zugleich Sendung für die Völker ist.
Auch im Wort Jesu sind Heiligung und Sendung unmittelbar verknüpft. So kann man sagen, dass diese Heiligung Jesu durch den Vater mit der Inkarnation identisch ist: Sie drückt zugleich die völlige Einheit mit dem Vater und das völlige Dasein für die Welt aus. Jesus gehört ganz zu Gott und ist gerade deshalb „für alle da“. „Du bist der Heilige Gottes“, hatte Petrus in der Synagoge von Kafarnaum zu Ihm gesagt und damit ein umfassendes christologisches Bekenntnis abgelegt (Joh 6,69).
25.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil XI)
Der Vorgang der Weihe, der „Heiligung“, schließt zwei scheinbar einander widerstrebende, aber in Wirklichkeit von innen her zusammengehörende Aspekte ein. Zum einen ist „Weihung“ als „Heiligung“ Aussonderung aus dem übrigen, dem eigenen Leben des Menschen zugehörigen Bereich. Das Geweihte wird in eine neue, dem Menschen nicht mehr verfügbare Sphäre hineingehoben. Aber diese Aussonderung schließt zugleich das Moment des „Für“ ganz wesentlich ein. Gerade weil ganz Gott übergeben, ist diese Realität nun für die Welt, für die Menschen da, vertritt sie und soll sie heilen. Wir können auch sagen: Aussonderung und Sendung bilden ein einziges Ganzes.
Ganz deutlich ist dieser Zusammenhang erkennbar, wenn wir an die besondere Berufung Israels denken: Es ist einerseits abgesondert aus allen anderen Völkern, aber gerade, um einen Auftrag für alle Völker, für die ganze Welt wahrzunehmen. Das ist gemeint, wenn Israel als „heiliges Volk“ bezeichnet wird.
24.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil X)
„Heilige sie in der Wahrheit"
An zweiter Stelle möchte ich das Thema der Heiligung und des Heiligens herausgreifen, das am stärksten auf den Zusammenhang mit dem Versöhnungsgeschehen und mit dem Hohepriestertum hinweist.
Im Gebet für die Jünger sagt Jesus: „Heilige sie in der Wahrheit; denn Dein Wort ist Wahrheit… Ich heilige Mich für sie, damit auch sie in Wahrheit geheiligt sind.“ (Joh 17,17.19). Nehmen wir noch eine Stelle aus den Streitereien Jesu dazu, die in diesen Zusammenhang gehört: Jesus bezeichnet Sich da als Den, Den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat (10,36). Von einer dreifachen „Heiligung“ ist also die Rede: Der Vater hat den Sohn geheiligt und in die Welt gesandt; der Sohn heiligt Sich Selbst und Er bittet, dass von Seiner Heiligung her die Jünger in der Wahrheit geheiligt seien.
Was bedeutet das: „heiligen"? „ Heilig" (qadoš in der hebräischen Bibel) im vollständigen Sinn ist nach biblischem Verständnis nur Gott Selbst. Heiligkeit ist der Ausdruck für Seine besondere Seinsweise, für das göttliche Sein als solches. So bedeutet das Wort „heiligen" die Übereignung einer Realität – einer Person oder auch einer Sache – an Gott, besonders die Bestimmung für den Kult. Das kann zum einen die Weihe zum Opfer sein (Ex 13,2; Dtn 15,9); es kann zum anderen die Priesterweihe bedeuten (Ex 28,4), die Bestimmung eines Menschen für Gott und für den göttlichen Kult.
23.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil IX)
Dieser Gott aber wird ihm zugänglich in Seinem Gesandten, Jesus Christus: In der Begegnung mit Ihm geschieht jene Erkenntnis Gottes, die zu Gemeinschaft und damit zu „Leben" wird. In der Doppelmoral „Gott und Sein Gesandter" kann man nachklingen hören, was besonders in den Gottesworten im Exodos-Buch immer wieder vorkommt: „Sie sollen an Mich“, an Gott glauben und an Mose, den Gesandten. Gott zeigt Sein Angesicht im Gesandten – endgültig in Seinem Sohn.
„Ewiges Leben" ist also ein Beziehungsereignis. Der Mensch hat es nicht aus sich selbst, für sich allein genommen. Durch die Beziehung zu Dem, Der Selbst das Leben ist, wird er auch ein Lebender.
Zu diesem zutiefst biblischen Gedanken kann man Vorstufen auch bei Platon finden, der sehr unterschiedliche Überlieferungen und Reflektionen zum Thema Unsterblichkeit in sein Werk aufgenommen hat. So gibt es auch bei ihm die Vorstellung, der Mensch könne unsterblich werden dadurch, dass er sich selbst dem Unsterblichen verbindet. Je mehr er Wahrheit in sich aufnimmt, sich der Wahrheit verbindet und ihr anhängt, desto mehr ist er auf das bezogen und von dem erfüllt, was nicht zerstört werden kann. So weit er sich sozusagen selber an die Wahrheit anhängt, so weit er getragen wird durch das, was bleibt, darf er des Lebens nach dem Tod – eines heilvollen Lebens – sicher sein.
Was hier nur tastend gesucht wird, erscheint in Jesu Wort in großartiger Eindeutigkeit. Der Mensch hat das Leben gefunden, wenn er sich an Den anhängt, Der Selbst das Leben ist. Dann kann vieles ihm zerstört werden. Der Tod kann ihn aus der Biosphäre wegnehmen, aber das über sie hinausreichende Leben, das wirkliche Leben, das bleibt. In diesem Leben, das Johannes – im Unterschied zum bios – zoé nennt, muss er hineinleben. Die Beziehung zu Gott in Jesus Christus: Sie gibt jenes Leben, das kein Tod zu nehmen vermag.
Es ist klar, dass mit diesem „Leben-in-Beziehung" eine ganz konkrete Weise der Existenz gemeint ist; dass Glaube und Erkenntnis nicht irgendein im Menschen auch vorhandenes Wissen sind, sondern die Form seiner Existenz. Auch wenn an dieser Stelle von Liebe nicht die Rede ist, so ist doch eindeutig, dass die „Erkenntnis" Dessen, Der Selbst die Liebe ist, zu Liebe wird in der ganzen Weite ihrer Gabe und ihres Anspruchs.
22.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil VIII)
Sehr deutlich erscheint diese Bedeutung vom „ewigen Leben“ im Kapitel
über die Auferweckung des Lazarus: „Wer an Mich glaubt, wird Leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an Mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben (Joh 11,25f). “Ich lebe, und ihr werdet leben", sagt Jesus beim Abendmahl zu Seinen Jüngern (Joh 14,19) und zeigt damit noch einmal, dass es für den Jünger Jesu kennzeichnend ist, dass er "lebt" – dass er also über das bloße Dasein hinaus das eigentliche Leben, nach dem alle auf der Suche sind, gefunden und ergriffen hat. Die frühen Christen haben sich von solchen Texten her einfach „die Lebenden" (hoi zontes) genannt. Sie hatten gefunden, was alle suchen: Das Leben selbst, das volle und daher unzerstörbare Leben.
Aber wie kommt man dazu? Das Hohepriesterliche Gebet gibt eine vielleicht überraschende, aber im Kontext des biblischen Denkens schon angelegte Antwort: “Das „ewige Leben" findet der Mensch durch „Erkenntnis", wobei der alttestamentliche Begriff von Erkennen vorausgesellt wird: Erkennen schafft Gemeinschaft, ist Einssein mit dem Erkannten. Aber natürlich ist nicht irgendwelche Erkenntnis der Schlüssel zum Leben, sondern „Dich, den einzigen wahren Gott zu erkennen und Jesus Christus, den Du gesandt hast (17,3). Dies ist eine Art Kurzformel des Glaubens, in der der wesentliche Gehalt zur Entscheidung des Christseins sichtbar wird ‚ die Erkenntnis, die uns der Glaube schenkt. Der Christ glaubt nicht vielerlei. Er glaubt letztlich ganz einfach an Gott, daran, dass es nur einen einzigen wirklichen Gott gibt.
21.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil VII)
Vier große Themen des Gebetes
Aus dem großen Reichtum von Joh 17 möchte ich nun vier Hauptthemen herausarbeiten, in denen wesentliche Aspekte dieses großen Textes und damit der johanneischen Botschaft überhaupt erscheinen.
„Das ist das ewige Leben"
Da ist zunächst Vers 3: „Das ist das ewige Leben: „Dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den Du gesandt hast.“
Das Thema Leben (zoé), das sich vom Prolog (1,4) an durch das ganze Evangelium hindurchzieht, erscheint notwendigerweise auch in der neuen Liturgie der Versöhnung, die sich im Hohepriesterlichen Gebet vollzieht. Die These von Rudolf Schnackenburg und anderen, dass es sich bei diesem Vers um eine später hinzugefügte Glosse handelt, weil das Wort "Leben" hernach in Joh 17 nicht mehr vorkommt, entspringt für mich - genau so wie die Quellenscheidung im Fußwaschungskapitel- jener akademischen Logik, die die Kompositionsform eines modernen Gelehrtentextes zum Maßstab der so ganz anderen Weise zu reden und zu denken macht, die wir im Johannes-Evangelium finden.
„Ewiges Leben" ist nicht - wie der moderne Leser wohl unmittelbar denkt - das Leben, das nach dem Tode kommt, während das Leben jetzt eben vergänglich ist und nicht ewiges Leben wäre.
„Ewiges Leben" ist das Leben selbst, das eigentliche Leben, das auch in dieser Zeit gelebt werden kann und dann durch den physischen Tod nicht mehr angefochten wird. Darum geht es: Jetzt schon „das Leben“, das wirkliche Leben zu ergreifen, das durch nichts und niemand mehr zerstört werden kann.
20.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil VI)
Bevor wir uns den Einzelthemen des Hohepriesterlichen Gebets zuwenden, muss aber noch ein weiterer alttestamentlicher Bezug genannt werden, den gleichfalls André Feuillet herausgearbeitet hat.
Er zeigt, dass die spirituelle Vertiefung und Erneuerung der Idee des Priestertums, die uns in Joh 17 begegnet, in den jesajanischen Gottesknechtsliedern, besonders in Jes 53, schon vollzogen ist. Der Gottesknecht, Der die Schuld aller auf Sich laden lässt (53,6), Der Sein Leben als Sühnopfer hingibt (53,10), Der die Sünde vieler trägt (53,12), tut in alledem den Dienst des Hohepriesters, erfüllt die Figur des Priestertums von innen her. Er ist Priester und Opfer zugleich und erwirkt so Versöhnung. Die Gottesknechtslieder nehmen damit den ganzen Weg der Vertiefung der Idee des Priestertuns und des Kultes auf, wie er in der prophetischen Tradition, besonders bei Ezechiel, beschritten war.
Wenn sich in Joh 17 auch kein direkter Anklang an die Gottesknechtslieder findet, so ist die Vision von Jes 53 doch grundlegend für das neue Verständnis von Priestertum und Kult, das sich im ganzen Johannes-Evangelium und besonders im Hohepriesterlichen Gebet darstellt. Sichtbar ist uns der Zusammenhang im Kapitel über die Fußwaschung begegnet; deutlich greifbar ist er auch in der Rede vom guten Hirten, in der Jesus fünfmal von diesem Hirten sagt, dass er sein Leben für die Schafe gibt (Joh 10,11.12.15.1718ff) und so deutlich Jes 53 aufnimmt.
In der Einheit der Gestalt Jesu Christi – sichtbar im äußeren Bruch mit dem Tempel und seinen Opfern – Ist doch die innerste Einheit mit der Heilsgeschichte des alten Bundes gewahrt. Wenn wir an die Gestalt des fürbittenden Mose denken, der Gott sein Leben für die Rettung Israels anbietet, dann wird noch einmal diese Einheit sichtbar, die zu zeigen ein wesentliches Anliegen des Johannes-Evangeliums darstellt.
19.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil V)
In Jesu Reden mit dem Vater wird das Ritual des Versöhnungstages in Gebet umgewandelt: Hier wird jene Kulterneuerung konkret, auf die die Tempelreinigung und Jesu Deuteworte für dieses Ereignis abzielten. Die Tempelopfer sind vorbei. An ihre Stelle tritt, was die griechischen Väter thysia logike, Opfer in der Weise des Wortes, nannten und was Paulus ganz ähnlich als logike latreira, als wortgeformten, vernunftgemäßen Kult bezeichnet (Röm 12,1).
Freilich, dieses „Wort", das an die Stelle der Opfer tritt, ist nicht bloßes Wort. Es ist zuallererst nicht bloße Menschenrede, sondern Wort Dessen, Der das „Wort" ist und so alle Menschenworte in den inneren Dialog Gottes, in Seine Vernunft und in Seine Liebe hinein zieht. Es ist aber deshalb noch einmal mehr als das Wort, weil dieses ewige Wort gesagt hat; „Opfer und Gaben hast Du nicht gewollt, einen Leib hast Du Mir bereitet“ (Hebr. 10,5, vgl. Ps 40,7). Das Wort ist Fleisch, und mehr als das: es ist hingegebener Leib, vergossenes Blut.
Mit der Einsetzung der Eucharistie wandelt Jesus Sein Getötetwerden in „Wort" um, in die Realität Seiner Liebe, die sich bis in den Tod hinein gibt. So wird Er Selbst „Tempel". Insofern das Hohepriesterliche Gebet Vollzugsform der Selbstgabe Jesu ist, stellt es den neuen Kult dar und ist von innen her mit der Eucharistie verbunden: Wenn wir von ihrer Einsetzung handeln, werden wir auf all dies neu zurück kommen müssen.
18.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil IV)
Insofern spricht die Theologie von Joh 17 genau dem, was der Hebräer-Brief im Detail ausführt. Die Deutung des allttestamentlichen Kultes auf Jesus Christus hin, die dort dargestellt wird, ist auch die Seele des Gebets von Joh 17. Aber auch die Theologie des heiligen Paulus läuft auf diese Mitte zu, die in dramatisch beschwörender Form im Zweiten Korinther-Brief vernehmlich wird: „Wir bitten an Christi statt: lasst euch mit Gott versöhnen!“ (5,20).
Und ist es nicht wirklich so, dass das Unversöhntsein der Menschen mit Gott, mit dem schweigenden, geheimnisvollen, scheinbar abwesenden und doch überall gegenwärtigen Gott, das eigentliche Problem der ganzen Weltgeschichte ist?
Das Hohepriesterliche Gebet Jesu ist Vollzug des Versöhnungstages, das gleichsam für immer zugängliche Versöhnungsfest Gottes mit den Menschen. An dieser Stelle drängt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Jesu Hohepriesterlichem Gebet und der Eucharistie auf. Es gibt Versuche, dieses Gebet als eine Art von eucharistischem Hochgebet auszulegen, es sozusagen als johanneische Fassung der Einsetzung des Sakraments darzustellen. Solche Versuche sind nicht haltbar. Aber es besteht ein tieferer Zusammenhang.
17.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil III)
Nach rabbinischer Theologie geht ja die Idee des Bundes, die Idee, ein heiliges Volk als Gegenüber zu Gott und in Einheit mit Ihm zu schaffen, der Idee der Weltschöpfung voraus, ist ihr innerer Grund. Der Kosmos wird geschaffen, nicht damit es vielerlei Gestirne und Dinge gäbe, sondern damit ein Raum sei für den „Bund“, für das Ja der Liebe zwischen Gott und dem Ihm antwortenden Menschen. Das Versöhnungsfest stellt diese Harmonie, diesen immer wieder durch die Sünde gestörten Weltsinn je wieder her und bildet deshalb den Höhepunkt des liturgischen Jahres.
Die Struktur des von Lev 16 beschriebenen Ritus ist im Gebet Jesu genau aufgenommen: wie der Hohepriester Sich selbst, die Priesterschaft und die ganze Gemeinde Israels entsühnt, so betet Jesus für Sich Selbst, für die Apostel und schließlich für alle, die durch Sein Wort künftig an Ihn glauben werden – für die Kirche aller Zeiten (vgl. Joh 17,20). Er heiligt „Sich Selbst", und Er erwirkt Heiligkeit für die Seinen. Dass es dabei – trotz der Abgrenzung gegenüber der "Welt“ (vgl. 17,9) letztlich um das Heiligtum aller, um das „Leben der Welt" im Ganzen geht (vgl. 6,51), werden wir noch zu bedenken haben. Jesu Gebet zeigt Ihn als den Hohepriester des Versöhnungstages. Sein Kreuz und Seine Erhöhung ist der Versöhnungstag der Welt, in dem die ganze Weltgeschichte gegen alle menschliche Schuld und all ihre Zerstörungen ihren Sinn findet, in ihr eigentliches Wozu und Wohin hinein getragen wird.
16.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil II)
Um dies zu verstehen, müssen wir zunächst auf das Ritual des Versöhnungsfestes blicken, das in Lev 16 und 23,26-32 beschrieben wird. Der Hohepriester hat an diesem Tag durch die entsprechenden Opfer (zwei Ziegenböcke für ein Sündopfer, einen Widder für ein Brandopfer, einen Jungstier: 16,5) Sühne zu erwirken zunächst für sich selbst, dann für „sein Haus", das heißt für die Priesterschaft Israels überhaupt, und schließlich für die ganze Gemeinde Israels (16,17). „So soll er das Heiligtum von den Unreinheiten der Israeliten, von ihren Freveltaten und Sünden entsühnen, und so soll er mit dem Offenbarungszelt verfahren, das bei ihnen inmitten ihrer Unreinheiten seinen Sitz hat" (16,16).
Bei diesen Riten spricht der Hohepriester das einzige Mal im Jahr, im Angesicht Gottes, den sonst unaussprechlichen heiligen Namen aus, den Gott am brennenden Dornbusch offenbart hatte – den Namen, durch den Er gleichsam für Israel berührbar geworden war. So ist es Ziel des Versöhnungstages, Israel nach den Verfehlungen eines Jahres seine Qualität als „heiliges Volk" wiederzugeben, es in seine Bestimmung zurückzuführen, Gottes Volk inmitten der Welt zu sein (vgl. Feuillet, S. 56 und 78). Insofern geht es um das, was die innerste Absicht der Schöpfung als Ganzer ist: einen Raum der Antwort auf Gottes Liebe auf Seinen heiligen Willen zu schaffen.
15.04.2021
4. Kapitel: Das Hohepriesterliche Gebet Jesu (Teil I)
Auf die Fußwaschung folgen im Johannes-Evangelium die Abschiedsreden Jesu (Kapitel 14- 16), die schließlich im 17. Kapitel in ein großes Gebet münden, für das der lutherische Theologe David Chytraeus (1530- 1600) den Namen Hohepriesterliches Gebet geprägt hat. Auf den priesterlichen Charakter des Gebets hatte in der Väterzeit besonders Cyrill von Alexandrien (+ 444) hingewiesen. André Feuillet zitiert in seiner Monographie über Joh 17 einen Text von Rupert von Deutz (+ 1129/30), in dem der wesentliche Charakter des Gebets sehr schön zusammengefasst Ist: „Haec pontifex summus propitiator ipse et propitiatorium, sacerdos et sacrificium pro nobis oravit – dies hat der Hohepriester, der Selbst Versöhner und Sühnegabe, Priesterin Opfer war,für uns gebetet" (Joan., in: PL 169, 764B vgl. Feuillet, S. 35).
1. Das jüdische Versöhnungsfest als biblischer Hibtergrund des Hohepriesterlichen Gebets
Den Schlüssel zum rechten Verständnis dieses großen Textes habe ich in dem genannten Buch Feuillets gefunden. Er zeigt, dass dieses Gebet nur auf dem Hintergrund der Liturgie des jüdischen Versöhnungsfestes (Jom ha-Kippurim) zu verstehen ist. Das Ritual des Festes mit seinem reichen theologischen Inhalt wird im Beten Jesu realisiert - „realisiert" im wörtlichen Sinn: Der Ritus wird in die von ihm gemeinte Wirklichkeit übersetzt. Was dort in Riten dargestellt war, geschieht nun real, und es geschieht endgültig.
14.04.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil XVI)
Fußwaschung und Sündenbekenntnis
Auf das Kapital über die Fußwaschung insgesamt zurück blickend können wir sagen, dass in dieser Gebärde der Demut, in der das ganze von Jesu Lebens- und Todesdienst sichtbar wird, der Herr vor uns steht als der Knecht Gottes – als Der, Der für uns der Dienende geworden ist, Der unsere Last trägt und uns so die wahre Reinheit, die Gottfähigkeit schenkt. Im zweiten Gottesknechts-Lied bei Jesaja steht ein Satz, der in gewisser Hinsicht die Grundlinie der johanneischen Passionstheologie vorweg nimmt: Der Herr "sagte zu Mir: Du bist Mein Knecht, und in Dir werde Ich verherrlicht werden (LXX: doxasthesomai)“ (49,3).
Auf diesen Zusammenhang zwischen dem Knechtsdienst und der Herrlichkeit (doxa) kommt es in der ganzen Passionsgeschichte des heiligen Johannes an: Gerade in Jesu Abstieg, in Seiner Erniedrigung bis ans Kreuz, scheint die Herrlichkeit Gottes auf, wird Gott und in Gott Jesus verherrlicht. Eine kleine Szene am „Palmsonntag“ - man könnte sagen: Die johanneische Fassung der Ölbergsgeschichte - fasst dies alles zusammen: „Jetzt ist Meine Seele erschüttert. Was soll Ich sagen: Vater, rette Mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin Ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrlichen Deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen" (12,27f). Die Stunde des Kreuzes ist die Stunde von Gottes und von Jesu wahrer Herrlichkeit.
13.04.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil XV)
Fußwaschung und Sündenbekenntnis
Das Wort „reinigen“ stellt den inneren Zusammenhang zur Fußwaschungs-Perikope dar. Die gleiche, aus dem Judentum kommende Übung des Sündenbekenntnisses ist auch im Jakobus-Brief (5,16) bezeugt, ebenso in der Didaché. Dort steht: „In der Gemeinde sollst du deine Sünden bekennen“ (4,14) und: „Am Tag des Herrn sollt ihr zusammenkommen, Brot brechen und danken, nachdem ihr zuvor eure Sünden bekannt habt“ (14,1). Franz Mußner sagt dazu im Anschluss an Rudolf Knopf: „An beiden Stellen ist an ein kurzes, öffentliches Einzelbekenntnis gedacht“ (Jakobusbrief, S. 226, Anm. 5).
Sicher darf mann in diesem Sündenbekenntnis, das jedenfalls im Einflussnahme des Judenchristentums zum Leben der frühchristlichen Gemeinde gehörte, nicht das Bußsakrament in dem Sinn suchen, wie es sich im Lauf der Geschichte in der Kirche ausgeprägt hat, wohl aber eine „Stufe dazu" (ebd., S. 226).
Letztlich geht es darum: Schuld darf nicht im Stillen in der Seele weiterschwären und sie so von innen her vergiften. Sie braucht Bekenntnis. Durch das Bekenntnis tragen wie sie ans Licht, halten sie in Christi reinigende Liebe hinein (vgl. Joh 3,20 f.)
Im Bekenntnis wäscht der Herr immer neu unsere schmutzigen Füße und bereitet uns für die Tischgemeinschaft mit Ihm.
12.04.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil XIV)
Fußwaschung und Sündenbekenntnis
Am Ende müssen wir noch auf ein kleines Detail des Fußwaschungs- Berichtes achten. Nachdem der Herr dem Petrus die Notwendigkeit der Fußwaschung erklärt hat, antwortet dieser, wenn es so sei, dann solle Er ihm nicht nur die Füße, sondern auch Hände und Haupt waschen. Die Antwort Jesu ist wieder rätselhaft: „Wer vom Bad kommt, ist ganz rein und braucht sich nur noch die Füße zu waschen“ (13,10). Was bedeutet das?
Das Jesus-Wort setzt offenbar voraus, dass die Jünger, als sie zum Mahl gingen, ein Vollbad genommen hatten und jetzt bei Tische nur noch einer Fußwaschung bedurften. Es ist klar, dass Johannes in diesen Worten einen tieferen symbolischen Sinn sieht, den zu erkennen nicht leicht ist. Halten wir zunächst fest, dass die Fußwaschung – wie wir gesehen haben – nicht ein einzelnes Sakrament bedeutet, sondern das Ganze von Jesu Heilsdienst: das sakramentum Seiner Liebe, in der Er uns im Glauben eintaucht und die das wahre Bad der Reinigung für den Menschen ist.
Aber an dieser Stelle gewinnt die Fußwaschung über ihre wesentliche Symbolik hinaus doch noch eine konkretere Bedeutung, die auf die Praxis des Lebens in der frühen Kirche verweist. Was ist das? Das vorausgesetzte Vollbad kann nur die Taufe meinen, mit der der Mensch ein für allemal in Christus eingetaucht ist und seine Identität des Inseins in Christus erhält. Dieser grundlegende Vorgang, durch den wir uns nicht zu Christen machen, sondern zu Christen werden durch das Handeln des Herrn in Seiner Kirche, ist unwiederholbar. Aber er bedarf im Leben der Christen – für die Tischgemeinschaft mit dem Herrn – doch immer wieder einer Ergänzung: der „Fußwaschung“. Was ist das? Es gibt keine unbestrittene sichere Antwort darauf. Aber mir scheint doch, dass der erste Johannes-Brief uns auf die rechte Spur führt und uns zeigt, was gemeint ist. Dort lesen wir: „Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir unsere Sünde bekennen, ist Er treu und gerecht; Er vergibt uns die Sünden und reinigt uns von allem Unrecht. Wenn wir sagen, dass wir nicht gesündigt haben, machen wir Ihn zum Lügner, und Sein Wort ist nicht in uns (1,8ff). Weil auch die Getauften Sünder bleiben, brauchen sie das Bekenntnis der Sünden, „das uns von allem Unrecht reinigt.
11.04.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil XIII)
In der zweiten Gesprächsrunde, nachdem Judas hinausgegangen und nachdem das neue Gebot verkündet ist, geht es um das Martyrium. Es erscheint unter dem Stichwort „hingehen“, „hinübergehen“ (hypágō). Jesus hatte nach Johannes bei zwei Gelegenheiten von Seinem Hingehen dorthin gesprochen, wohin die Juden nicht kommen konnten (7,34ff; 8,21f). Seine Hörer hatten darüber gerätselt, was Er damit meine, und zwei verschiedene Hypothesen darüber aufgestellt. Das eine Mal sagen sie: „Will er in die Diaspora zu den Griechen gehen und die Griechen lehren?“ (7,35). Das andere Mal: „Will Er Sich etwa umbringen?“ (8,22). Beide Male ahnen sie das Richtige und verfehlen die Wahrheit doch gründlich. Ja, Sein Hingehen ist ein Gehen in den Tod hinein – aber nicht so, dass Er Sich Selbst umbringt, sondern so, dass Er Seinen gewaltsamen Tod in die freie Hingabe Seines Lebens umwandelt (vgl. 10,18). Und ebenso ging Jesus zwar nicht nach Griechenland, aber durch Kreuz und Auferstehung hindurch ist er in der Tat zu den Griechen gekommen und hat der heidnischen Welt den Vater, den lebendigen Gott, gezeigt.
In der Stunde der Fußwaschung, in der Stimmung des Abschieds, die das Ganze prägt, fragt nun Petrus seinen Meister ganz offen: „Herr, wohin gehst Du?“ Und wieder erhält er eine verschlüsselte Antwort: „Wohin Ich gehe, dorthin kannst du Mir jetzt nicht folgen. Du wirst mir aber später folgen“ (13,36). Petrus begreift, dass Jesus von Seinem bevorstehenden Tod redet, und will nun seine radikale Treue bis in den Tod hinein betonen: „Warum kann ich Dir jetzt nicht folgen? Mein Leben will ich für Dich hingeben“ (13,37). In der Tat wird er hernach am Ölberg mit dem Schwert dreinhauen, bereit, seinen Vorsatz auszuführen. Aber er muss lernen, dass auch das Martyrium nicht heroische Leistung ist, sondern Gnade des Leiden könnens für Jesus. Er muss vom Heroismus der eigenen Taten Abschied nehmen und die Demut des Jüngers erlernen. Sein Wille zum Dreinschlagen, sein Heroismus, endet mit der Verleugnung. Um sich den Platz im Vorhof des hohenpriesterlichen Palastes zu sichern und möglichst auf dem neuesten Stand über das Geschick Jesu zu bleiben, behauptet er, Ihn nicht zu kennen. Sein Heroismus ist in kleinlicher Taktik zusammengebrochen.
Er muss lernen, auf seine Stunde zu warten; er muss das Warten, das Weitergehen lernen. Er muss den Weg der Nachfolge erlernen, um dann zu seiner Stunde dahin geführt zu werden, wohin er nicht wollte (Joh 21,18) und die Gnade des Martyrium zu empfangen.
Im Grunde geht es in beiden Gesprächsrunden um das Gleiche: Nicht Gott vorzuschreiben, was Er zu tun hat, sondern Ihn annehmen zu lernen, wie Er Sich uns zeigt; nicht sich selbst auf die Höhe Gottes schwingen zu wollen, sondern in der Demut des Dienstes langsam zurechtgeformt zu werden zum wirklichen Ebenbild Gottes.
10.04.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil XII)
Zwei Gespräche mit Petrus Bei Judas begegnet uns die alle Zeiten durchziehende Gefahr, dass auch jemand, „der die Erleuchtung empfing, von der himmlischen Gabe genossen und Anteil am Heiligen Geist erhalten hat“ (Hebr 6,4), durch eine Reihe von scheinbar kleinen Weisen der Untreue seelisch verfällt und so am Ende aus dem Licht hinweg in die Nacht geht und nicht mehr der Umkehr fähig ist. In Petrus begegnet uns eine andere Weise der Gefährdung, ja, des Falles, der aber nicht zum Abfall wird und so in der Umkehr geheilt werden kann. Joh 13 erzählt uns von zwei Gesprächsgängen zwischen Jesus und Petrus, in denen zwei Seiten der Gefahr sichtbar werden. Zunächst will Petrus sich nicht von Jesus die Füße waschen lassen. Das widerspricht seiner Vorstellung von dem Verhältnis zwischen Meister und Jünger, es widerspricht seinem Bild vom Messias, Den er in Jesus erkannt hat. Sein Widerstand gegen die Fußwaschung bedeutet im Grunde dasselbe wie seine Einrede gegen die Leidensankündigung Jesu nach dem Bekenntnis bei Caesarea Philippi: „Das sei ferne: Das darf nicht mit dir geschehen“, hatte er damals gesagt (Mt 16,22). Nun sagt er aus der gleichen Sicht heraus: „In Ewigkeit sollst Du mir nicht die Füße waschen“ (Joh 13,8). Es ist die die ganze Geschichte durchziehende Antwort an Jesus: Du bist doch der Sieger. Du hast doch die Macht. Deine Erniedrigung, deine Demut darf nicht sein. Und immer wieder muss Jesus uns neu zu erkennen helfen, dass die Macht Gottes anders ist, dass der Messias durch Leiden hindurch in die Herrlichkeit eingehen und in die Herrlichkeit führen muss.
09.04.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil XII)
Johannes gibt uns keine psychologische Deutung für das Tun des Judas; der einzige Anhaltspunkt, den er uns bietet, besteht in dem Hinweis, Judas habe als Schatzmeister des Jüngerkreises dessen Geld veruntreut (12,6). In unserem Kontext sagt der Evangelist nur lakonisch: „Als Judas den Bissen Brot genommen hatte, fuhr der Satan in ihn“ (13,27). Was mit Judas geschehen ist, ist für Johannes nicht mehr psychologisch erklärbar. Er ist unter die Herrschaft eines anderen geraten: Wer die Freundschaft mit Jesus zerbricht, Sein „süßes Joch“ abwirft, der kommt nicht ins Freie und wird nicht frei, sondern verfällt anderen Mächten – oder vielmehr: Dass er diese Freundschaft verrät, kommt schon vom Zugriff einer anderen Macht, der er sich geöffnet hat. Das Licht, das von Jesus her in die Seele des Judas gefallen war, war freilich nicht ganz erloschen. Es gibt einen Anlauf zur Bekehrung: „Ich habe gesündigt“, sagt er zu seinen Auftraggebern. Er versucht, Jesus zu retten, und gibt das Geld zurück (Mt 27,3ff). Alles Reine und Große, das er von Jesus empfangen hatte, blieb seiner Seele eingeschrieben – er konnte es nicht vergessen. Seine zweite Tragödie – nach dem Verrat – ist es, dass er nicht mehr an Vergebung zu glauben vermag. Seine Reue wird zur Verzweiflung. Er sieht nur noch sich und seine Finsternis, nicht mehr das Licht Jesu, das auch die Finsternis erhellen und überwinden kann. So zeigt er uns die falsche Weise von Reue: Reue, die nicht mehr hoffen kann, sondern nur noch das eigene Dunkel sieht, ist zerstörerisch und ist keine rechte Reue. Zur rechten Reue gehört die Hoffnungsgewissheit, die aus dem Glauben an die größere Macht des Lichtes kommt, das in Jesus Fleisch geworden ist.
Johannes schließt den Abschnitt über Judas dramatisch mit den Worten: „Als Judas den Bissen genommen hatte, ging er sofort hinaus. Es war aber Nacht“ (13,30). Judas geht hinaus – in einem tieferen Sinn. Er geht in die Nacht, er geht vom Licht fort ins Dunkel; die „Macht der Finsternis“ hat ihn ergriffen (vgl. Joh 3,19; Lk 22,53).
08.04.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil XI)
So, wie die Antwort Jesu an dieser Stelle steht, ist sie völlig eindeutig. Aber der Evangelist lässt uns wissen, dass die Jünger dennoch nicht verstanden, wer gemeint war.So dürfen wir annehmen, dass Johannes aus der Rückschau der Antwort des Herrn eine Eindeutigkeit gegeben hat, die sie im Augenblick für die Anwesenden nicht hatte. Vers 18 führt uns da auf die rechte Spur. Hier sagt Jesus: „Das Schriftwort muss sich erfüllen: Einer, der Mein Brot aß, hat Mich verraten“ (vgl. Ps 41,10; Ps 55,14). Das ist die klassische Art, wie Jesus spricht: Mit Worten aus der Schrift deutet Er auf Sein Geschick hin und ordnet es so zugleich in die Logik Gottes, in die Logik der Heilsgeschichte ein.
Im Nachhinein werden diese Worte völlig transparent; es zeigt sich, dass die Schrift wirklich Seinen Weg beschreibt – aber im Augenblick bleibt das Rätsel. Zunächst geht daraus nur hervor, dass es einer der Tischgenossen ist, der Jesus verrät; es zeigt sich, dass der Herr bis zum Ende und bis in die Einzelheiten hinein das Leidensgeschick des Frommen durchstehen muss, das vor allem in den Psalmen in vielfältiger Weise erscheint. Jesus muss das Nicht-Verstehen, die Treulosigkeit bis in den innersten Freundeskreis hinein erfahren und so „die Schrift erfüllen“. Er erweist Sich als das wahre Subjekt der Psalmen, als der „David“, von dem sie kommen und durch den sie Sinn gewinnen. Johannes hat dem von Jesus als Prophetie über Seinen eigenen Weg aufgegriffenem Psalmwort dadurch eine neue Dimension hinzugefügt, dass er an der Stelle des von der griechischen Bibel gebrauchten Ausdrucks für „essen“ das Wort trōgein wählt, mit dem Jesus in seiner großen Brotrede das „Essen“ Seines Fleisches und Blutes, also den Empfang des eucharistischen Sakramentes, bezeichnet hatte (Joh 6,54 – 58). So wirft das Psalmwort seinen Schatten voraus in die Eucharistie feiernde Kirche seiner Zeit wie aller Zeiten: Mit dem Verrat des Judas ist das Erleiden des Treubruchs nicht zu Ende gegangen. „Auch Mein Freund, dem Ich vertraute, der Mein Brot aß, hat Mich hintergangen“ (Ps 41,10). Der Bruch der Freundschaft reicht in die Kommuniongemeinschaft der Kirche hinein, wo immer wieder Menschen „Sein Brot“ nehmen und Ihn verraten. Das Leiden Jesu, der Kampf mit dem Tod, dauert bis ans Ende der Welt, hat Blaise Pascal von solchen Einsichten her geschrieben (vgl. Pensées VII 553). Wir können auch umgekehrt sagen: Den Verrat aller Zeiten, das Leid des Verratenseins aller Zeiten, hat Jesus in dieser Stunde auf Sich genommen und die Not der Geschichte bis auf ihren Grund durchgestanden.
07.04.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil X)
Das Geheimnis des Verräters
Die Fußwaschungs-Perikope konfrontiert uns mit zwei unterschiedlichen Formen der Reaktion des Menschen auf diese Gabe: Judas und Petrus. Gleich nach der Rede vom Beispiel kommt Jesus auf den Fall des Judas zu sprechen. Johannes sagt uns darüber, dass Jesus im Innersten erschüttert wurde und bekräftigte: „Amen, amen, das sage Ich euch: Einer von euch wird Mich verraten“ (13,21). Johannes spricht dreimal von der „Erschütterung“ Jesu: am Grab des Lazarus (11,33.38), am „Palmsonntag“ nach dem Wort vom gestorbenen Weizenkorn in einer Szene, die an die Ölbergstunde erinnert (12,24 – 27), und schließlich hier. Es sind Augenblicke, in denen Jesus der Majestät des Todes begegnet und von der Macht der Finsternis berührt wird, mit der zu ringen und die zu überwinden Sein Auftrag ist. Wir werden auf diese „Erschütterung“ der Seele Jesu zurückkommen, wenn wir die Nacht auf dem Ölberg bedenken. Kehren wir zu unserem Text zurück. Die Ankündigung des Verrats ruft begreiflicherweise unter den Jüngern Erregung und zugleich Neugierde hervor. „Einer von den Jüngern lag an der Seite Jesu; es war der, den Jesus liebte. Simon Petrus nickte ihm zu, er solle fragen, von wem Jesus spreche. Da lehnte sich dieser zurück an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist es? Jesus antwortete: Der ist es, dem Ich den Bissen Brot, den Ich eintauche, geben werde“ (13,23ff). Zum Verständnis dieses Textes ist zunächst zu beachten, dass für das Pascha-Mahl das Zu-Tische-Liegen vorgeschrieben war. Charles K. Barrett erklärt den eben zitierten Vers so: „Die Teilnehmer an einem Mahl lagen auf ihrer linken Seite; der linke Arm wurde dazu genommen, den Körper zu stützen, der rechte war frei zum Gebrauch. Der Jünger zur Rechten Jesu hatte so sein Haupt unmittelbar vor Jesus, und man konnte deshalb entsprechend sagen, er lag an Seinem Busen. Offensichtlich war er in der Lage, vertraulich mit Jesus zu sprechen, aber sein Platz war nicht der höchste Ehrenplatz; dieser war zur Linken des Gastgebers. Der Platz, den der Lieblingsjünger einnahm, war nichtsdestoweniger der Platz eines vertrauten Freundes“; Barrett macht dabei auf eine parallele Schilderung bei Plinius aufmerksam (a. a. O., S. 437).
06.04.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil IX)
Augustinus hatte seine Auslegung der Bergpredigt – sein erster Predigtzyklus nach der Priesterweihe – in der Tat mit dem Gedanken des höheren Ethos, der höheren und reineren Normen begonnen. Aber im Lauf der Predigten verlagert sich der Schwerpunkt immer mehr. Er muss mehrmals sagen, dass auch die alte Forderung schon eine wirkliche Vollkommenheit bedeutete. Immer deutlicher tritt an die Stelle des höheren Anspruchs die Bereitung des Herzens (vgl. De serm. Dom. in monte I 19,59); immer mehr wird das „reine Herz“ (Mt 5,8) zum Auslegungszentrum. Über die Hälfte des ganzen Predigtzyklus ist unter dem Grundgedanken des gereinigten Herzens gestaltet. So wird der Zusammenhang mit der Fußwaschung überraschend sichtbar: Nur indem wir uns immer wieder vom Herrn Selbst waschen, „rein machen“ lassen, können wir lernen, mit Ihm zu tun, was Er getan hat. Auf die Einfügung unseres Ich in das Seinige („nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“, Gal 2,20) kommt es an. Deswegen ist das zweite, in der Auslegung der Bergpredigt bei Augustinus immer wiederkehrende Stichwort misericordia – Barmherzigkeit. Wir müssen uns in die Barmherzigkeit des Herrn eintauchen lassen, dann wird auch unser „Herz“ den rechten Weg finden. Das „neue Gebot“ ist nicht einfach eine neue, höhere Forderung; es ist an die Neuheit Jesu Christi – an das wachsende Eingetaucht sein in Ihn – gebunden. Auf dieser Linie fortfahrend, konnte Thomas von Aquin sagen: „Das neue Gesetz ist die Gnade des Heiligen Geistes“ (S. theol. I–II q. 106 a. 1) – nicht eine neue Norm, sondern die von Gottes Geist Selbst geschenkte neue Innerlichkeit. Diese geistliche Erfahrung des wahrhaft Neuen am Christentum konnte Augustinus schließlich in der berühmten Formel zusammenfassen: „Da quod iubes et iube quod vis – gib, was Du befiehlst, dann befiehl, was Du willst“ (Conf. X 29,40).
Die Gabe – das sacramentum – wird zum exemplum, zum Beispiel, und bleibt doch immer Gabe. Christsein ist zuerst Gabe, die sich aber in der Dynamik des Mitlebens und Mittuns mit der Gabe entfaltet.
05.04.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil VIII)
Die Aufforderung zu tun, was Jesus getan hat, ist nicht ein moralistischer Anhang ans Mysterium oder gar ein Gegensatz zu ihm. Sie folgt aus der inneren Dynamik der Gabe, mit der der Herr uns zu neuen Menschen macht, uns in das Seinige aufnimmt. Diese wesentliche Dynamik der Gabe, durch die Er nun selbst in uns wirkt und unser Wirken mit dem Seinigen eins wird, erscheint besonders deutlich in dem Wort Jesu: „Wer an Mch glaubt, wird die Werke, die Ich vollbringe, auch vollbringen, und er wird noch größere vollbringen, denn Ich gehe zum Vater“ (Joh 14,12). Hier ist genau das ausgedrückt, was mit dem Wort „ein Beispiel habe Ich euch gegeben“ in der Fußwaschung gemeint ist: Jesu Handeln wird zu unserem, weil Er selbst in uns handelt. Von da aus ist dann auch die Rede vom „neuen Gebot“ zu verstehen, mit der Jesus nach dem Zwischenstück über den Verrat des Judas noch einmal den Auftrag zur gegenseitigen Fußwaschung aufgreift und ins Grundsätzliche ausweitet (13,34f). Worin besteht das Neue des neuen Gebotes? Weil hier letztlich die Neuheit des Neuen Testaments ins Spiel kommt, also die Frage nach dem „Wesen des Christentums“, ist es wichtig, sehr sorgsam zuzuhören. Man hat gesagt, das Neue – über das schon bestehende Gebot der Nächstenliebe hinaus – zeige sich in dem Wort „Lieben, wie Ich euch geliebt habe“, also lieben bis zur Bereitschaft, das eigene Leben für den anderen zu opfern. Wenn darin das Eigentliche und Ganze des „neuen Gebotes“ läge, wäre Christentum nun doch als eine Art von äußerster moralischer Anstrengung zu definieren. So wird ja weithin auch die Bergpredigt ausgelegt: Gegenüber dem alten Weg der Zehn Gebote, der sozusagen den Weg des Durchschnittsmenschen bezeichne, eröffne das Christentum mit der Bergpredigt den Höhenweg einer radikalen Forderung, in der sich eine neue Stufe der Humanität in der Menschheit gezeigt habe. Aber wer darf eigentlich von sich sagen, dass er sich über den „Durchschnitt“ des Weges der Zehn Gebote erhoben, sie sozusagen als selbstverständlich hinter sich gelassen habe und nun auf Höhenwegen im „neuen Gesetz“ wandle? Nein, in der Höhe moralischer Leistung kann das eigentlich Neue des neuen Gebotes nicht bestehen. Das Wesentliche ist gerade auch in diesen Worten nicht der Appell an die äußerste Leistung, sondern die neue Grundlage des Seins, die uns geschenkt wird. Das Neue kann nur aus der Gabe des Mitseins mit Christus und des Inseins in ihm kommen.
04.04.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil VII)
Sacramentum und exemplum – Gabe und Auftrag: Das „neue Gebot“
Kehren wir zurück zum 13. Kapitel des Johannes-Evangeliums. „Ihr seid rein“, sagt Jesus zu Seinen Jüngern. Das Geschenk der Reinheit ist eine Tat Gottes. Der Mensch kann sich nicht selbst gottfähig machen, welche Art von Reinigungssystemen er auch immer befolgt. „Ihr seid rein“ – in diesem wunderbar einfachen Wort Jesu ist das Große des Christusgeheimnisses irgendwie zusammenfassend ausgesagt. Der zu uns absteigende Gott macht uns rein. Die Reinheit ist Geschenk. Aber da erhebt sich ein Einwand. Wenige Verse später sagt Jesus: „Wenn nun Ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie Ich an euch gehandelt habe“ (Joh 13,14f). – Sind wir damit nicht doch bei einer bloß moralischen Auffassung des Christentums angelangt? In der Tat spricht zum Beispiel Rudolf Schnackenburg von zwei einander entgegenstehenden Deutungen der Fußwaschung im 13. Kapitel: Die erste, „die theologisch tiefere … versteht die Fußwaschung als ein zeichenhaftes Geschehen, das auf den Tod Jesu hinweist; die zweite ist rein paradigmatischer Art und haftet an dem Demutsdienst Jesu, der in der Fußwaschung selbst liegt“ (Johannesevangelium III, S. 7). Schnackenburg hält dafür, dass es sich bei der zweiten Deutung um eine „Bildung der Redaktion“ handle, zumal nach ihm „die zweite Deutung von der ersten nichts zu wissen scheint“ (S. 12; vgl. S. 28). Aber das ist zu eng, zu sehr nach dem Schema unserer westlichen Logik gedacht. Für Johannes gehören das Geschenk Jesu und Sein Weiterwirken in den Jüngern zusammen. Die Väter haben den Unterschied der beiden Aspekte wie ihre gegenseitigen Beziehungen in den Kategorien von sacramentum und exemplum zusammengefasst: Mit sacramentum meinen sie da nicht ein bestimmtes einzelnes Sakrament, sondern das ganze Mysterium Christi – Seines Lebens und Sterbens –, in dem Er auf uns Menschen zugeht, in uns durch Seinen Geist eintritt, uns umgestaltet. Aber eben weil dieses sacramentum den Menschen wirklich „reinigt“, ihn von innen her erneuert, wird es auch zur Dynamik neuer Existenz.
03.04.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil VI)
Erneut drängt sich der Vergleich mit den platonischen Philosophien der Spätantike auf, die – wie wiederum etwa bei Plotin – um das Thema der Reinigung kreisen. Diese Reinigung wird einerseits durch Riten, andererseits, und vor allem, durch den allmählichen Aufstieg des Menschen in die Höhe Gottes gewonnen. Der Mensch reinigt sich darin vom Materiellen, wird Geist und so rein. Im christlichen Glauben dagegen ist es gerade der fleischgewordene Gott, Der uns wahrhaft rein macht und die Schöpfung in die Einheit mit Gott hineinzieht. Die Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts hat dann den Begriff der Reinheit wieder vereinseitigt, ihn immer mehr auf die Frage der Ordnung im sexuellen Bereich hin verengt und damit auch wieder mit dem Verdacht gegen das Materielle, gegen den Leib belastet. In dem verbreiteten Suchen der Menschheit nach Reinheit zeigt uns das Johannes-Evangelium – zeigt uns Jesus Selbst – den Weg: Er, Der Gott ist und Mensch zugleich, macht uns gottfähig. Das Stehen in Seinem Leib, das Durchdrungen werden von Seiner Gegenwart ist das Wesentliche. Vielleicht ist es gut, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Umgestaltung des Begriffs der Reinheit in der Botschaft Jesu noch einmal zeigt, was wir im 2. Kapitel über das Ende der Tieropfer, über den Kult und den neuen Tempel gesehen haben. Wie die alten Opfer ein wartender Ausgriff nach Kommendem waren, ihr Licht und ihre Würde von dem Kommenden empfingen, auf das sie zugehen wollten, so ist auch das rituelle Reinigungswesen, das diesem Kult zugehörte, mit ihm – wie die Väter sagen würden – „sacramentum futuri“: eine Etappe in der Geschichte Gottes mit den Menschen, der Menschen mit Gott, die auf das Künftige hin öffnen wollte, aber zurücktreten musste, als die Stunde des Neuen gekommen war.
02.04.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil V)
Der Glaube reinigt das Herz. Er kommt aus der Zuwendung Gottes zum Menschen. Er ist nicht einfach ein eigener Entschluss der Menschen. Er kommt zustande, weil Menschen von innen her durch Gottes Geist berührt werden, der ihnen das Herz öffnet und es rein macht. Johannes hat dieses große Thema der Reinigung, das in der Petrus-Rede nur kurz anklingt, im Fußwaschungs-Bericht und unter dem Stichwort „Heiligung“ im Hohepriesterlichen Gebet Jesu aufgenommen und vertieft. „Ihr seid schon rein durch das Wort, das Ich zu euch gesagt habe“, versichert Jesus Seinen Jüngern in der Weinstock-Rede (15,3). Es ist Sein Wort, das in sie eindringt, ihr Denken und Wollen, ihr „Herz“ umgestaltet und es so öffnet, dass es ein sehendes Herz wird. Beim Bedenken des Hohepriesterlichen Gebets werden wir der gleichen, freilich etwas anders gewendeten Sicht wieder begegnen, wenn wir dort die Bitte Jesu finden: „Heilige sie in der Wahrheit“ (17,17). „Heiligen“ heißt in der priesterlichen Terminologie: kultfähig machen. Das Wort bezeichnet die rituellen Handlungen, die der Priester vollziehen muss, bevor er vor Gott hintritt. „Heilige sie in der Wahrheit“ – die Wahrheit ist nun das „Bad“, das den Menschen gottfähig macht, so lässt uns Jesus hier verstehen. In sie muss der Mensch eingetaucht werden, damit er von dem Schmutz frei wird, der ihn von Gott trennt. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Johannes nicht einen abstrakten Begriff von Wahrheit vor Augen hat, sondern darum weiß, dass Jesus in Person die Wahrheit ist. Im 13. Kapitel des Evangeliums erscheint die Fußwaschung durch Jesus als Weg der Reinigung. Noch einmal wird das Gleiche ausgesagt und doch wiederum in einer anderen Perspektive. Das Bad, das uns reinigt, ist die bis in den Tod hineingehende Liebe Jesu. Jesu Wort ist nicht nur Wort, Er ist es selbst. Und Sein Wort ist die Wahrheit und ist die Liebe.
Im Grunde ist es durchaus das Gleiche, was Paulus in einer für uns schwerer verständlichen Form ausdrückt, wenn er sagt: „Wir sind durch Sein Blut gerecht gemacht“ (Röm 5,9; vgl. Röm 3,25; Eph 1,7 u. a.). Es ist wiederum das Gleiche, was der Hebräer-Brief in seiner großen Vision vom Hohepriestertum Jesu dargestellt hat. An die Stelle der rituellen Reinheit ist nicht einfach die Moral getreten, sondern das Geschenk der Begegnung mit Gott in Jesus Christus.
01.04.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil IV)
„Ihr seid rein“
In dem Abschnitt über die Fußwaschung kommt das Wort „rein“ dreimal vor. Johannes greift damit einen Grundbegriff der religiösen Tradition des Alten Testaments wie der Welt der Religionen überhaupt auf. Damit der Mensch vor Gott hintreten, Gemeinschaft mit Gott haben kann, muss er „rein“ sein. Je mehr er aber ins Licht kommt, desto mehr fühlt er sich verschmutzt und der Reinigung bedürftig. Die Religionen haben darum Systeme der „Reinigung“ geschaffen, die dem Menschen den Zutritt zu Gott ermöglichen sollen. In den Kultordnungen aller Religionen spielen die Reinigungsvorschriften eine große Rolle: Sie geben dem Menschen eine Vorstellung von der Heiligkeit Gottes wie auch von seinem eigenen Dunkel, von dem er befreit werden muss, um Gott nahekommen zu können. Das System der kultischen Reinigungen beherrschte im observanten Judentum der Zeit Jesu das ganze Leben. Im 7. Kapitel des Markus-Evangeliums begegnen wir Jesu grundsätzlicher Auseinandersetzung mit diesem Begriff der kultischen Reinheit, die durch rituelle Vollzüge hergestellt wird; Paulus hatte sich in seinen Briefen immer wieder mit dieser Frage der „Reinheit“ vor Gott auseinanderzusetzen. Bei Markus sehen wir die radikale Wende, die Jesus dem Begriff der Reinheit vor Gott gegeben hat: Nicht rituelle Handlungen reinigen. Reinheit und Unreinheit ereignen sich im Herzen des Menschen und hängen vom Zustand seines Herzens ab (Mk 7,14 – 23). Aber sofort erhebt sich die Frage: Wie wird das Herz rein? Wer sind die Menschen des reinen Herzens, die Gott schauen können (Mt 5,8)? Die liberale Exegese hat gesagt, Jesus habe den rituellen Begriff von Reinheit durch deren moralische Auffassung ersetzt: An die Stelle des Kultes und seiner Welt trete die Moral. Dann wäre Christentum wesentlich Moral, eine Art moralischer Aufrüstung. Aber damit wird man der Neuheit des Neuen Testaments nicht gerecht. Dieses wirklich Neue klingt auf, wenn Petrus in der Apostelgeschichte zu der Einrede christusgläubig gewordener Pharisäer Stellung nimmt, die fordern, die Heidenchristen müssten beschnitten werden und „am Gesetz des Mose festhalten“. Petrus erklärt darauf: Gott habe Seine Entscheidung Selbst getroffen, „dass die Heiden das Wort des Evangeliums hören und zum Glauben gelangen sollten … Er macht keinen Unterschied zwischen uns und ihnen; denn Er hat ihre Herzen durch den Glauben gereinigt“ (15,5 – 11).
31.03.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil III)
Hören wir nun dem Evangelisten weiter zu: Jesus „stand vom Mahl auf, legte Sein Obergewand ab und umgürtete Sich mit einem Leinentuch. Dann goss Er Wasser in die Schüssel und begann, den Jüngern die Füße zu waschen und mit dem Leinentuch zu trocknen, mit dem Er umgürtet war“ (Joh 13,4f). Jesus tut an Seinen Jüngern den Dienst eines Sklaven, er „erniedrigt Sich selbst“ (Phil 2,7). Was der Philipper-Brief in seinem großen Christus-Hymnus sagt – dass Christus in der Gegengebärde zu Adam, der versucht hatte, aus Eigenem nach der Gottheit zu greifen, umgekehrt aus Seiner Gottheit heraus absteigt ins Menschsein, „Knechtsgestalt annahm“ und gehorsam wurde bis zum Tod am Kreuz –, das ist hier in einer einzigen Gebärde sichtbar gemacht. Jesus stellt in einer Zeichenhandlung das Ganze seines Heilsdienstes dar. Er entkleidet Sich Seines göttlichen Glanzes, Er kniet Sich sozusagen vor uns nieder, Er wäscht und trocknet unsere schmutzigen Füße, um uns tischfähig zu machen für Gottes Hochzeitsmahl. Wenn sich in der Apokalypse die paradoxe Formulierung findet, die Geretteten hätten ihre Gewänder „im Blut des Lammes weiß gewaschen“ (Offb 7,14), so will dies sagen, dass es die bis ans Ende gehende Liebe Jesu ist, die uns reinigt, uns wäscht. Die Gebärde der Fußwaschung drückt eben dies aus: Es ist die dienende Liebe Jesu, die uns aus unserem Hochmut herauszieht und uns gottfähig, „rein“ macht.
30.03.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil II)
Die „Stunde“ Jesu ist die Stunde des großen Überschritts, der Verwandlung, und diese Umschmelzung des Seins kommt durch die Agape. Sie ist Agape „bis ans Ende“ – womit Johannes an dieser Stelle vor-verweist auf das letzte Wort des Gekreuzigten: „Es ist vollendet – tetélestai“ (19,30). Dieses Ende (télos), diese Totalität des Sich-Gebens, der Umschmelzung des ganzen Seins, ist eben das Sich-Schenken bis in den Tod hinein. Wenn Jesus hier wie mehrmals im Johannes-Evangelium von Seinem Ausgegangen sein vom Vater und von Seiner Rückkehr zu Ihm spricht, könnte man sich an das antike Schema von exitus und reditus, von Ausgang und Rückkehr, erinnert fühlen, wie es besonders in der Philosophie Plotins ausgearbeitet ist. Dennoch ist das von Johannes dargestellte Ausgehen und Zurückkehren etwas ganz anderes als das, was in dem philosophischen Schema gemeint ist. Denn bei Plotin wie bei seinen Nachfolgern ist das „Ausgehen“, das dort anstelle des göttlichen Schöpfungsaktes steht, ein Abstieg, der schließlich zum Abfall wird: von der Höhe des „Einen“ herunter in immer niedrigere Zonen des Seins. Die Rückkehr besteht dann in der Reinigung vom Materiellen, in einem allmählichen Aufstieg und in Reinigungen, die das Niedrige wieder abstreifen und schließlich in die Einheit des Göttlichen zurückführen. Das Ausgehen Jesu hingegen setzt zunächst einmal schon die Schöpfung nicht als Abfall, sondern als positiven Willensakt Gottes voraus. Es ist dann ein Prozess der Liebe, die gerade im Absteigen ihr wahres Wesen erweist – aus Liebe zum Geschöpf, aus Liebe zum verlorenen Schaf – und so im Absteigen das wahrhaft Göttliche offenbart. Und der heimkehrende Jesus streift nicht Seine Menschheit wie etwas Verunreinigendes wieder ab. Das Ziel Seines Abstiegs war das Annehmen und Aufnehmen der ganzen Menschheit, das Heimkehren mit allen Menschen – die Heimkehr von „allem Fleisch“. Neues geschieht in dieser Heimkehr: Jesus kehrt nicht allein zurück. Er streift das Fleisch nicht ab, sondern zieht alle in Sich hinein (Joh 12,32). Die Metabasis gilt dem Ganzen. Wenn im 1. Kapitel des Johannes-Evangeliums gesagt ist, dass die „Seinigen“ (ídioi) Ihn nicht annahmen (1,11), so hören wir nun, dass Er die „Seinigen“ bis ans Ende liebt (13,1). Im Abstieg hat Er neu die „Seinigen“ – die große Familie Gottes – gesammelt, sie aus Fremden zu „Seinigen“ gemacht.
29.03.2021
3. Kapitel: Die Fußwaschung (Teil I)
Nach den Lehrreden Jesu, die dem Bericht von Seinem Einzug in Jerusalem folgen, nehmen die synoptischen Evangelien den Erzählfaden mit einer präzisen Datierung wieder auf, die zum Letzten Abendmahl hinführt. Markus sagt zunächst, zu Beginn des 14. Kapitels: „Es war zwei Tage vor dem Pascha und dem Fest der Ungesäuerten Brote“ (14,1), berichtet dann von der Salbung in Bethanien sowie vom Verrat des Judas und fährt daraufhin fort: „Am ersten Tag des Festes der Ungesäuerten Brote, an dem man das Pascha-Lamm schlachtete, sagten die Jünger zu Jesus: Wo sollen wir das Pascha-Mahl für dich vorbereiten?“ (14,12). Johannes sagt demgegenüber allgemein: „Es war vor dem Pascha-Fest … Es fand ein Mahl statt …“ (13,1f). Das Mahl, von dem Johannes berichtet, findet „vor dem Pascha-Fest“ statt, während die Synoptiker das Letzte Mahl als Pascha-Mahl darstellen und somit von einer gegenüber Johannes um einen Tag verschiedenen Zeitrechnung auszugehen scheinen. Auf die vieldiskutierten Fragen dieser unterschiedlichen Chronologien und ihrer theologischen Bedeutung werden wir zurückkommen müssen, wenn wir das Letzte Mahl Jesu und die Stiftung der Eucharistie bedenken.
Die Stunde Jesu
Bleiben wir einstweilen bei Johannes, der in seinem Bericht über den letzten Abend Jesu mit seinen Jüngern vor dem Leiden zwei ganz eigene Akzente setzt: Er erzählt uns zunächst, wie Jesus Seinen Jüngern den Sklavendienst der Fußwaschung tut; im Zusammenhang damit schildert er auch die Vorhersage vom Verrat des Judas und von der Verleugnung des Petrus. Der zweite Aspekt besteht in den Abschiedsreden Jesu, die ihren Höhepunkt im Hohepriesterlichen Gebet erreichen. Diesen beiden Schwerpunkten soll nun unsere Aufmerksamkeit gehören. „Es war vor dem Pascha-Fest. Jesus wusste, dass Seine Stunde gekommen war, um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen. Da Er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, liebte Er sie bis ans Ende“ (13,1). Mit dem Letzten Mahl ist die „Stunde“ Jesu gekommen, auf die Sein Wirken von Anfang an zugegangen war (2,4). Das Wesentliche dieser Stunde wird von Johannes mit zwei Grundworten benannt: Es ist die Stunde des „Hinübergehens“ (metabaínein / metábasis); es ist die Stunde der bis ans Ende reichenden Liebe (agápē). Die beiden Begriffe erklären sich gegenseitig, sind untrennbar voneinander. Die Liebe selbst ist der Prozess des Übergangs, der Verwandlung, des Heraustretens aus den Schranken des todverfallenen Menschseins, in dem wir alle voneinander getrennt und letztlich undurchdringlich füreinander sind – in einer Andersheit, die wir nicht überschreiten können. Es ist die Liebe bis ans Ende, die die unmöglich scheinende „Metabasis“ bewirkt: das Herausgehen aus den Schranken der geschlossenen Individualität, das eben die Agape ist – den Durchbruch ins Göttliche.
28.03.2021
2. Kapitel: Die eschatologische Rede Jesu (Teil XIX)
3 Prophetie und Apokalypse in der eschatologischen Rede
Die alten apokalyptischen Worte erhalten eine personalistische Mitte: In ihr Zentrum rückt die Person Jesu Selbst, die die gelebte Gegenwart und die geheimnisvolle Zukunft ineinander verknüpft. Das eigentliche „Ereignis“ ist die Person, in der im Vergehen der Zeit wirklich Gegenwart bleibt. In dieser Person ist das Künftige jetzt da. Die Zukunft wird uns letztlich in keine andere Situation stellen, als sie im Begegnen mit Jesus schon gegeben ist. So wird durch die Zentrierung der kosmischen Bilder in einer Person, in einer jetzt gegenwärtigen und gekannten Person, der kosmische Kontext sekundär, und auch die Zeitfrage verliert an Gewicht: Die Person „ist“ im Ablauf der physikalisch messbaren Dinge, sie hat ihre eigene „Zeit“, sie „bleibt“. Diese Relativierung des Kosmischen, oder besser: dessen Zentrierung ins Personale hinein, zeigt sich besonders deutlich im Schlusswort des apokalyptischen Teils: „Himmel und Erde werden vergehen, aber Meine Worte werden nicht vergehen“ (Mk 13,31). Das Wort, gegenüber der gewaltigen Macht des unermesslichen materiellen Kosmos wie ein Nichts, ein Hauch des Augenblicks in der schweigenden Größe des Alls – das Wort ist wirklicher und beständiger als die ganze materielle Welt. Es ist die eigentliche, die verlässliche Wirklichkeit: der Boden, auf den wir uns stellen können und der auch bei der Verfinsterung der Sonne und dem Einsturz des Firmaments hält. Die kosmischen Elemente vergehen; das Wort Jesu ist das wirkliche „Firmament“, unter dem der Mensch stehen und bestehen kann. Diese personalistische Zentrierung, ja Umwandlung der apokalyptischen Visionen, die doch der inneren Richtung der alttestamentlichen Bilder entspricht, ist das eigentlich Spezifische in den Worten Jesu über das Weltende: das, worauf es dabei ankommt. Von da aus können wir auch verstehen, was es bedeutet, dass Jesus nicht das Weltende beschreibt, sondern es mit schon gegebenen Worten des Alten Testaments ankündigt. Das Sprechen mit Worten der Vergangenheit über Künftiges entzeitlicht diese Reden. Es handelt sich nicht um eine neu gefundene Beschreibung des Kommenden, wie man sie von Hellsehern erwartet, sondern es geht darum, die Schau auf das Kommende einzufügen in das schon geschenkte Wort Gottes, dessen Beständigkeit einerseits und dessen offene Potentialitäten andererseits sich so zeigen. Es wird klar, dass das damalige Wort Gottes die Zukunft in ihrer wesentlichen Bedeutung erhellt. Aber es gibt keine Beschreibung dieses Künftigen, sondern zeigt uns nur heute für jetzt und für morgen den rechten Weg. Die apokalyptischen Worte Jesu haben nichts mit Hellseherei zu tun. Sie wollen uns gerade von der äußeren Neugier auf das Anzuschauende abbringen (vgl. Lk 17,20) und zum Wesentlichen führen: zum Leben auf dem Boden des Wortes Gottes, das Jesus uns schenkt; zur Begegnung mit Ihm, dem lebendigen Wort; zur Verantwortung vor dem Richter der Lebenden und der Toten.
27.03.2021
2. Kapitel: Die eschatologische Rede Jesu (Teil XVIII)
3 Prophetie und Apokalypse in der eschatologischen Rede
Ein weiteres wichtiges Element der eschatologischen Rede Jesu ist der Hinweis auf die bevorstehenden Verfolgungen der Seinigen. Auch hier ist die Zeit der Heiden vorausgesetzt, denn der Herr spricht nicht nur davon, dass Seine Jünger vor Gerichte und Synagogen gestellt würden, sondern auch vor Statthalter und Könige (Mk 13,9): Die Verkündigung des Evangeliums wird immer im Zeichen des Kreuzes stehen – das ist es, was die Jünger Jesu in allen Generationen neu erlernen müssen. Das Kreuz ist und bleibt das Zeichen „des Menschensohnes“: Wahrheit und Liebe haben letztlich im Kampf gegen die Lüge und die Gewalt keine andere Waffe als das Zeugnis des Leidens. Kommen wir nun zum eigentlich apokalyptischen Teil der eschatologischen Rede Jesu: zur Ankündigung von Ende der Welt, Wiederkunft des Menschensohnes und allgemeinem Gericht (Mk 13,24 – 27). Daran ist auffällig, dass dieser Text weitgehend aus Worten des Alten Testaments, besonders aus dem Buch Daniel, aber auch aus Ezechiel, Jesaja und anderen Texten der Schrift gewoben ist. Diese Texte stehen ihrerseits in Zusammenhang untereinander: Alte Bilder werden in bedrängenden Situationen neu gelesen und weiter entfaltet; innerhalb des Buches Daniel selbst kann man einen solchen Prozess von Neulesungen der gleichen Worte in der weitergehenden Geschichte beobachten. Jesus stellt sich in diesen Prozess der „Relecture“ hinein, und von da aus ist es auch zu verstehen, dass die gläubige Gemeinde – wie wir schon kurz bedacht hatten – ihrerseits die Jesus-Worte in ihre neuen Situationen hinein weiterlas, freilich so, dass dabei die Grundbotschaft bleiben musste. Aber dass Jesus dieses Kommende nicht Selber schildert, sondern mit alten Prophetenworten neu ankündigt, hat eine tiefer reichende Bedeutung. Zuerst freilich müssen wir auf das achten, was das Neue ist: Der kommende Menschensohn, von dem Daniel (7,13f) gesprochen hatte, ohne Ihm persönliche Züge geben zu können, ist nun identisch mit dem jetzt zu den Jüngern redenden Menschensohn.
26.03.2021
2. Kapitel: Die eschatologische Rede Jesu (Teil XVII)
3 Prophetie und Apokalypse in der eschatologischen Rede
Als ein Nebenthema haben wir die Aufforderung an die Christen zur Flucht aus Jerusalem im Augenblick einer nicht näher beschriebenen Tempelschändung gefunden. An der Geschichtlichkeit dieser Flucht ins transjordanische Pella kann nicht ernstlich gezweifelt werden. Dieses für uns eher am Rande liegende Detail hat doch eine nicht zu unterschätzende theologische Bedeutung: Die Nichtbeteiligung an der kriegerischen Verteidigung des Tempels, die den heiligen Ort selbst zur Festung und zum Schauplatz grausamer militärischer Aktionen machte, entspricht genau der Linie, die Jeremia zur Zeit der Belagerung Jerusalems durch die Babylonier eingeschlagen hatte (vgl. z. B. Jer 7,1 – 15; 38,14 – 28). Joachim Gnilka macht aber vor allem auf den Zusammenhang dieser Haltung mit dem Kern von Jesu Botschaft aufmerksam: „Dass die Jerusalemer Christusgläubigen sich am Krieg beteiligten, ist höchst unwahrscheinlich. Das palästinensische Christentum hat die Bergpredigt Jesu überliefert. Sie müssen also die Gebote Jesu der Feindesliebe und des Gewaltverzichts gekannt haben. Auch wissen wir, dass sie an der Revolte zur Zeit Kaiser Hadrians nicht teilnahmen …“ (Nazarener, S. 69). Ein weiteres wesentliches Element der eschatologischen Rede Jesu ist die Warnung vor Pseudo-Messiassen und vor apokalyptischer Schwärmerei. Damit verbunden ist die Aufforderung zur Nüchternheit und zur Wachsamkeit, die Jesus in einer Reihe von Gleichnissen, besonders in der Parabel von den klugen und törichten Jungfrauen (Mt 25,1 – 13) wie in den Worten vom wachsamen Türhüter (Mk 13,33 – 36), weiter entfaltet hat. Gerade diese Worte zeigen deutlich, was mit „Wachsamkeit“ gemeint ist: nicht Aussteigen aus der Gegenwart, Spekulation auf die Zukunft, Vergessen des jetzigen Auftrags – im Gegenteil: Sie bedeutet, hier und jetzt das Rechte zu tun, wie man es unter den Augen Gottes tun sollte. Matthäus und Lukas überliefern das Gleichnis von dem Knecht, der die Verzögerung der Wiederkunft seines Herrn feststellt und nun, da der Herr abwesend scheint, sich selbst zum Herrn aufwirft, die Knechte und Mägde schlägt, sich dem Wohlleben überlässt. Der gute Knecht bleibt Knecht, er weiß sich in der Verantwortung. Er teilt allen das Rechte zu, und er wird vom Herrn gelobt, weil er so handelt: Das Tun der Gerechtigkeit ist die wahre Wachsamkeit (vgl. Mt 24,45 – 51; Lk 12,41 – 46). Wachsam sein heißt: sich jetzt unter den Augen Gottes wissen und so handeln, wie man es unter seinen Augen tut. Drastisch und konkret hat Paulus im Zweiten Thessalonicher-Brief seinen Adressaten gesagt, worin christliche Wachsamkeit besteht: „Als wir bei euch waren, haben wir euch die Regel eingeprägt: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Wir hören aber, dass einige von euch ein unordentliches Leben führen und alles Mögliche treiben, nur nicht arbeiten. Wir ermahnen sie und gebieten ihnen im Namen Jesu Christi, des Herrn, in Ruhe ihrer Arbeit nachzugehen und ihr selbstverdientes Brot zu essen“ (3,10ff).
25.03.2021
2. Kapitel: Die eschatologische Rede Jesu (Teil XVI)
3 Prophetie und Apokalypse in der eschatologischen Rede
Versuchen wir, bevor wir zu dem im engeren Sinn apokalyptischen Teil der Rede Jesu kommen, einen Überblick zu gewinnen über das, was uns bisher begegnet ist. Da finden wir als Erstes die Ankündigung der Tempelzerstörung und bei Lukas auch ausdrücklich der Zerstörung Jerusalems. Es ist aber deutlich geworden, dass der Kern der Vorhersage Jesu nicht auf die äußeren Kriegs- und Zerstörungshandlungen zielt, sondern auf das heilsgeschichtliche Ende des Tempels, der zum „verlassenen Haus“ wird: Er hört auf, der Ort der Gegenwart Gottes und die Entsühnungsstätte Israels, ja der Welt zu sein. Die Zeit der Opfer, wie sie das Gesetz Moses geregelt hatte, ist vorbei. Wir haben gesehen, dass sich die werdende Kirche lange vor dem äußeren Ende des Tempels dieser tiefen Wendung der Geschichte bewusst war und dass bei allen schwierigen Auseinandersetzungen darüber, was von den jüdischen Gebräuchen beibehalten und auch für die Heiden verbindlich werden müsse, über diesen Punkt offenbar kein Dissens bestand: Mit dem Kreuz Christi war die Zeit der Opfer zu Ende. Des Weiteren haben wir gesehen, dass zum Kern der eschatologischen Botschaft Jesu die Ankündigung einer Zeit der Völker gehört, in der das Evangelium in die ganze Welt und zu allen Menschen getragen werden muss: Erst dann kann die Geschichte an ihr Ziel kommen. In der Zwischenzeit behält Israel seine eigene Sendung. Es steht in den Händen Gottes, der es zur rechten Zeit „als Ganzes“ retten wird, wenn die Zahl der Heiden voll ist. Dass man die geschichtliche Erstreckung dieser Periode nicht abschätzen konnte, ist offenkundig und auch nicht verwunderlich. Aber dass die „Evangelisierung der Heiden“ nun zur eigentlichen Aufgabe der Jünger geworden war, wurde immer deutlicher – vor allem dank des besonderen Auftrags, mit dem sich Paulus beladen und begnadet wusste. Von da aus versteht sich nun auch, dass diese „Zeit der Heiden“ noch nicht eigentlich messianische Zeit im Sinn der großen Heilsverheißungen, sondern eben noch Zeit dieser Geschichte und ihrer Leiden, aber in neuer Weise auch Zeit der Hoffnung ist: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe“ (Röm 13,12). Es scheint mir offenkundig, dass mehrere Gleichnisse Jesu – das Gleichnis vom Netz mit den guten und schlechten Fischen (Mt 13,47 – 50), das Gleichnis vom Unkraut auf dem Acker (Mt 13,24 – 30) – von dieser Zeit der Kirche sprechen; in der rein naheschatologischen Perspektive ergeben sie keinen Sinn.
24.03.2021
2. Kapitel: Die eschatologische Rede Jesu (Teil XV)
2 Die Zeit der Heiden
Eine neue Besinnung kann aber doch erkennen, dass bei allen Verdunklungen immer wieder Ansätze des rechten Verstehens zu finden sind. Ich möchte hier auf das verweisen, was Bernhard von Clairvaux seinem Schüler Papst Eugen III. zu diesem Punkt mit auf den Weg gegeben hat. Er erinnert den Papst daran, dass ihm nicht nur die Sorge für die Christen aufgetragen ist, sondern: Du bist „auch der Schuldner der Ungläubigen, der Juden, der Griechen und Heiden“ (De cons. III/I,2). Gleich darauf aber verbessert er sich und präzisiert: „Zugegeben, hinsichtlich der Juden entschuldigt dich die Zeit, für sie ist ein bestimmter Zeitpunkt festgelegt, dem man nicht vorgreifen kann. Die Heiden müssen in voller Zahl vorausgehen. Doch was sagst du bezüglich der Heiden selbst? … Was kam deinen Vorgängern in den Sinn, dass sie … die Glaubensverkündigung unterbrachen, solange der Unglaube noch verbreitet ist? Aus welchem Grund … ist das rasch dahineilende Wort zum Stillstand gekommen?“ (De cons. III/I,3, zit. nach Winkler I, S. 707). Hildegard Brem kommentiert diese Stelle so: „Im Anschluss an Röm 11,25 muss sich die Kirche nicht um die Bekehrung der Juden bemühen, da der von Gott dafür festgesetzte Zeitpunkt, ‚bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben’ (Röm 11,25), abgewartet werden muss. Im Gegenteil, die Juden sind selbst eine lebendige Predigt, auf die die Kirche hinweisen muss, da sie das Leiden des Herrn vergegenwärtigen …“ (Winkler I, S. 834). Die Ankündigung der Zeit der Heiden und der darin enthaltene Auftrag ist ein Kernstück der eschatologischen Botschaft Jesu. Der besondere Auftrag zur Heidenmission, den Paulus vom Auferstandenen empfangen hat, ist fest verankert in der Botschaft, die Jesus vor seinem Leiden seinen Jüngern übergab. Die Zeit der Heiden – „die Zeit der Kirche“ –, die, wie wir gesehen haben, Überlieferungsgut aller Evangelien ist, stellt ein wesentliches Element der eschatologischen Botschaft Jesu dar.
23.03.2021
2. Kapitel: Die eschatologische Rede Jesu (Teil XIV)
2 Die Zeit der Heiden
Inhaltlich wird sichtbar, dass alle drei Synoptiker von einer Zeit der Heiden wissen: Das Ende der Zeiten kann erst kommen, wenn das Evangelium zu allen Völkern getragen ist. Die Zeit der Heiden – die Zeit der Kirche aus den Völkern der Welt – ist keine Erfindung des heiligen Lukas; sie ist gemeinsames Überlieferungsgut aller Evangelien. An dieser Stelle stoßen wir wieder auf den Zusammenhang zwischen der Tradition der Evangelien und den grundlegenden Motiven der paulinischen Theologie. Wenn Jesus in der eschatologischen Rede sagt, dass zuerst das Evangelium den Völkern verkündet werden muss und erst dann das Ende kommen kann, so finden wir genau dasselbe bei Paulus im Römer-Brief: „Verstockung liegt auf einem Teil Israels, bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben; dann wird ganz Israel gerettet werden …“ (11,25f). Die Vollzahl der Heiden und ganz Israel: In dieser Formel erscheint der Universalismus des göttlichen Heilswillens. In unserem Zusammenhang aber ist wichtig, dass auch Paulus um die Zeit der Heiden weiß, die jetzt ist und erfüllt werden muss, damit Gottes Plan an sein Ziel gelangt. Dass sich die frühe Christenheit keine chronologisch angemessene Vorstellung von der Dauer dieser kairoí („Zeiten“) der Heiden machen konnte und sie sich gewiss eher kurz vorgestellt hat, ist letztlich sekundär. Das Wesentliche liegt in der grundsätzlichen Aussage und Ansage einer solchen Zeit, die von den Jüngern ohne Kalkulation über ihre Dauer zuallererst als Auftrag verstanden werden musste und verstanden wurde: jetzt das Angekündigte und Geforderte zu tun, das Evangelium zu allen Völkern zu bringen. Die Rastlosigkeit, mit der Paulus unterwegs zu den Völkern war, um zu allen die Botschaft zu tragen, möglichst noch in seiner eigenen Lebenszeit den Auftrag zu erfüllen – diese Rastlosigkeit erklärt sich nur aus dem Wissen um die geschichtliche und eschatologische Bedeutung der Verkündigung: „Ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde“ (1 Kor 9,16). Insofern ist die Dringlichkeit der Evangelisierung in der apostolischen Generation weniger von der Frage nach der individuellen Heilsnotwendigkeit der Kenntnis des Evangeliums für jeden Einzelnen bestimmt als vielmehr von dieser großen Geschichtskonzeption her: Damit die Welt ans Ziel kommt, muss das Evangelium zu allen Völkern kommen. Das Empfinden für diese Dringlichkeit hat sich in manchen Geschichtsperioden erheblich abgeschwächt, ist aber auch immer wieder aufgeflammt und zu neuer Dynamik der Evangelisierung geworden. Dabei steht stets auch die Frage nach der Sendung Israels im Hintergrund. Wir sehen heute mit Erschütterung, wie viele folgenschwere Missverständnisse hier die Jahrhunderte belastet haben.
22.03.2021
2. Kapitel: Die eschatologische Rede Jesu (Teil XIII)
2 Die Zeit der Heiden
Bei einem oberflächlichen Lesen oder Hören der eschatologischen Rede Jesu muss der Eindruck entstehen, Jesus habe das Ende Jerusalems chronologisch ganz unmittelbar mit dem Weltende verknüpft, besonders wenn bei Matthäus steht: „Sofort nach den Tagen der großen Not wird sich die Sonne verfinstern … Danach wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen …“ (24,29f). Diese direkte chronologische Verkettung zwischen dem Ende Jerusalems und dem Ende der Welt als Ganzer scheint sich zusätzlich zu bestätigen, wenn man wenige Verse später die Worte findet: „Amen, Ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles eintrifft …“ (24,34). Auf den ersten Blick scheint es, dass nur Lukas diesen Zusammenhang abgemildert hat. Bei ihm lesen wir: „Mit scharfem Schwert wird man sie erschlagen, als Gefangene wird man sie in alle Länder verschleppen, und Jerusalem wird von den Heiden zertreten werden, bis die Zeiten der Heiden sich erfüllen“ (21,24). Zwischen die Zerstörung Jerusalems und das Ende der Welt schieben sich „die Zeiten der Heiden“ ein. Man hat Lukas vorgeworfen, er habe damit die zeitliche Achse der Evangelien und der ursprünglichen Botschaft Jesu verschoben, aus dem Ende der Zeit die Zeit der Mitte gemacht und so die Zeit der Kirche als neue Phase der Heilsgeschichte erfunden. Aber wenn man genau hinsieht, entdeckt man, dass diese „Zeiten der Heiden“ mit anderen Worten und an einer anderen Stelle der Rede Jesu auch bei Matthäus und Markus angekündigt sind. Bei Matthäus finden wir das folgende Herrenwort: „Aber dieses Evangelium vom Reich wird auf der ganzen Welt verkündet werden, damit alle Völker es hören; dann erst kommt das Ende“ (24,14). Bei Markus steht: „Vor dem Ende aber muss allen Völkern das Evangelium verkündet werden“ (13,10). Das zeigt uns zunächst, dass man mit den Verknüpfungen innerhalb dieser Rede Jesu sehr behutsam sein muss; die Rede ist aus einzelnen Überlieferungsstücken zusammengefügt, die nicht einfach einen linearen Ablauf darstellen, sondern gleichsam ineinander gelesen werden müssen. Auf diese redaktionelle Frage, die für das rechte Verstehen des Textes von großer Bedeutung ist, werden wir im dritten Punkt („Prophetie und Apokalypse …“) ausführlicher zurückkommen.
21.03.2021
2. Kapitel: Die eschatologische Rede Jesu (Teil XII)
1 Das Ende des Tempels
Dies alles ist für uns heute schwer zu verstehen; wir werden bei der Behandlung des Letzten Abendmahls und des Kreuzestodes Jesu ausführlich darauf zurückkommen und uns um Verstehen mühen müssen. Hier ging es eigentlich nur darum, zu zeigen, dass Paulus die Aufhebung des Tempels und seiner Opfertheologie in die Christologie hinein bereits vollständig vollzogen hat. Der Tempel mit seinem Kult ist für Paulus in der Kreuzigung Christi „abgebrochen“; an seiner Stelle steht nun die lebendige Bundeslade des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Wenn wir mit Ulrich Wilckens annehmen dürfen, dass Röm 3,25 eine „judenchristliche Glaubensformel“ ist (I/3, S. 182), dann sehen wir, wie früh diese Einsicht in der Christenheit gereift war – dass diese von Anfang an wusste: Der Auferstandene ist der neue Tempel, der wirkliche Berührungsort zwischen Gott und Mensch. Wilckens kann daher auch mit Recht sagen: „Christen haben wohl von Anfang an am Tempelkult schlicht nicht teilgenommen … Die Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. war daher für Christen kein eigenes religiöses Problem“ (II/1, S. 31). So wird aber auch sichtbar, dass die große theologische Vision des Hebräer-Briefs nur im Einzelnen ausfaltet, was im Kern schon bei Paulus gesagt ist und was Paulus selber wiederum in seinem wesentlichen Gehalt schon in der vorliegenden kirchlichen Überlieferung vorfand. Wir werden später sehen, dass das Hohepriesterliche Gebet Jesu auf seine Weise im gleichen Sinn das Geschehen des Versöhnungstages und damit die Mitte der alttestamentlichen Erlösungstheologie neu auslegt und im Kreuz erfüllt sieht.
20.03.2021
2. Kapitel: Die eschatologische Rede Jesu (Teil XI)
1 Das Ende des Tempels
Der wichtigste Text findet sich im Brief an die Römer (3,23ff): „Alle haben gesündigt und entbehren der Herrlichkeit Gottes. Sie werden umsonst in Seiner Gnade gerechtfertigt durch die Erlösung in Christus Jesus. Ihn hat Gott öffentlich als Sühne aufgestellt, die kraft Seines Blutes durch Glauben (ergriffen wird) zum Erweis Seiner Gerechtigkeit, so dass er die zuvor begangenen Sünden dahingehen ließ.“ Das Wort, das hier mit „Sühne“ übersetzt ist, lautet im Griechischen hilastērion, im Hebräischen kapporät. Damit wurde die Deckplatte der Bundeslade bezeichnet. Sie ist der Ort, über dem in einer Wolke JHWH erscheint, der Ort der geheimnisvollen Gegenwart Gottes. Dieser heilige Ort wird beim Versöhnungsfest – dem Jom ha-Kippurim (vgl. Lev 16) – mit dem Blut des als Sündopfer getöteten Stiers besprengt, „dessen Leben so stellvertretend für das verwirkte Leben der menschlichen Sünder Gott anheimgegeben wird“ (Wilckens II/1, S. 235). Der Gedanke dabei ist, dass das Opferblut, in das alle menschlichen Sünden aufgenommen sind, die Gottheit Selbst berührt, so gereinigt wird und dabei die Menschen, für die dieses Blut steht, durch die Berührung mit Gott gereinigt werden: ein in seiner Größe und zugleich in seiner Unzulänglichkeit erschütternder Gedanke, der nicht das letzte Wort der Religionsgeschichte, nicht das letzte Wort der Glaubensgeschichte Israels bleiben konnte. Wenn Paulus das Wort hilastērion auf Jesus überträgt, Ihn als den Verschluss der Bundeslade und so als Ort der Gegenwart des lebendigen Gottes bezeichnet, dann wird die ganze alttestamentliche Kulttheologie (und mit ihr die Kulttheologien der Religionsgeschichte überhaupt) „aufgehoben“ und auf eine ganz neue Höhe gebracht. Jesus selbst ist die Gegenwart des lebendigen Gottes. In Ihm berühren sich Gott und Mensch, Gott und die Welt. In Ihm geschieht das, was mit dem Ritus des Versöhnungstages gemeint war: In Seiner Hingabe am Kreuz legt Jesus gleichsam alle Schuld der Welt in die Liebe Gottes hinein und löst sie darin auf. Hintreten zum Kreuz, in Gemeinschaft treten mit Christus bedeutet das Eintreten in den Raum der Verwandlung und der Entsühnung.
19.03.2021
2. Kapitel: Die eschatologische Rede Jesu (Teil X)
1 Das Ende des Tempels
Die theologische Vision zu Ende zu führen und von ihr her die Kirche der Heiden aufzubauen, fiel einem anderen zu: Paulus, der als Saulus dem Mord an Stephanus zugestimmt hatte (vgl. Apg 8,1). Es ist nicht Sache dieses Buches, Grundlinien der paulinischen Theologie oder auch nur seiner Auffassung über Kult und Tempel darzustellen. Es geht hier nur darum, dass die werdende Christenheit lange vor der äußeren Zerstörung des Tempels davon überzeugt war, dass dessen heilsgeschichtliche Stunde zu Ende sei – wie Jesus es mit dem Wort vom „verlassenen Haus“ und mit Seiner Rede vom neuen Tempel angesagt hatte. Das große Ringen des heiligen Paulus beim Aufbau der Kirche aus den Heiden, des „gesetzesfreien“ Christentums, bezieht sich freilich nicht auf den Tempel. Der Streit mit den verschiedenen Gruppierungen des Judenchristentums kreist um die grundlegenden „Gebräuche“, in denen sich die jüdische Identität ausdrückte: Beschneidung, Sabbat, Speisegebote, Reinheitsgesetze. Während über die Frage der Heilsnotwendigkeit dieser „Gebräuche“ auch unter den Christen ein dramatischer Kampf ausgetragen wurde, der schließlich zur Verhaftung des Apostels in Jerusalem führte, ist seltsamerweise von einem Streit um den Tempel und um die Notwendigkeit seiner Opfer nirgendwo eine Spur zu finden, und dies, obwohl gemäß dem Bericht der Apostelgeschichte „auch eine große Zahl von Priestern gehorsam den Glauben annahm“ (6,7). Dennoch hat Paulus diese Frage nicht ausgelassen: Dass im Kreuz Jesu Christi alle Opfer erfüllt sind, dass in ihm geschehen ist, was die Intention aller Opfer gewesen war – Entsühnung –, und dass so Jesus Selbst an die Stelle des Tempels getreten, Selber der neue Tempel ist – das steht, im Gegenteil, im Zentrum Seiner Lehre. Ein kurzer Hinweis mag genügen.
18.03.2021
2. Kapitel: Die eschatologische Rede Jesu (Teil IX)
1 Das Ende des Tempels
Für die neue theologische Synthese, die das heilsgeschichtliche Ende des Tempels in Tod und Auferstehung Jesu bereits vor der äußeren Zerstörung des Tempels geschehen sieht, stehen zwei große Namen: Stephanus und Paulus. Stephanus gehört in der Jerusalemer Urgemeinde der Gruppe der „Hellenisten“ zu, einer Gruppe griechisch sprechender Judenchristen, die in ihrer neuen Art, das Gesetz auszulegen, das paulinische Christentum vorbereiteten. Die große Rede, mit der nach dem Bericht der Apostelgeschichte Stephanus seine neue Sicht der Heilsgeschichte darzustellen versuchte, bricht an der entscheidenden Stelle ab. Der Zorn seiner Gegner ist bereits aufs Äußerste gesteigert und entlädt sich in der Steinigung des Verkünders. Aber worum es eigentlich ging, ist in der Darstellung der Anklage ganz klar ausgesprochen, die dem Synedrium vorgelegt wurde: „Wir haben ihn nämlich sagen hören: Dieser Jesus, der Nazaräer, wird diesen Ort (d. h. den Tempel) zerstören und die Bräuche ändern, die uns Mose überliefert hat“ (Apg 6,14). Es geht um Jesu Wort vom Ende des steinernen Tempels und von dem ganz anderen neuen Tempel, das Stephanus sich zugeeignet und offenbar in die Mitte seiner Verkündigung gestellt hat. Auch wenn wir die theologische Vision des heiligen Stephanus nicht im Einzelnen rekonstruieren können, so ist doch ihr Wesentliches klar: Die Zeit des steinernen Tempels und seines Opferkultes ist vorbei. Denn Gott selbst hat gesagt: „Der Himmel ist Mein Thron und die Erde der Schemel für Meine Füße. Was für ein Haus könnt ihr Mir bauen? Oder welcher Ort kann Mir als Ruhestätte dienen? Hat nicht Meine Hand dies alles gemacht?“ (Apg 7,49f; vgl. Jes 66,1f). Stephanus kennt die Kultkritik der Propheten. Für ihn ist mit Jesus die Zeit der Tempelopfer und so auch die Zeit des Tempels selber vorbei; die Prophetenworte treten nun in ihr volles Recht. Neues hat begonnen, in dem sich das eigentlich Ursprüngliche erfüllt. Leben und Botschaft des heiligen Stephanus sind Fragment geblieben, das jählings mit der Steinigung abbricht, die freilich zugleich seine Botschaft und sein Leben erfüllt: In seiner Passion ist er eins geworden mit Christus. Der Prozess wie das Sterben ähnelt der Passion Jesu. Wie der gekreuzigte Herr, so betet auch er sterbend: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ (Apg 7,60).
17.03.2021
2. Kapitel: Die eschatologische Rede Jesu (Teil VIII)
1 Das Ende des Tempels
Aber nun stellt sich ganz entschieden die Frage: Wie hat Jesus selbst das gesehen? Und wie haben die Christen ihn verstanden? Wie weit die einzelnen Details der eschatologischen Rede Jesu auf Sein eigenes Wort zurückgehen, brauchen wir hier nicht zu untersuchen. Dass Er das Ende des Tempels – und zwar sein theologisches, heilsgeschichtliches Ende – vorausgesagt hat, steht außer Zweifel. Dafür bürgt neben der eschatologischen Rede vor allem der Spruch vom leer gelassenen Haus, von dem wir ausgegangen sind (Mt 23,37f; Lk 13,34f), und das Wort der Falschzeugen im Prozess Jesu (Mt 26,61; 27,40; Mk 14,58; 15,29; Apg 6,14), das als Spottwort unter dem Kreuz wiederkehrt und bei Johannes in der rechten Fassung im Mund Jesu Selber wiedergegeben ist (2,19). Jesus hatte den Tempel als Eigentum des Vaters geliebt (Lk 2,49) und gern in ihm gelehrt. Er hat Ihn als Haus des Gebets für alle Völker verteidigt und ihn dafür zu bereiten versucht. Aber Er wusste auch, dass die Zeit dieses Tempels vorbei war und dass Neues kommen würde, das mit Seinem Tod und Seiner Auferstehung zusammenhing. Die werdende Kirche musste diese weithin geheimnisvollen Wortsplitter Jesu, Seine Worte über den Tempel und vor allem über Kreuz und Auferstehung, zusammenhören und zusammenlesen, um in ihnen schließlich das Ganze zu erkennen, das Jesus hatte sagen wollen. Dies war keine leichte Aufgabe, aber sie wurde von Pfingsten an in Angriff genommen, und wir dürfen sagen, dass alle wesentlichen Elemente der neuen Synthese in der paulinischen Theologie bereits vor dem äußeren Ende des Tempels gefunden waren. Über das Verhältnis der frühesten Gemeinde zum Tempel sagt uns die Apostelgeschichte: „Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel; das Brot brachen sie in ihren Häusern und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfachheit des Herzens“ (2,46). Es werden also zwei Lebensorte der werdenden Kirche genannt: Für Predigt und Gebet trifft man sich im Tempel, den sie weiterhin als Haus des Gotteswortes und des Betens ansieht und annimmt; das Brotbrechen – die neue „kultische“ Mitte der Existenz der Gläubigen – geschieht dagegen in den Häusern als den Orten der Versammlung und der Gemeinsamkeit vom auferstandenen Herrn her. Auch wenn noch keine ausdrückliche Distanzierung von den gesetzlichen Opfern vorgenommen ist, so zeichnet sich doch eine wesentliche Unterscheidung ab. Was bislang die Opfer gewesen waren, wird abgelöst durch das „Brotbrechen“. Hinter diesem schlichten Wort aber verbirgt sich der Hinweis auf das Vermächtnis des Letzten Abendmahles, auf die Gemeinschaft im Leib des Herrn – auf Seinen Tod und auf Seine Auferstehung.
16.03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die eschatologische Rede Jesu (Teil VII)
1 Das Ende des Tempels
Es gibt zwei Antworten auf diese Situation – zwei Weisen, das Alte Testament nach 70 neu zu lesen: die Lektüre mit Christus, von den Propheten her, und die rabbinische Lektüre. Von den jüdischen Strömungen zur Zeit Jesu überlebte nur der Pharisäismus, der in der Rabbinenschule von Jamnia ein neues Zentrum fand und seine besondere Weise erarbeitete, in der Zeit ohne Tempel das Alte Testament von der Tora als Zentrum her zu lesen und zu deuten. Erst von da an sprechen wir von „Judentum“ im eigentlichen Sinn als einer Weise, den Kanon der biblischen Schriften als Offenbarung Gottes anzusehen und zu lesen ohne die konkrete Welt des Tempelkultes. Diesen Kult gibt es nicht mehr. Insofern hat auch der Glaube Israels nach 70 eine neue Gestalt angenommen. Wir erkennen es nach Jahrhunderten des Gegeneinanders als unsere Aufgabe, dass diese beiden Weisen der neuen Lektüre der biblischen Schriften – die christliche und die jüdische – miteinander in Dialog treten müssen, um Gottes Willen und Wort recht zu verstehen. Rückblickend hat Gregor von Nazianz († ca. 390) vom Ende des Jerusalemer Tempels her so etwas wie eine Periodisierung der Religionsgeschichte versucht. Er spricht von der Geduld Gottes, Der dem Menschen nichts Unverständliches auferlegt: Gott verfährt wie ein guter Erzieher oder ein Arzt. Er schafft langsam gewisse Bräuche ab, duldet andere und führt so den Menschen voran. „Es ist keine leichte Sache, geltende und seit langem in Verehrung stehende Bräuche zu ändern … Was will Ich denn sagen? Das erste Testament unterdrückte die Götzen, duldete aber die Opfer. Das zweite machte den Opfern ein Ende, untersagte aber nicht die Beschneidung. War dann die Unterdrückung (dieses Brauchs) einmal angenommen, so verzichteten (die Menschen) auf das, was nur geduldet war“ (zit. nach Barbel, S. 261 / 263). In der Perspektive des Kirchenvaters erscheinen auch die Opfer, die von der Tora vorgesehen sind, nur als Duldung – als eine Etappe auf dem Weg zur wahren Gottesverehrung, als ein Vorläufiges, über das der Weg hinausführen musste und über das Christus hinausgeführt hat.
15.03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die eschatologische Rede Jesu (Teil VI)
1 Das Ende des Tempels
In diesem ganzen Drama, das leider exemplarisch für so viele Tragödien der Geschichte steht, gibt es ein zentrales heilsgeschichtliches Ereignis, das einen Einschnitt von weitreichenden Folgen auch für die ganze Religions- und Menschheitsgeschichte überhaupt bedeutet: Am 5. August des Jahres 70 „musste aus Hungersnot und Materialmangel das tägliche Opfer im Tempel eingestellt werden“ (Mittelstaedt, S. 78). Nun war zwar auch nach der Zerstörung des Tempels durch Nebukadnezar 587 v. Chr. das Opferfeuer für rund 70 Jahre erloschen; ein zweites Mal war zwischen 166 und 164 v. Chr. unter dem hellenistischen Herrscher Antiochus IV. der Tempel entweiht und der Opferdienst für den einen Gott durch Opfer an Zeus ersetzt worden. Aber beide Male war der Tempel neu erstanden und der von der Tora vorgeschriebene Kult wieder aufgenommen worden. Die Zerstörung des Jahres 70 war endgültig; versuchte Wiederherstellungen des Tempels unter den Kaisern Hadrian beim Aufstand des Bar Kochba (132 – 135 n. Chr.) und Julian (361) scheiterten. Der Aufstand Bar Kochbas hatte im Gegenteil zur Folge, dass Hadrian dem jüdischen Volk verbot, das Gebiet in und um Jerusalem zu betreten. An Stelle der Heiligen Stadt errichtete der Kaiser eine neue, die nun Aelia Capitolina hieß und dem Jupiter Capitolinus ihren Kult darbrachte. „Erst Kaiser Konstantin erlaubte im vierten Jahrhundert den Juden, einmal im Jahr, am … Jahrestag der Zerstörung Jerusalems, die Stadt zu besuchen, um an der Tempelmauer zu trauern“ (Gnilka, Nazarener, S. 72). Für das Judentum musste das Erlöschen des Opfers, die Zerstörung des Tempels, eine furchtbare Erschütterung sein. Tempel und Opfer stehen im Zentrum der Tora. Nun gab es keine Entsühnung mehr in der Welt, nichts mehr, das gegen ihre weiter wachsende Verschmutzung durch das Böse ein Gegengewicht sein konnte. Und: Gott, Der Seinen Namen auf den Tempel gelegt hatte, also geheimnisvoll in ihm wohnte, hatte diese seine Wohnstatt auf der Erde verloren. Wo war der Bund? Wo die Verheißung? Eines ist klar: Die Bibel – das Alte Testament – musste neu gelesen werden. Das sadduzäische, ganz an den Tempel gebundene Judentum hat diese Katastrophe nicht überlebt, und auch Qumran, das zwar gegen den herodianischen Tempel stand, aber einen erneuerten Tempel erwartete, ist aus der Geschichte verschwunden.
14.03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die eschatologische Rede Jesu (Teil V)
1 Das Ende des Tempels
Es mag aber doch nützlich sein, den Text wiederzugeben, in dem Mittelstaedt den grausamen Ablauf des Dramas zusammenfasst: „Das Ende des Tempels vollzieht sich in drei Schritten: Zuerst die Einstellung des regelmäßigen Opfers, wodurch das Heiligtum nur noch Festung ist, dann die ihrerseits dreistufige Inbrandsetzung … Und schließlich die Schleifung der Ruine nach dem Fall der Stadt. Die entscheidenden Zerstörungen … geschehen durch Feuer; die darauffolgenden Schleifungen sind nur noch ein Nachspiel … Wer … überlebte und auch nicht nachträglich an Hungerschäden oder Seuchen starb, den erwarteten Zirkus, Bergwerk oder Sklaverei“ (S. 84f). Die Zahl der Toten wird von Flavius Josephus auf 1. 100. 000 beziffert (De bello Jud. VI 420). Orosius (Hist. adv. pag. VII 9,7) und ähnlich Tacitus (Hist. V 13) sprechen von 600.000 Toten. Mittelstaedt meint, diese Zahlen seien übertrieben und man müsse realistisch von etwa 80.000 Toten ausgehen (S. 83). Wer die ganzen Berichte mit ihrem Ausmaß an Mord, Massakern, Plünderungen, Brandschatzungen, Hunger, Leichenschändungen, Zerstörung der Umwelt (im Umkreis von 18 Kilometern alles abgeholzt und kahlgeschlagen) liest, der kann verstehen, dass Jesus – ein Wort aus dem Buch Daniel (12,1) aufgreifend – dazu sagt: „Denn jene Tage werden eine Not bringen, wie es noch nie eine gegeben hat, seit Gott die Welt erschuf, und wie es auch keine mehr geben wird“ (Mk 13,19). Bei Daniel folgt auf diesen Drohspruch ein Wort der Verheißung: „Doch dein Volk wird in jener Zeit gerettet, jeder, der im Buch verzeichnet ist“ (12,1). Auch in der Rede Jesu hat das Grauen nicht das letzte Wort: Die Tage werden abgekürzt, die Erwählten gerettet. Gott lässt dem Bösen und den Bösen ein großes – nach unserem Gefühl übergroßes – Maß an Freiheit; dennoch entgleitet die Geschichte seinen Händen nicht.
13 03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die eschatologische Rede Jesu (Teil IV)
1 Das Ende des Tempels
Alexander Mittelstaedt weist darauf hin, dass im Sommer 66 neben Joseph ben Gorion der Althohepriester Hannas II. zum leitenden Strategen für den Krieg gewählt wurde – jener Hannas, der kurz zuvor, im Jahr 62 n. Chr., den Tod des „Herrenbruders“ und Leiters der judenchristlichen Gemeinschaft, Jakobus, verfügt hatte (Lukas als Historiker, S. 68). Diese Wahl konnte von den Judenchristen durchaus als Signal zum Aufbruch aufgefasst werden, auch wenn das selbstverständlich nur eine Hypothese unter vielen darstellen kann. Die Flucht der Judenchristen zeigt auf jeden Fall noch einmal mit aller Deutlichkeit das Nein der Christen zur zelotischen Auslegung der biblischen Botschaft und der Gestalt Jesu: Ihre Hoffnung ist anderer Art. Kehren wir zum Verlauf des Jüdischen Krieges zurück. Vespasian, der von Nero mit der Operation beauftragt worden war, stellte alle militärischen Aktionen ein, als im Jahre 68 der Tod des Kaisers gemeldet wurde. Nach einem kurzen Zwischenspiel wurde am 1. Juli 69 Vespasian selbst zum neuen Kaiser proklamiert. So übertrug er seinem Sohn Titus den Auftrag der Eroberung Jerusalems. Nach Flavius Josephus muss dieser ziemlich genau zur Zeit des Pascha-Festes, am 14. Tag des Monats Nisan, also am 40. Jahrestag der Kreuzigung Jesu, vor der Heiligen Stadt eingetroffen sein. Tausende Pilger strömten nach Jerusalem. Johannes von Gischala, einer der rivalisierenden Führer des Aufstands, schmuggelte bewaffnete Kämpfer, als Pilger verkleidet, in den Tempel, wo sie ein Gemetzel mit den Anhängern des Gegenspielers Eleazar ben Simon begannen und so ein weiteres Mal das Heiligtum mit dem Blut Unschuldiger besudelt wurde (Mittelstaedt, S. 72). Doch war dies nur ein erster Vorgeschmack der unvorstellbaren Grausamkeiten, die sich nun mit einer wachsenden Brutalität entwickelten, in der der Fanatismus der einen und die zunehmende Wut der anderen sich gegenseitig hochsteigerten. Die Details der Eroberung und Zerstörung von Stadt und Tempel brauchen wir hier nicht zu behandeln.
12 03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die eschatologische Rede Jesu (Teil III)
1 Das Ende des Tempels
Bevor wir uns aber erneut den Worten Jesu zuwenden, müssen wir einen Blick auf die historischen Ereignisse des Jahres 70 werfen. Im Jahr 66 hatte mit der Vertreibung des Prokurators Gessius Florus und der erfolgreichen Abwehr eines römischen Gegenangriffs der Jüdische Krieg begonnen, der freilich nicht nur ein Krieg der Juden gegen die Römer, sondern weithin immer auch wieder ein Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden jüdischen Strömungen und deren Anführern gewesen ist. Erst dies hat dem Kampf um Jerusalem seine volle Schrecklichkeit gegeben. Eusebius von Caesarea († um 339) und – mit anderen Wertungen – Epiphanius von Salamis († 403) berichten uns, dass schon vor dem Beginn der Belagerung Jerusalems die Christen ins Ostjordanland, in die Stadt Pella, geflohen seien. Nach Eusebius entschlossen sie sich zur Flucht, nachdem ihren „Bewährten“ durch eine Offenbarung ein entsprechender Auftrag geworden war (Hist. Eccl. III/5). Epiphanius hingegen schreibt: „Christus hatte ihnen gesagt, sie sollten Jerusalem verlassen und wegziehen, weil es belagert werden würde“ (Haer. 29,8). In der Tat lesen wir in der eschatologischen Rede Jesu eine Anweisung zur Flucht: „Wenn ihr aber den Greuel der Verwüstung an dem Ort stehen seht, wo er nicht stehen darf … dann sollen die Bewohner Judäas in die Berge fliehen …“ (Mk 13,14). In welchem Vorgang oder in welcher Realität die Christen dieses Zeichen des „unheilvollen Greuels“ gegeben sahen und sich zum Aufbruch entschlossen, lässt sich nicht ausmachen. Aber es gab in jenen Jahren des Jüdischen Krieges Ereignisse genug, die man als dieses von Jesus angekündigte Zeichen deuten konnte, dessen sprachliche Form dem Buch Daniel entnommen ist (Dan 9,27; 11,31; 12,11) und dort die hellenistische Entweihung des Tempels anzeigte. Dieses aus der Geschichte Israels entnommene Zeichenwort ließ als Ansage fürs Kommende unterschiedliche Deutungen zu. So kann man dem Text des Eusebius durchaus Sinn abgewinnen, etwa derart, dass angesehene Glieder der urchristlichen Gemeinde „durch eine Offenbarung“ in einem bestimmten Vorgang das vorhergesagte Zeichen erkannten und als den Auftrag auslegten, jetzt die Flucht zu beginnen.
11.03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die eschatologische Rede Jesu (Teil II)
Zu diesem Jesuswort gibt es eine merkwürdige Parallele bei Flavius Josephus, dem Geschichtsschreiber des Jüdischen Krieges; auch Tacitus hat diese Nachricht in sein Geschichtswerk aufgenommen (Hist. 5,13). Flavius Josephus berichtet von seltsamen Geschehnissen, die sich in den letzten Jahren vor dem Ausbruch des Jüdischen Krieges zutrugen und die alle auf unterschiedliche und beunruhigende Weise das Ende des Tempels ankündigten. Der Geschichtsschreiber erzählt von insgesamt sieben solcher Zeichen. Ich möchte hier nur das eine herausgreifen, das sich merkwürdig mit dem eben besprochenen Drohwort Jesu berührt. Das Ereignis spielt am Pfingstfest des Jahres 66 n. Chr. „Als an dem Fest, das Pfingsten genannt wird, die Priester nachts in den inneren Tempelbezirk kamen, um nach ihrer Gewohnheit ihren heiligen Dienst zu verrichten, hätten sie, wie sie sagen, zuerst eine Bewegung und ein Getöse wahrgenommen, danach aber einen vielfältigen Ruf: ‚Lasst uns von hier fortziehen!’“ (De bello Jud. VI 299f). Was immer genau geschehen sein mag, eines ist offenkundig: In den späten Jahren vor dem Drama des Jahres 70 war der Tempel von einem geheimnisvollen Wissen darum umwittert, dass sein Ende gekommen sei. „Euer Haus wird euch leer gelassen.“ – „Lasst uns von hier fortziehen!“: Gott kündigt in der für biblische Gottesreden kennzeichnenden Wir-Form (vgl. z. B. Gen 1,26) Selber an, dass Er aus dem Tempel ausziehen, ihn „leer“ lassen wird. – Eine weltgeschichtliche Wende von unabsehbarer Bedeutung lag in der Luft. Bei Matthäus folgt unmittelbar auf das Wort vom leeren Haus, das ja noch nicht direkt die Zerstörung des Tempels, wohl aber sein inneres Ende, das Aufhören seiner Bedeutung als Begegnungsort von Gott und Mensch, ankündigt, die große eschatologische Rede Jesu mit den Schwerpunkten Tempelzerstörung, Zerstörung Jerusalems, Weltgericht und Weltende. Diese Rede, die bei den drei Synoptikern mit unterschiedlichen Varianten überliefert ist, darf man wohl als den schwierigsten Text der Evangelien überhaupt bezeichnen. Das liegt zum einen an der Schwierigkeit des Inhalts, der sich teilweise auf inzwischen eingetretene historische Ereignisse, weitgehend aber auf eine Zukunft bezieht, die unsere erfahrbare Zeit und Wirklichkeit überschreitet, ja sie ans Ende bringt. Künftiges wird angesagt, das unsere Kategorien sprengt, aber doch nur mit Modellen aus unseren Erfahrungen dargestellt werden kann, die dem zu Sagenden gegenüber notwendig inadäquat sind. So erklärt es sich, dass Jesus, der grundsätzlich immer in der Kontinuität von Gesetz und Propheten spricht, das Ganze in einem Gewebe von Schriftworten darstellt, in das Er die Neuheit Seiner Sendung, die Sendung des Menschensohnes einträgt. Während die Vision des Kommenden weithin in Bildern der Überlieferung ausgedrückt wird, die uns dem Unbeschreibbaren annähern wollen, kommen zu der inhaltlichen Schwierigkeit des Textes all die Probleme der Redaktionsgeschichte hinzu: Gerade weil Jesu Worte hier Fortschreibungen der Tradition und nicht Beschreibungen des Kommenden sein wollen, konnten die Überlieferungsträger diese Fortschreibungen auch nach ihren Umständen und den Verstehensmöglichkeiten ihrer Hörer weiter ausziehen, wobei sie darauf achteten, den wesentlichen eigenen Gehalt der Botschaft Jesu treu zu bewahren. In die vielfältigen Detailprobleme der Redaktions- und Traditionsgeschichte des Textes einzutreten, kann nicht Aufgabe dieses Buches sein. Ich möchte mich darauf beschränken, drei Elemente der eschatologischen Rede Jesu herauszustellen, in denen wesentliche Intentionen der Redekomposition sichtbar werden.
10.03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die eschatologische Rede Jesu (Teil I)
Der heilige Matthäus überliefert uns am Schluss der Wehe-Rufe Jesu über Schriftgelehrte und Pharisäer, also im Kontext der nach dem Einzug in Jerusalem gehaltenen Reden, ein geheimnisvolles Wort Jesu, das bei Lukas seinen Platz mitten im Unterwegssein Jesu zur Heiligen Stadt gefunden hat: „Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte Ich deine Kinder um Mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt. Darum wird euer Haus verlassen …“ (Mt 23,37f; Lk 13,34f). In diesen Sätzen erscheint zunächst die tiefe Liebe Jesu zu Jerusalem, Sein leidenschaftliches Ringen um das Ja der Heiligen Stadt zu der Botschaft, die Er auszurichten hat und mit der Er Sich in die große Linie der Gottesboten der vorangegangenen Heilsgeschichte stellt. Das Bild der schützenden und besorgten Vogelmutter stammt aus dem Alten Testament: Gott „fand Sein Volk am Rand der Steppe … Er umhegte es und zog es auf; wie Seinen Augapfel hat Er es gehütet. Einem Adler gleich, der sein Nest bewacht und über seinen Jungen dahinschwebt, breitete Er Seine Flügel aus, hob es auf und trug es auf seinen Flügeln fort“ (Dtn 32,10f). Dazu kommt das schöne Wort aus Ps 36,8: „Wie köstlich ist deine Huld, o Gott. Die Menschen kommen zu dir, um sich im Schatten deiner Flügel zu bergen.“ Jesus rückt hier Sein Wirken und Werben in die Nähe der machtvollen Güte Gottes selbst, die Jerusalem mit ausgebreiteten Flügeln beschützt (Jes 31,5). Diese Güte bittet aber um den freien Willen der Küken, und die versagen sich: „Aber ihr habt nicht gewollt“ (Mt 23,37). Das Verhängnis, das daraus folgt, wird von Jesus geheimnisvoll und doch unmissverständlich mit einem Wort umschrieben, das alte prophetische Überlieferung aufnimmt. Jeremia hatte angesichts der Missstände im Tempel einen Gottesspruch mitgeteilt: „Ich verlasse Mein Haus, ich verstoße mein Erbteil“ (12,7). Genau dasselbe kündigt Jesus an: „Euer Haus wird verlassen“ (Mt 23,38). Gott zieht aus. Der Tempel ist nicht mehr der Ort, wo Er Seinen Namen niedergelegt hat. Er wird leer sein; er ist nur noch „euer Haus“.
09.03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die Tempelreinigung (Teil VIII)
Diese Auslegung bestätigt sich noch einmal in den zwei kleinen Episoden, mit denen Matthäus die Erzählung von der Tempelreinigung beschließt. „Im Tempel kamen Lahme und Blinde zu ihm, und Er heilte sie“ (21,14). Dem Viehhandel und dem Geldgeschäft stellt Jesus Seine heilende Güte entgegen. Sie ist die wahre Reinigung des Tempels. Jesus kommt nicht als Zerstörer; Er kommt nicht mit dem Schwert des Aufrührers. Er kommt mit der Gabe der Heilung. Er wendet sich denen zu, die aufgrund ihrer Gebrechen an den Rand des Lebens und der Gesellschaft gedrängt werden. Er zeigt Gott als den Liebenden und Seine Macht als Macht der Liebe. Alledem entspricht es dann auch, dass die Kinder den Hosanna-Ruf wiederholen, den Ihm die Großen versagen (Mt 21,15). Von diesen „Kleinen“ wird Ihm allezeit das Lob kommen (vgl. Ps 8,3) – von denen her, die mit reinem und unverstelltem Herzen sehen können und die offen sind für Seine Güte. So kündigt sich in diesen zwei kleinen Begebenheiten der neue Tempel an, den zu bauen er gekommen ist.
08.03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die Tempelreinigung (Teil VII)
Bei Johannes lautet das wahre Wort Jesu so: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten“ (2,19). Jesus hat mit diesem Wort auf die Forderung der jüdischen Behörde nach einem Zeichen geantwortet, mit dem Er Seine Legitimation für einen Akt wie die Tempelreinigung beweisen sollte. Sein „Zeichen“ ist Kreuz und Auferstehung. Das Kreuz und die Auferstehung legitimieren Ihn als Denjenigen, Der den rechten Kult herstellt. Jesus rechtfertigt Sich durch Seine Passion – das Jona-Zeichen, das Er Israel und der Welt gibt. Aber das Wort reicht tiefer. Mit Recht sagt Johannes, dass die Jünger erst nach der Auferstehung in ihrem Erinnern – in dem vom Heiligen Geist erleuchteten Erinnern der Jüngergemeinschaft, der Kirche – das Wort in seiner ganzen Tiefe verstanden. Die Ablehnung Jesu, Seine Kreuzigung, bedeutet zugleich das Ende dieses Tempels. Die Zeit des Tempels ist vorbei. Ein neuer Kult kommt in einem nicht von Menschen gebauten Tempel. Dieser Tempel ist Sein Leib – der Auferstandene, der die Völker sammelt und im Sakrament Seines Leibes und Blutes eint. Er Selbst ist der neue Tempel der Menschheit. Die Kreuzigung Jesu ist zugleich das Abbrechen des alten Tempels. Mit Seiner Auferstehung beginnt eine neue Weise, Gott zu verehren, nicht mehr auf diesem oder jenem Berg, sondern „in Geist und Wahrheit“ (Joh 4,23). Wie steht es also mit dem „Zelos“ Jesu? Zu dieser Frage hat uns Johannes – gerade im Zusammenhang mit der Tempelreinigung – ein kostbares Wort geschenkt, das die Frage genau und gründlich beantwortet. Er sagt uns, dass die Jünger sich bei der Tempelreinigung daran erinnerten, dass geschrieben steht: „Der Eifer für dein Haus verzehrt mich“ (2,17). Dies ist ein Wort aus dem großen Passions-Psalm 69. Den Beter bringt sein Leben im Wort Gottes in die Isolierung; es wird ihm Quelle von Leid, das ihm die Hasser zufügen, von denen er umgeben ist. „Hilf mir, o Gott; das Wasser reicht mir bis zur Kehle … Denn deinetwegen leide ich Schmach … Der Eifer für dein Haus verzehrt mich …“ (Ps 69,2. 8. 10). Das Erinnern der Jünger hat in dem leidenden Gerechten Jesus erkannt: Der Eifer für Gottes Haus führt Ihn in die Passion, ans Kreuz. Dies ist die grundlegende Wende, die Jesus dem Thema Eifer – Zelos – gegeben hat. Den „Eifer“, der Gott durch Gewalt dienen wollte, hat Er umgewandelt in den Eifer des Kreuzes. So hat er den Maßstab für den wahren Eifer – den Eifer der Liebe, die sich verschenkt – definitiv aufgerichtet. An diesem Eifer muss sich der Christ orientieren; darin ist die authentische Antwort auf die Frage nach dem „Zelotismus“ Jesu gegeben.
07.03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die Tempelreinigung (Teil VI)
Kehren wir zur Tempelreinigung zurück. Dort ist die universalistische Verheißung des Jesaja mit jenem Wort aus Jeremia (vgl. 7,11) verbunden: „Ihr habt Mein Haus zu einer Räuberhöhle gemacht.“ Wir werden auf den Kampf des Propheten Jeremia um und für den Tempel bei der Auslegung der eschatologischen Rede Jesu noch einmal kurz zurückkommen. Nehmen wir das Wesentliche an dieser Stelle vorweg: Jeremia tritt leidenschaftlich für die Einheit von Kult und Leben in der Gerechtigkeit Gottes ein; er kämpft gegen eine Politisierung des Glaubens, die meint, Gott müsse auf jeden Fall Seinen Tempel schützen, um nicht des Kultes verlustig zu gehen. Aber einen Tempel, der zur „Räuberhöhle“ geworden ist, schützt Gott nicht. Jesus findet offensichtlich in der Verbindung von Kult und Geschäft, gegen die Er Sich wendet, die Situation der Zeit des Jeremia neu gegeben. Insofern ist Sein Wort wie Seine Gebärde eine Warnung, in der von Jeremia her auch der Hinweis auf den Untergang dieses Tempels mitgehört werden konnte. Aber wie Jeremia, so ist auch Jesus nicht Zerstörer des Tempels: Beide weisen mit ihrer Passion darauf hin, wer und was den Tempel wirklich zerstört. Diese Auslegung der Tempelreinigung wird noch deutlicher in einem Wort Jesu, das in diesem Zusammenhang nur Johannes überliefert, das sich aber in verzerrten Formen im Mund von Falschzeugen im Prozess Jesu auch bei Matthäus und Markus findet. Dass ein solches Wort auf Jesus zurückgeht, ist unzweifelhaft, und dass es in den Zusammenhang der Tempelreinigung gehört, ist ebenso offenkundig. Der Falschzeuge sagt bei Markus Jesus nach, Er habe erklärt: „Ich werde diesen von Menschenhand gebauten Tempel abbrechen und binnen drei Tagen einen nicht von Menschenhand gemachten errichten“ (Mk 14,58). Der „Zeuge“ liegt damit wohl ziemlich nahe an Jesu Wort, irrt aber in einem entscheidenden Punkt: Nicht Jesus ist es, Der den Tempel zerstört; diejenigen, die ihn zur Räuberhöhle machen, geben ihn der Zerstörung preis, wie es zu Zeiten des Jeremia gewesen war.
06.03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die Tempelreinigung (Teil V)
In die gleiche Richtung weist eine kleine Szene, die Johannes über den „Palmsonntag“ berichtet. Dabei müssen wir freilich gegenwärtig halten, dass nach Johannes die Tempelreinigung am ersten Pascha Jesu, zu Beginn Seines Wirkens, stattgefunden hat. Die Synoptiker erzählen – wie wir es schon sahen – hingegen nur von einem Pascha Jesu, und so fällt notwendigerweise die Tempelreinigung in die letzten Tage Seines Wirkens überhaupt. Während die Exegese bis vor Kurzem mehrheitlich davon ausging, dass die Datierung des heiligen Johannes „theologisch“ und nicht biographisch-chronologisch exakt sei, sieht man heute immer deutlicher die Gründe, die für eine auch chronologisch exakte Datierung seitens des vierten Evangelisten sprechen, der sich hier wie auch sonst bei aller theologischen Durchdringung des Stoffes sehr genau über Zeiten, Orte und Abläufe informiert zeigt. Aber in diese letztlich sekundäre Diskussion brauchen wir hier nicht einzutreten. Sehen wir uns einfach die kleine Geschichte an, die bei Johannes zeitlich nicht mit der Tempelreinigung zusammenfällt, aber ihre innere Sinngebung weiter verdeutlicht. Der Evangelist berichtet, dass unter den Pilgern sich auch Griechen befanden, „die hinaufgestiegen waren, um am Fest anzubeten“ (Joh 12,20). Diese Griechen treten an „Philippus aus Betsaida in Galiläa“ heran mit der Bitte: „Herr, wir wollen Jesus sehen“ (12,21). In dem Mann mit dem griechischen Namen aus dem halbheidnischen Galiläa sehen sie offenbar einen Vermittler, der ihnen den Zugang zu Jesus öffnen kann. Man fühlt sich bei diesem Wort der Griechen: „Herr, wir wollen Jesus sehen“ ein wenig erinnert an die Vision des heiligen Paulus von dem Makedonier, der ihm sagte: „Komm herüber und hilf uns“ (Apg 16,9). Das Evangelium erzählt uns weiter, dass Philippus die Sache mit Andreas bespricht und dass beide zusammen die Bitte zu Jesus bringen. Jesus antwortet – wie so oft im Johannes-Evangelium – geheimnisvoll und im Augenblick rätselhaft: „Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird. Wahrlich, Ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (12,23f). Auf das Verlangen einer griechischen Pilgergruppe nach einer Begegnung antwortet Jesus mit einer Passionsprophetie, in der Er Seinen bevorstehenden Tod als „Verherrlichung“ deutet – Verherrlichung, die sich in der großen Fruchtbarkeit zeigt. Was bedeutet das? Nicht eine augenblickliche und äußere Begegnung zwischen Jesus und den Griechen ist wichtig. Es wird eine andere, viel tiefer reichende Begegnung geben. Ja, die Griechen werden Ihn „sehen“: Durch das Kreuz hindurch kommt Er zu ihnen. Er kommt als gestorbenes Weizenkorn und wird Frucht tragen unter ihnen. Sie werden Seine „Herrlichkeit“ sehen: Im gekreuzigten Jesus werden sie den wahren Gott finden, nach dem sie in ihren Mythen und ihrer Philosophie auf der Suche waren. Die Universalität, von der das Jesaja-Wort (56,7) spricht, wird in das Licht des Kreuzes gerückt: Vom Kreuz her wird den Völkern der eine Gott erkennbar; im Sohn werden sie den Vater und so den einzigen Gott erkennen, Der sich am Dornbusch offenbart hat.
05.03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die Tempelreinigung (Teil V)
Kommen wir nun zu den Deuteworten, mit denen Jesus Selbst die Gebärde der Tempelreinigung auslegt. Halten wir uns zunächst an Markus, mit dem Matthäus und Lukas bei kleineren Variationen übereinstimmen. Nach dem Akt der Reinigung „lehrte Jesus“, so berichtet uns Markus. Das Wesentliche dieser „Lehre“ sieht er zusammengefasst in Jesu Wort: „Steht nicht geschrieben: Mein Haus wird ein Haus des Gebets für alle Völker genannt werden? Ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht“ (11,17). In dieser Zusammenfassung von Jesu „Lehre“ über den Tempel sind – wie wir schon sahen – zwei Prophetenworte verschmolzen. Da ist zunächst die universalistische Vision des Propheten Jesaja (56,7) von einer Zukunft, in der alle Völker im Haus Gottes den Herrn als den einen Gott anbeten. In der Struktur des Tempels ist der riesige Vorhof der Heiden, in dem das Ganze spielt, der offen gehaltene Raum, der alle Welt einlädt, dort zu dem einzigen Gott zu beten. Die Aktion Jesu unterstreicht diese innere Offenheit der Erwartung, die im Glauben Israels lebte. Auch wenn Jesus Sein eigenes Wirken bewusst auf Israel beschränkt, ist Ihm immer die universalistische Tendenz zu eigen, Israel so zu öffnen, dass alle in seinem Gott den einen gemeinsamen Gott der ganzen Welt erkennen können. Auf die Frage, was Jesus der Menschheit eigentlich gebracht hat, hatten wir im ersten Teil geantwortet, er habe Gott zu den Völkern gebracht (S. 73). Gerade um diese Grundabsicht geht es Seinem Wort gemäß in der Tempelreinigung: wegzunehmen, was der gemeinsamen Erkenntnis und Anbetung Gottes entgegensteht – also dem gemeinsamen Anbeten den Raum aufzutun.
04.03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die Tempelreinigung (Teil IV)
Inzwischen ist die Welle der Theologien der Revolution abgeflaut, die, von einem zelotisch gedeuteten Jesus her, Gewalt als Mittel zur Errichtung der besseren Welt – des „Reiches“ – zu legitimieren versucht hatten. Die grausamen Folgen religiös motivierter Gewalt stehen zu drastisch vor unser aller Augen. Gewalt richtet das Reich Gottes, das Reich der Menschlichkeit nicht auf. Sie ist ganz umgekehrt ein Lieblingsinstrument des Antichrist – wie religiös idealistisch sie auch motiviert sein mag. Sie dient nicht der Menschlichkeit, sondern der Unmenschlichkeit. Aber wie ist es nun mit Jesus? War Er Zelot? War die Tempelreinigung Auftakt einer politischen Revolution? Jesu ganzes Wirken und Seine Botschaft – von den Versuchungen in der Wüste, Seiner Taufe im Jordan, der Bergpredigt bis zum Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25) und bis zu Seiner Antwort auf das Petrusbekenntnis – stehen dem radikal entgegen, wie wir im ersten Teil dieses Werkes gesehen haben. Nein, der gewaltsame Umsturz, das Töten anderer im Namen Gottes war nicht Seine Art. Sein „Eifer“ für das Reich Gottes ist ganz anders gewesen. Wir wissen nicht, was genau die Pilger sich vorstellten, als sie bei ihrer „Inthronisierung“ Jesu vom „kommenden Reich unseres Vaters David“ sprachen. Aber was Jesus Selber dachte und wollte, hat Er mit Seinen Gesten und den prophetischen Worten, in deren Zusammenhang Er Sich stellte, sehr deutlich gemacht. Gewiss, der Esel war zu Davids Zeiten Ausdruck für dessen Königtum gewesen, und Sacharja lässt von dieser Überlieferung her den neuen Friedenskönig auf dem Esel in die Heilige Stadt reiten. Aber schon zu Zeiten Sacharjas und noch mehr zur Zeit Jesu war das Pferd zum Ausdruck der Macht der Mächtigen und der Esel zum Tier der Armen und so zum Bild eines ganz anderen Königtums geworden. Und gewiss, Sacharja kündigt ein Reich „von Meer zu Meer“ an. Aber gerade damit verlässt er den nationalen Rahmen und weist auf eine neue Universalität hin, in der die Welt Gottes Frieden findet und über alle Grenzen hinweg in der Anbetung des einen Gottes geeint ist. In dem Reich, von dem er spricht, sind die Kriegsbogen zerbrochen. Was bei ihm noch eine geheimnisvolle Vision ist, deren konkrete Gestalt beim Blick auf das von fern her Kommende nicht deutlich werden konnte, klärt sich langsam im Wirken Jesu, kann jedoch erst nach der Auferstehung und auf dem Weg des Evangeliums zu den Heiden allmählich seine Form gewinnen. Aber auch im Augenblick des Einzugs Jesu in Jerusalem gab der Zusammenhang mit der späten Prophetie, in die Jesus Sein Tun einordnete, Seiner Geste eine Richtung, die der zelotischen Interpretation radikal entgegenstand. Bei Sacharja hatte Jesus nicht nur das Bild des auf dem Esel kommenden Friedenskönigs gefunden, sondern auch die Vision des getöteten Hirten, Der durch Seinen Tod rettet, und des Weiteren das Bild vom Durchbohrten, auf Den alle hinschauen werden. Der andere große Bezugsrahmen, in dem er sein Wirken sah, war die Vision des leidenden Gottesknechtes, der dienend sein Leben für die vielen hingibt und so Heil bringt (vgl. Jes 52,13 – 53,12). Diese späte Prophetie ist der Deuteschlüssel, mit dem Jesus das Alte Testament öffnet; von ihr her wird Er dann nach Ostern Selbst der Schlüssel, um Gesetz und Propheten neu zu lesen.
03.03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die Tempelreinigung (Teil III)
So kommen wir zu einer zweiten, konträren Auslegung – der politisch-revolutionären Interpretation des Vorgangs. Schon in der Aufklärung hatte es Versuche gegeben, Jesus als politischen Aufrührer zu deuten. Aber erst das in zwei Bänden erschienene Werk Iesous basileus ou basileusas von Robert Eisler (Heidelberg 1929 / 30) hat konsequent vom Ganzen des neutestamentlichen Befundes her darzustellen versucht, dass „Jesus ein politischer Revolutionär apokalyptischen Gepräges gewesen sei, der in Jerusalem einen Aufruhr verursacht habe und von den Römern verhaftet und hingerichtet worden sei“ (so Hengel, War Jesus Revolutionär?, S. 7). Das Buch erregte ungeheures Aufsehen, kam aber in der besonderen Situation der 30er Jahre noch nicht zu nachhaltiger Wirkung. Erst in den 60er Jahren hatte sich das geistige und politische Klima gebildet, in dem eine solche Vision zündende Kraft entfalten konnte. Nun war es Samuel George Frederick Brandon, der in seinem Werk Jesus and the Zealots (New York 1967) der Auslegung Jesu als eines politischen Revolutionärs ihre scheinbare wissenschaftliche Legitimation lieferte. Jesus wird damit in die Linie der zelotischen Bewegung gerückt, die in dem Priester Pinhas, einem Enkel Aarons, ihre biblische Begründung sah: Pinhas hatte einen Israeliten, der sich mit einer Götzendienerin eingelassen hatte, mit einem Speer durchbohrt. Er galt nun als Vorbild der „Eiferer“ für das Gesetz, für die Verehrung Gottes allein (Num 25). Ihren konkreten Ursprung sah die zelotische Bewegung in der Initiative des Vaters der makkabäischen Brüder, Mattathias, der gegenüber dem Versuch, Israel ganz in die hellenistische Einheitskultur einzuebnen und ihm damit auch seine religiöse Identität zu rauben, bekannte: „Wir gehorchen den Vorschriften des Königs nicht, und wir weichen weder nach rechts noch nach links von unserer Religion ab“ (1 Makk 2,22). Dieses Wort leitete den Aufstand gegen die hellenistische Diktatur ein. Mattathias übersetzte sein Wort in eine Tat: Er tötete den Mann, der der Weisung der hellenistischen Behörden folgend öffentlich den Göttern opfern wollte. „Als Mattathias das sah, packte ihn leidenschaftlicher Eifer … Er sprang vor und erstach den Abtrünnigen über dem Altar … Der Eifer für das Gesetz hatte ihn gepackt“ (1 Makk 2,24ff). Von da an war das Stichwort „Eifer“ (griechisch: zēlos) das Leitwort für die Bereitschaft, mit Gewalt für den Glauben Israels einzutreten, Israels Recht und Freiheit auf dem Weg der Gewalt zu verteidigen. In diese Linie des „Zelos“ der Zeloten gehöre Jesus hinein – so die These Eislers und Brandons, die in den 60er Jahren zu einer Welle von Revolutions- und politischen Theologien geführt hat. Als zentraler Beweis dieser These fungiert nun die Tempelreinigung, die eindeutig ein Gewaltakt gewesen sei und gar nicht ohne Gewalt habe ablaufen können, wenngleich die Evangelisten dies zu verdecken gesucht hätten. Auch die Begrüßung Jesu als Davidssohn und Hersteller des davidischen Reiches sei ein politischer Akt gewesen, und die Kreuzigung Jesu durch die Römer unter dem Anklagetitel „König der Juden“ beweise vollends, dass er Revolutionär – Zelot – gewesen sei und als solcher hingerichtet wurde.
02.03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die Tempelreinigung (Teil II)
Jesus griff mit Seinem Tun die von der Tempelaristokratie verfügte bestehende Ordnung an, aber Er verstieß nicht gegen Gesetz und Propheten – im Gegenteil: Er brachte gegen eine im Tiefsten korrupte, zum „Recht“ gewordene Praxis das eigentliche und wahre Recht, das Gottesrecht Israels, zur Geltung. Nur so erklärt es sich, dass weder die Tempelpolizei noch die in der Burg Antonia bereitstehende römische Kohorte einschritt. Die Autoritäten des Tempels begnügten sich damit, Jesus die Frage nach Seiner Vollmacht für solches Handeln zu stellen. In diesem Sinn ist die besonders von Vittorio Messori eingehend begründete These richtig, dass Jesus bei der Tempelreinigung im Einklang mit dem Gesetz handelte und einem Missbrauch des Tempels wehrte. Wenn man allerdings daraus schließen würde, dass Jesus „wie ein bloßer Reformer erscheint, der jüdische Heiligkeitsvorschriften verteidigt“ (so Eduard Schweizer, zit. nach Pesch, Markusevangelium II, S. 200), dann wird man der Bedeutung des Vorgangs nicht gerecht. Die Worte Jesu zeigen, dass Sein Anspruch tiefer reichte, gerade auch weil Er mit Seinem Handeln Gesetz und Propheten erfüllen wollte.
01.03.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Die Tempelreinigung (Teil I)
Markus erzählt uns, dass Jesus nach dieser Begrüßung in den Tempel ging, sich alles ansah, und, da es spät geworden war, sich nach Bethanien begab, wo Er während jener Woche wohnte. Am nächsten Tag trat Er erneut in den Tempel ein und begann, die Händler und Käufer daraus zu vertreiben; „Er stieß die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler um“ (11,15). Jesus begründet dieses Sein Tun mit einem Wort aus Jesaja, das Er mit einem Jeremia-Wort ergänzt: „Mein Haus soll ein Haus des Gebets sein für alle Völker. Ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht“ (Mk 11,17; vgl. Jes 56,7; Jer 7,11). Was hat Er da getan? Was hat Er sagen wollen? In der exegetischen Literatur sind drei große Deutungsrichtungen erkennbar, die wir kurz bedenken müssen. Da ist zunächst die These, dass die Tempelreinigung keinen Angriff auf den Tempel als solchen bedeutete, sondern nur Missbräuche traf. Gewiss, die Händler waren autorisiert von der jüdischen Behörde, die daraus reichen Gewinn zog. Insofern war das Handeln der Geldwechsler und Viehhändler legal innerhalb der bestehenden Ordnungen; es lag ja auch nahe, den Wechsel von den gängigen römischen Münzen, die ob des Kaiserbildes als Götzendienst gelten mussten, in die Tempelwährung eben im weiten Vorhof der Heiden selbst zu vollziehen und hier auch die Opfertiere anzubieten. Aber diese Vermengung von Tempel und Geschäft entsprach nicht dem, wozu der Vorhof der Heiden von der Anlage des Tempels her bestimmt war.
28.02.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Der Einzug in Jerusalem (Teil X)
Sehr früh ist auch das Benedictus in die Liturgie eingegangen: Für die werdende Kirche war der „Palmsonntag“ nichts Vergangenes. Wie der Herr damals auf dem Esel in die Heilige Stadt einzog, so sah ihn die Kirche in der demütigen Gestalt von Brot und Wein immer neu kommen. Die Kirche begrüßt den Herrn in der heiligen Eucharistie als Den, Der jetzt kommt, Der in ihre Mitte getreten ist. Und sie begrüßt Ihn zugleich als Den, Der immerfort der Kommende bleibt und uns auf sein Kommen zuführt. Als Pilger gehen wir auf ihn zu; als Pilger kommt Er uns entgegen und nimmt uns mit in Seinen „Aufstieg“ zu Kreuz und Auferstehung, auf das endgültige Jerusalem zu, das in der Gemeinschaft mit seinem Leib schon mitten in dieser Welt wächst.
27.02.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Der Einzug in Jerusalem (Teil VIII)
Vorausgegangen war die Szene, in der Jesus auf den Rangstreit der Jünger geantwortet hatte, indem Er ein Kind in ihre Mitte stellte, es in Seine Arme nahm und sagte: „Wer ein solches Kind um Meinetwillen aufnimmt, der nimmt Mich auf …“ (Mk 9,33 – 37). Jesus identifiziert Sich mit dem Kind – Er Selbst ist klein geworden. Als Sohn tut Er nichts von Sich aus, sondern handelt ganz vom Vater her und auf Ihn hin. Von da aus versteht man dann wieder die nachfolgende Perikope, in der nicht mehr von Kindern, sondern von „den Kleinen“ die Rede ist und das Wort „die Kleinen“ geradezu zur Bezeichnung der Glaubenden, der Jüngergemeinschaft Jesu Christi wird (Mk 9,42). Im Glauben haben sie dieses wahre Kleinsein gefunden, das den Menschen in Seine Wahrheit führt. Damit kommen wir wieder auf das Hosanna der Kinder zurück: Der Lobpreis dieser Kinder erscheint im Licht von Psalm 8 als eine Vorwegnahme der Lobpreisung, die Seine „Kleinen“ auf Ihn anstimmen werden weit über diese Stunde hinaus.
Insofern konnte die werdende Kirche mit gutem Recht in dieser Szene im Voraus dargestellt finden, was sie in ihrer Liturgie tut. Schon in dem ältesten nachösterlichen liturgischen Text, den wir kennen – in der Didachē (um 100) – erscheint vor der Verteilung der heiligen Gaben das Hosanna zusammen mit dem Maranatha: „Es komme die Gnade und es vergehe diese Welt. Hosanna dem Gott Davids. Wenn einer heilig ist, trete er herzu; wenn einer es nicht ist, kehre er um. Maranatha. Amen“ (10,6).
26.02.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Der Einzug in Jerusalem (Teil VII)
Was Er meinte, wird deutlich, wenn wir uns an die von allen synoptischen Evangelisten berichtete Geschichte erinnern, in der Kinder zu Jesus gebracht wurden, „damit Er sie berühre“. Gegen den Widerstand der Jünger, die Ihn vor dieser Zudringlichkeit schützen möchten, ruft Jesus die Kinder zu Sich, legt ihnen die Hände auf und segnet sie. Er erläutert diese Gebärde mit den Worten: „Lasst die Kinder zu Mir kommen; hindert sie nicht daran! Das Reich Gottes ist für solche. Amen, das sage ich euch: Wer das Reich Gottes nicht aufnimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“ (Mk 10,13 – 16). Die Kinder stehen bei Jesus exemplarisch für jenes Kleinsein vor Gott, das notwendig ist, damit man durch das „Nadelöhr“ eintreten kann, von dem in der unmittelbar anschließenden Geschichte über den reichen Jüngling die Rede ist (Mk 10,17 – 27).
25.02.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Der Einzug in Jerusalem (Teil VI)
Von dem Propheten aus Nazareth hatte man irgendwie gehört, aber Er schien Jerusalem nichts anzugehen, man kannte Ihn nicht. Die Menge, die Jesus am Stadtrand huldigte, ist nicht dieselbe Menge, die Seine Kreuzigung forderte. In dieser doppelten Nachricht vom Nichterkennen Jesu, das Gleichgültigkeit und Erschrecken zugleich ist, deutet sich schon etwas von der Tragödie der Stadt an, die Jesus mehrmals, am schärfsten in Seiner eschatologischen Rede, angekündigt hat. Bei Matthäus gibt es aber auch ein anderes wichtiges Sondergut über die Aufnahme Jesu in der Heiligen Stadt. Nach der Tempelreinigung wiederholen Kinder im Tempel die Worte der Huldigung: „Hosanna dem Sohne Davids!“ (21,15). Jesus verteidigt gegen „die Hohepriester und Schriftgelehrten“ den Jubelruf der Kinder mit Hinweis auf Ps 8,3: „Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst Du Dir Lob.“ Wir werden auf diese Szene bei der Besprechung der Tempelreinigung noch einmal zurückkommen. Versuchen wir hier, zu verstehen, was Jesus mit dem Hinweis auf Psalm 8 sagen wollte, mit dem er eine weite, heilsgeschichtliche Perspektive aufriss.
24.02.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Der Einzug in Jerusalem (Teil V)
Die besondere davidische Note, die sich im Markus-Text allein findet, gibt uns vielleicht am ursprünglichsten die Erwartung der Pilger jener Stunde wieder. Lukas, der für Heidenchristen schreibt, hat das Hosanna und den Bezug auf David hingegen ganz weggelassen und durch den an Weihnachten anklingenden Ruf ersetzt: „Friede im Himmel und Herrlichkeit in der Höhe!“ (19,38; vgl. 2,14). Aus allen drei synoptischen Evangelien, aber auch aus Johannes geht deutlich hervor, dass sich die Szene der messianischen Huldigung für Jesus am Eingang der Stadt abgespielt hat und dass ihr Träger nicht das Volk von Jerusalem gewesen ist, sondern die Begleitung Jesu, die mit Ihm zusammen in die Heilige Stadt eintrat. Am nachdrücklichsten gibt uns dies Matthäus zu erkennen, der im Anschluss an den Bericht vom Hosanna für Jesus, den Davidssohn, so fortfährt: „Als er in Jerusalem einzog, geriet die ganze Stadt in Aufregung. Und man fragte: Wer ist das? Die Leute sagten: Das ist der Prophet Jesus von Nazareth aus Galiläa“ (Mt 21,10f). Die Parallele zur Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland ist unverkennbar. Auch damals wusste man in der Stadt Jerusalem von dem neugeborenen König der Juden nichts; die Nachricht darüber setzte Jerusalem „in Verwirrung“ (Mt 2,3). Jetzt „erschrickt“ man: Matthäus gebraucht das Wort eseísthē (seíō), das man für die Erschütterung durch ein Erdbeben verwendet.
23.02.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Der Einzug in Jerusalem (Teil IV)
Da ist zunächst der Ruf: „Hosanna!“ Ursprünglich war dies ein Wort dringlichen Bittens gewesen, etwa: Ach hilf doch! Die Priester hatten es am siebten Tag des Laubhüttenfestes beim siebenmaligen Umzug um den Brandopferaltar monoton als flehentliche Bitte um Regen wiederholt. Aber wie sich das Laubhüttenfest vom Bitt- zum Freudenfest wandelte, so wurde immer mehr der Bitte zum Jubelruf (vgl. Lohse, ThWNT IX, S. 682). Wohl schon zur Zeit Jesu hatte das Wort auch messianische Bedeutung angenommen. So können wir im Hosanna-Ruf einen Ausdruck der vielschichtigen Empfindungen der mit Jesus gekommenen Pilger und Seiner Jünger erkennen: Freudiger Lobpreis an Gott im Augenblick dieses Einzugs; Hoffnung, dass die Stunde des Messias angebrochen sei und zugleich Bitte darum, dass das Königtum Davids und in ihm das Königtum Gottes über Israel neu sich ereigne.
Das folgende Wort aus Psalm 118: „Gesegnet sei, Der da kommt im Namen des Herrn“, war, wie schon gesagt, zunächst Teil der Pilgerliturgie Israels gewesen, mit der die Pilgernden am Eingang der Stadt oder des Tempels begrüßt wurden. Das zeigt auch der zweite Teil des Verses: „Wir segnen euch vom Haus des Herrn her.“ Es war ein Segen, der von den Priestern den ankommenden Pilgern zugesprochen und gleichsam auf sie gelegt wurde. Aber das Wort „Der da kommt im Namen des Herrn“ hatte inzwischen messianische Bedeutung angenommen. Ja, es war geradezu zur Bezeichnung für den von Gott Verheißenen geworden. So ist es aus einem Pilgersegen zu einem Lobpreis Jesu geworden, Der als der im Namen des Herrn Kommende, als der von allen Verheißungen Erwartete und Angekündigte gegrüßt wird.
22.02.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Der Einzug in Jerusalem (Teil III)
Halten wir einstweilen fest: Jesus erhebt in der Tat einen königlichen Anspruch. Er will Seinen Weg und sein Tun von den Verheißungen des Alten Testaments her verstanden wissen, die in Ihm Wirklichkeit werden. Das Alte Testament spricht von Ihm – und umgekehrt: Er handelt und lebt im Wort Gottes, nicht aus eigenen Programmen und Wünschen heraus. Sein Anspruch gründet im Gehorsam gegenüber dem Auftrag Seines Vaters. Sein Weg ist ein Weg im Innern von Gottes Wort. Die Verankerung in Sach 9,9 schließt zugleich eine „zelotische“ Auslegung des Königtums aus: Jesus baut nicht auf Gewalt; Er leitet keine militärische Revolte gegen Rom ein. Seine Macht ist anderer Art: Es ist die Armut Gottes, der Friede Gottes, in dem er die allein rettende Macht sieht.
Kehren wir zum Erzählungsverlauf zurück. Der Esel wird zu Jesus gebracht, und nun geschieht etwas Unerwartetes: Die Jünger legen ihre Kleider auf den Esel; während Matthäus (21,7) und Markus (11,7) einfach sagen: „und Er setzte Sich darauf“, schreibt Lukas: „Sie hoben Jesus hinauf“ (19,35). Dies ist das Wort, das im Ersten Buch der Könige in der Geschichte von der Erhebung Salomos auf den Thron seines Vaters David gebraucht wird. Da heißt es: Der König David gab dem Priester Zadok, dem Propheten Nathan und Benaja den Auftrag: „Nehmt mit euch das Gefolge eures Herrn. Setzt meinen Sohn Salomo auf mein eigenes Maultier, und führt ihn zum Gihon hinab! Dort sollen ihn der Priester Zadok und der Prophet Nathan zum König von Israel salben …“ (1,33f). Auch das Ausbreiten der Kleider hat Tradition im Königtum Israels (vgl. 2 Kön 9,13). Was die Jünger tun, ist eine Gebärde der Inthronisation in der Tradition des davidischen Königtums und so in der messianischen Hoffnung, die aus der Davidstradition gewachsen ist. Die Pilger, die mit Jesus nach Jerusalem gekommen sind, lassen sich von der Begeisterung der Jünger anstecken; sie breiten nun ihre Kleider auf der Straße aus, auf der Jesus einzieht. Sie reißen Zweige von den Bäumen und rufen Worte des Psalms 118, Gebetsworte der Pilgerliturgie Israels, die in ihrem Mund zu einer messianischen Proklamation werden: „Hosanna! Gesegnet sei Er, der kommt im Namen des Herrn! Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt. Hosanna in der Höhe!“ (Mk 11,9f; vgl. Ps 118,25f). Dieser Begrüßungsruf wird von allen vier Evangelisten, wenn auch mit je spezifischen Varianten, überliefert. Auf diese für die Überlieferungsgeschichte und für die theologische Vision der einzelnen Evangelisten nicht unwichtigen Unterschiede brauchen wir hier nicht einzugehen. Versuchen wir nur, die wesentlichen Grundlinien zu verstehen, zumal die christliche Liturgie dieses Grußwort aufgenommen und vom österlichen Glauben der Kirche her gedeutet hat.
21.02.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Der Einzug in Jerusalem (Teil II)
Die Vorbereitung, die Jesus mit Seinen Jüngern trifft, verstärkt diese Hoffnung. Jesus kommt von Bethphage und Bethanien her zum Ölberg, von wo aus man den Einzug des Messias erwartet. Er schickt zwei Jünger voraus, denen Er sagt, sie würden einen Esel angebunden finden, ein Jungtier, auf dem noch niemand gesessen hat. Sie sollen es losbinden und es zu Ihm bringen; auf eine etwaige Frage nach ihrer Legitimierung sollen sie sagen: „Der Herr bedarf seiner“ (Mk 11,3; Lk 19,31). Die Jünger finden den Esel, werden – wie vorhergesehen – nach ihrem Recht gefragt, geben die ihnen aufgetragene Antwort, und man lässt sie gewähren. So zieht Jesus in die Stadt ein auf einem geliehenen Esel, den Er gleich hernach seinem Besitzer zurückgeben lässt. Dem heutigen Leser mag dies alles ziemlich harmlos erscheinen, aber für die jüdischen Zeitgenossen Jesu ist es voll geheimnisvoller Bezüge. In allem ist das Motiv des Königtums und Seiner Verheißungen anwesend. Jesus nimmt das in der ganzen Antike bekannte Königsrecht der Requisition von Transportmitteln in Anspruch (vgl. Pesch, Markusevangelium II, S. 180). Auch dass es sich um ein Tier handelt, auf dem noch niemand gesessen hat, verweist auf königliches Recht. Vor allem aber klingen jene alttestamentlichen Worte an, die dem ganzen Vorgang seine tiefere Bedeutung geben. Da ist zunächst Gen 49,10f – der Jakobssegen, in dem Juda das Zepter zugesprochen wird, der Herrscherstab, der von seinen Füßen nicht weichen werde, „bis Der kommt, Dem er gehört, dem der Gehorsam der Völker gebührt“. Von ihm wird gesagt, dass er am Rebstock Seinen Esel festbindet (49,11). Der angebundene Esel verweist so auf den Kommenden, dem „der Gehorsam der Völker gebührt“.
Noch wichtiger ist Sach 9,9 – der Text, den Matthäus und Johannes ausdrücklich zum Verstehen des „Palmsonntags“ zitieren: „Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist sanftmütig (milde), und er reitet auf einer Eselin – auf einem Fohlen, dem Jungen eines Lasttiers“ (Mt 21,5; vgl. Sach 9,9; Joh 12,15). Die Bedeutung dieser Prophetenworte für das Verstehen der Gestalt Jesu haben wir bei der Auslegung der Seligpreisungen für die Milden (die Sanftmütigen) schon ausführlich bedacht (vgl. Teil I, S. 109 – 114). Er ist ein König, Der die Kriegsbogen zerbricht, ein König des Friedens und ein König der Einfachheit, ein König der Armen. Und schließlich haben wir gesehen, dass Er über ein Reich herrscht, das von Meer zu Meer geht und die ganze Welt umspannt (vgl. ebd., S. 111); wir wurden dabei an das neue weltumfassende Reich Jesu erinnert, das sich in den Gemeinschaften des Brotbrechens, in der Gemeinschaft Jesu Christi, von Meer zu Meer als Reich Seines Friedens ausspannt (vgl. ebd., S. 114). All das konnte damals nicht gesehen werden, aber in der Rückschau zeigt sich, was, verborgen in der prophetischen Vision, sich nur von fern andeutete.
20.02.2021
1. Kapitel: Einzug Jerusalem und Tempelreinigung
Der Einzug in Jerusalem (Teil I)
Das Johannes-Evangelium berichtet von drei Pascha-Festen, die Jesus in der Zeit Seines öffentlichen Wirkens begangen hat: ein erstes Pascha, mit dem die Tempelreinigung verbunden war (2,13 – 25); das Pascha der Brotvermehrung (6,4) und endlich das Pascha von Tod und Auferstehung (z. B. 12,1; 13,1), das zu „Seinem“ großen Pascha wurde, auf dem die christliche Osterfeier, das Pascha der Christen, gründet. Die Synoptiker haben nur ein Pascha-Fest – das von Kreuz und Auferstehung – überliefert; der Weg Jesu erscheint bei Lukas geradezu als ein einziges pilgerndes Hinaufsteigen von Galiläa nach Jerusalem. Es ist ein „Aufsteigen“ zunächst im geographischen Sinn: Der See Genezareth liegt etwa 200 Meter unter dem Meeresspiegel, Jerusalem durchschnittlich 760 Meter darüber. Jeder der Synoptiker hat uns als Stufen dieses Aufstiegs drei Leidensweissagungen Jesu überliefert und damit zugleich den inneren Aufstieg angedeutet, der sich in dem äußeren Weg vollzieht: das Hinaufgehen zum Tempel als dem Ort, an dem Gott „Seinen Namen wohnen“ lassen wollte, wie das Buch Deuteronomium den Tempel beschreibt (12,11; 14,23). Letztes Ziel dieses „Aufstiegs“ Jesu ist Seine Hingabe am Kreuz, die die alten Opfer ablöst; es ist der Aufstieg, den der Hebräer-Brief schildert als Hinaufgehen zu dem nicht mehr von Menschenhand gemachten Zelt, das heißt in den Himmel selbst, vor Gottes Angesicht (9,24). Dieser Aufstieg vor Gottes eigenes Angesicht führt über das Kreuz – es ist der Aufstieg zur „Liebe bis ans Ende“ (vgl. Joh 13,1), die der eigentliche Gottesberg ist. Das unmittelbare Ziel des Pilgerweges Jesu ist freilich Jerusalem, die Heilige Stadt mit ihrem Tempel, und das „Pascha der Juden“, wie Johannes es nennt (2,13). Jesus war mit den Zwölfen aufgebrochen, aber allmählich hatte sich eine immer größer werdende Pilgerschar dazugesellt; Matthäus und Markus erzählen uns, dass beim Weggehen von Jericho es schon „viel Volk“ war, das Jesus folgte (Mt 20,29; Mk 10,46). Ein Ereignis auf diesem letzten Wegstück steigert die Erwartung des Kommenden und rückt Jesus ganz neu ins Blickfeld der Wandernden. Am Weg sitzt ein blinder Bettler, Bartimäus. Er erfährt, dass Jesus unter den Pilgern sei, und nun hört er nicht mehr auf zu rufen: „Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!“ (Mk 10,47). Man sucht ihn zu beruhigen, aber es nützt nichts, und schließlich ruft ihn Jesus herbei. Auf seine Bitte: „Rabbuni, ich möchte wieder sehen können“, antwortet Jesus: „Geh! Dein Glaube hat dir geholfen.“ Bartimäus konnte wieder sehen, „und er folgte Jesus auf Seinem Weg“ (Mk 10,48 – 52): Er pilgerte, sehend geworden, mit nach Jerusalem. Das Thema David und die ihm innewohnende messianische Hoffnung griff nun auf die Menge über: War der Jesus, mit Dem sie zogen, nicht vielleicht wirklich der erwartete neue David; war mit Seinem Einzug in die Heilige Stadt die Stunde gekommen, in der er das Reich Davids wiederherstellen würde?